Sehr geehrte Apothekerin, sehr geehrter Apotheker,
hier ist der vollständige Text für Sie:
Essen - Ulla Schmidt (SPD) hat es nicht geschafft. Die dienstälteste Gesundheitsministerin Europas hatte acht Jahre Zeit, um das deutsche Gesundheitswesen zukunftsfest zu machen. Soviel Zeit hatte vor ihr kein Gesundheitsminister. Sie arbeitete hart, setzte sich durch gegen Widerstände von Experten, Patienten, Gesundheitspolitikern und Leistungsanbietern aus dem Gesundheitswesen, ließ mit einem Lächeln alle Kritik an sich abtropfen und produzierte „Gesundheitsreformen" am laufenden Band. Das Ergebnis ist aus Sicht der meisten Betroffenen eine einzige Katastrophe.
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Nun wäre es ungerecht, Ulla Schmidt alleine die Schuld an dem Desaster
aufzubürden. Unterstützt wurde sie dabei von namhaften Fachleuten, die
Gutachten über Gutachten verfassten. Wichtigstes Gremium ist der
„Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im
Gesundheitswesen". Mitte Juli übergaben die sieben hochkarätigen
Wissenschaftler der Gesundheitsministerin das von ihr bestellte 900 (!)
Seiten starke Gutachten „Koordination und Integration -
Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens". Das
Gutachten strotzt nur so von englischen Fachausdrücken. Das hört sich
zwar kompetent an, zeigt aber auch, wo sich die Sachverständigen ihre -
wie sie selbst oft zugeben müssen - zumeist „nicht evidenzbasierten"
Vorschläge holen: natürlich im Ausland. Dort scheint alles besser zu
sein, obwohl man über die gleichen Probleme klagt. „Evidenzbasiert"
bedeutet übrigens: Als wirksam erwiesen mithilfe wissenschaftlicher
Studien. „Nicht evidenzbasiert" bedeutet demnach: Durch nichts ist
bewiesen, dass es funktioniert.
Ulla Schmidt ist dabei in keiner beneidenswerten Position. Von einer
Gesundheitsministerin erwartet die Öffentlichkeit, „dass sie etwas
tut". Hinzu kommen die Zwänge der Politik: Um zu beweisen, dass man
durchsetzungsstark ist, muss man Veränderungen in Gang setzen,
„Reformen" durchpeitschen - um nahezu jeden Preis. Das fällt allerdings
umso leichter als sich deutsche Gesundheitsminister seit jeher
vorwiegend mit Verteilung, Umleitung und Fehlleitung von fremdem Geld -
dem der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer - beschäftigen. Wer sonst hat
schon eine solch gut bestückte Spielwiese?
Doch auch die Position der Sachverständigen ist alles andere als
beneidenswert. Sie haben das Problem aller Unternehmensberater: Sie
müssen grundsätzlich neue, andere Lösungen vorschlagen, sonst haben sie
ihren Beruf und ihre Berufung verfehlt. (Man stelle sich nur einmal
vor, ein Gutachten käme auf 900 Seiten zu dem Schluss, keine Reform sei
besser als jede neue!)
Kein Zweifel, das Gutachten ist eine ungeheure Fleißarbeit. Im
Zusammentragen von Fakten ist es stark. In der Analyse zeigt es die
Schwächen aller bisherigen Gutachten: Es weist nicht auf die
dramatische Unterfinanzierung des Gesundheitswesens hin, nicht auf die
ungeheure Belastung durch versicherungsfremde Leistungen, nicht auf die
Plünderung der Sozialkassen im Zuge der Wiedervereinigung, nicht auf
die im europäischen Vergleich einzigartige Belastung durch eine
unverschämt hohe Mehrwertsteuer. Im Gegenteil: es schlägt vor, wie der
Mangel auch in Zukunft mehr oder weniger elegant verwaltet werden
könnte.
Und obwohl die Sachverständigen dem deutschen Gesundheitswesen immerhin
bereits im ersten Satz des Gutachtens attestieren, dass es „im
internationalen Vergleich insgesamt keineswegs schlecht abschneidet",
lassen sie sich nicht davon abhalten, der Gesundheitsministerin (wieder
einmal) gewaltige strukturelle Veränderungen vorzuschlagen. So werden
Veränderungen wie das „Gatekeeping", eine Art Hausarzt-Modell, in
England abgeschaut und für gut befunden. Dabei gibt es in England kein
wahlkampfträchtigeres Thema als das marode Gesundheitssystem des
„National Health Service" mit seinen langen Wartelisten und seinen
überlasteten Hausärzten.
Oder auch der Vorschlag des Gutachtens, Veränderungen wie die
„Managed-Care-Elemente" einzuführen. Hier standen die USA Pate. Die
leisten sich das bei weitem teuerste Gesundheitssystem der Welt. Dabei
sind 46 Millionen Amerikaner nicht einmal krankenversichert. „Managed
Care" wird von HMOs („Health Maintenance Organisations") praktiziert.
Das sind eine Art riesiger privater „Krankenkassen", denen Firmen
Pauschalbeträge oder ein festes Budget zur Verfügung stellen, mit dem
die HMOs die versicherten Mitarbeiter und ihre Familien gesund halten
oder - im Krankheitsfalle - gesund machen sollen. Mit dem Geld kaufen
die HMOs Gesundheitsleistungen ein, doch betreiben sie auch selbst
große Netzwerke von Ärzten, Krankenhäusern und Apotheken.
Das „Managed-Care-System" ist auf Gewinn getrimmt und ständig in der
Kritik. Je weniger Leistungen für die gezahlten Pauschalen erbracht
werden, desto höher sind die Erträge. Deshalb sind aufwendige
Kontrollsysteme zur Qualitätssicherung nötig. Die sind teuer und zeigen
zumeist keine Wirkung. Die freie Arztwahl ist eingeschränkt. Das
Vorhalten knapper Kapazitäten in allen Bereichen spart Kosten, führt
aber zu langen Wartelisten. Während der Wartezeiten fühlen sich die
Leute schlecht; schließlich sind sie krank. Wie hoch die Kosten in
dieser Zeit für die Volkswirtschaft sind, interessiert niemanden.
Das Gutachten macht es sich einfach: Vorgeschlagen wird die Einführung
von „Managed-Care-Elementen" in das deutsche Gesundheitssystem „unter
Begrenzung möglicher negativer Effekte". Genau dies kann nicht
gelingen, denn die „negativen Effekte" sind system-immanent. Mit
„Pauschalvergütungen" als einziger Einnahme muss man restriktiv
handeln. Andernfalls wäre die Existenz des Unternehmens gefährdet. So
sehen es auch die Gutachter: „... geht das finanzielle Risiko
...teilweise oder ganz auf die Leistungserbringer über ...". Und
weiter: „... muss der Gefahr von Patientenselektion und
Qualitätsmängeln (z. B. durch Leistungsverweigerung) vor allem durch
Qualitätssicherung, Transparenz und Stärkung der Patientenrechte
entgegengewirkt werden." Das ist nichts mehr als ein Postulat ohne
Garantie: Platz für neue Institute, neue Gutachten, neue Bürokratie,
neue Kosten.
Über 90 Prozent der deutschen Erwachsenen - bei den über 65-Jährigen
sind es sogar 96 Prozent - vertrauen einem der insgesamt über 57 000
hausärztlich tätigen Mediziner. Aber die - so die These der Gutachter -
arbeiten ineffektiv. Und das Allheilmittel sieht man - insbesondere auf
dem Lande - (wieder einmal) in großen, vernetzten Zentraleinheiten. Die
sollen Krankenhäuser führen, Medizinische Versorgungszentren (MVZ)
managen, Ärzte beschäftigen und Verträge schließen - wie die HMOs. Und
weil diese Zentren so weit weg vom Patienten sind, sollen diese von
„Fahrdiensten" dahin chauffiert werden. Täglich der Patientenbus?
Schöne neue Welt.
Auch über eine gesicherte - weniger über eine sichere -
Arzneimittelversorgung machen sich die Sachverständigen Gedanken. So
sollen die Apotheken ihre Selbstständigkeit aufgeben und sich als
„Netzapotheken" in die Netzwerke einklinken. Als positiv ist die volle
Übertragung der Verantwortung für die Medikation jedes Patienten des
Netzwerkes auf den „Netzapotheker" zu werten. Aber der Preis ist hoch:
Weitgehende Aufgabe der wirtschaftlichen Freiheit und Einbindung in das
pauschale Vergütungssystem des Netzwerks. Was ist, wenn nichts übrig
bleibt? Nur durch die Abgabe des Billigsten vom Billigsten kann der
Apotheker seinen Beitrag zu einem angemessenen Ergebnis des Netzwerkes
leisten. Aber gerade das ist ja gewollt.
Und ganz bewusst werden in diesem Zusammenhang von den Gutachtern auch
das vom Europäischen Gerichtshof gerade erst bestätigte
Fremdbesitzverbot und das Mehrbesitzverbot in Frage gestellt. Aber
damit nicht genug: Der Versandhandel von Arzneimitteln gehört dem
Gutachten nach genauso zur Arzneimittelversorgung der Zukunft wie
„Pick-up-Stationen" in Supermärkten - ein Horrorszenario bezüglich der
Arzneimittelsicherheit.
Immerhin machen sich die Gutachter intensive Gedanken über den
Ärztemangel auf dem Lande. Hier will man an den Universitäten ansetzen:
mit erleichtertem Zugang zum Medizinstudium, mit mehr Medizinerinnen,
mit einer Aufwertung des Fachs „Allgemeinmedizin", aber auch mit einer
gezielten Steuerung der Weiterbildung zum Facharzt. Und wenn gar nichts
mehr hilft, sollen Ärzte über Land ziehen, den „Barfußärzten" gleich,
und zu bestimmten Zeiten Sprechstunden abhalten. Vom Mittelalter, wo
das Zähneziehen unter reger Anteilnahme der Umstehenden auf dem
Marktplatz erfolgte, sind wir dann nicht mehr weit entfernt.
Die unzureichende Vergütung des Landarztes bei höchster
Arbeitsbelastung steht nicht zur Diskussion. Für dieses brisante Thema,
das mitverantwortlich ist für den Ärztemangel auf dem Lande und den
Drang der Mediziner in die Ballungszentren, sind ganze neun Zeilen der
184-seitigen Kurzfassung des Gutachtens reserviert.
Der eigentliche Skandal aber wird im letzten Absatz des Kurzgutachtens
deutlich: Der Sachverständigenrat scheut sich nicht, weitreichende
Veränderungen im deutschen Gesundheitswesen vorzuschlagen, bevor „die
Konsequenzen für die Versicherten, für die Leistungserbringer, für die
Kostenträger und für das gesamte System" auch nur erkannt, geschweige
denn bewertet sind. Das ist unseriös und verantwortungslos. Mit
Experimenten solchen Ausmaßes macht man jedes Gesundheitswesen kaputt.
Das Problem ist nicht das deutsche Gesundheitswesen, das Problem sind
die permanenten unausgegorenen Gesundheitsreformen. Und die
Sachverständigen tragen nicht geringe Schuld daran.
Kommentar: Hat Shell das nötig?
Ein Kommentar der Redaktion
Aus gutem Grund gibt es Tankstellen. Sie verkaufen Benzin an
Autofahrer. Na gut - viel verdienen sie dabei nicht, der Hauptteil des
Gewinns der Mineralölkonzerne entsteht vorher. Deshalb führen die
Tankstellen zusätzlich Sortimente, die der eilige Autofahrer auf dem
Weg nach Hause noch schnell mitnimmt. Und sonntags verkaufen sie
Brötchen. Fein. Passieren kann da nichts.
Aus gutem Grund gibt es Apotheken. In denen arbeiten langjährig
ausgebildete Arzneimittelfachleute: Apothekerinnen, Apotheker,
pharmazeutisch-technische Assistentinnen und Assistenten. Sie sind Tag
und Nacht für den Patienten da. Sie beraten den Kranken, wählen aus und
prüfen Rezepte auf die Verträglichkeit der verschriebenen Arzneimittel
untereinander, auf „Interaktionen". Arzneimittelsicherheit wird
großgeschrieben. Das muss so sein, denn Arzneimittel sind keine
Gummibärchen.
Jetzt will Shell eine Art „Schmalspur-Apotheke" werden. Da soll man
seine Medikamente abholen können. Keine Arzneimittelfachleute. Keine
Beratung. Keine soziale Kompetenz. Was ist, wenn die Aushilfskraft an
der Kasse aus mangelnder Fachkenntnis einen Fehler macht?
Hat Shell das wirklich nötig???
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