Fälscheranrufe aus dem europäischen Ausland, Apotheken im Visier organisierter Betrugsversuche, Krebsmedikamente als hochpreisige Zielscheibe
In der Heegbach-Apotheke im hessischen Erzhausen verdichtet sich in einem Anruf, was viele Betriebe seit Jahren als diffuse Bedrohung spüren: Ein unbekannter Mann melde sich mit ausländischer Rufnummer, wolle ein hochpreisiges Krebsarzneimittel reservieren und versichere, das Rezept zu Hause zu haben – ein Muster, das auf den ersten Blick höflich und hilfesuchend wirkt, im Lichte der Gesamtumstände jedoch Alarm auslöst. Hier treffen mehrere Risikosignale zusammen: der Wunsch nach Vorbestellung eines außergewöhnlich teuren Präparats, die Distanz des Anrufers, der fehlende physische Nachweis der Verordnung und der Verweis auf eine spätere Nachreichung. Für den Inhaber entsteht unmittelbar die Frage, ob er es mit einem echten Versorgungsfall, einem Missverständnis oder einem zielgerichteten Versuch zu tun hat, ein Arzneimittel mit erheblichen Wertevolumina aus dem Warenlager zu lenken, ohne dass die üblichen Sicherungen greifen. Der Fall steht damit exemplarisch für die Gratwanderung zwischen Hilfsbereitschaft und Risikobewusstsein, in der sich viele Apotheken täglich bewegen.
Organisierte Tätergruppen haben längst erkannt, dass onkologische Arzneimittel und andere hochpreisige Spezialpräparate besondere Anreize bieten, weil mit wenigen Packungen hohe Summen bewegt werden können. Häufig nutzen sie dabei Kommunikationswege, die eine persönliche Begegnung umgehen: Anrufe aus dem Ausland, E-Mails mit eingescannten oder vermeintlich elektronisch signierten Rezepten, Verweise auf Angehörige, die später erscheinen sollen. Die Argumentationsmuster wirken auf den ersten Blick plausibel, weil sie reale Versorgungsbedarfe nachzeichnen – etwa Patientinnen und Patienten, die sich im Ausland aufhalten, Reisende, die dringend ihre Therapie fortsetzen müssen, oder Angehörige, die vermeintlich „nur schnell“ helfen wollen. Gerade diese Nähe zu echten Versorgungsfällen macht es schwierig, Betrugsversuche eindeutig zu erkennen, wenn Unterlagen fehlen oder nur bruchstückhaft vorliegen. Gleichzeitig steigt der Druck, bei Verdachtsmomenten nicht zu leichtfertig zu agieren, um echte Patientinnen und Patienten nicht von einer notwendigen Therapie abzuschneiden.
Für Apotheken stehen bei solchen Konstellationen wirtschaftliche, rechtliche und reputative Risiken zugleich im Raum. Wird ein hochpreisiges Arzneimittel auf Basis zweifelhafter Angaben bestellt oder abgegeben und stellt sich später heraus, dass Rezept oder Versicherungsdaten gefälscht sind, kann ein erheblicher Schaden entstehen, der weder vollständig über die Kassen noch über Versicherungen aufgefangen wird. Parallel drohen Nachfragen der Aufsichtsbehörden, Regressforderungen oder strafrechtliche Ermittlungen, wenn der Verdacht aufkommt, dass Sorgfaltspflichten verletzt wurden oder Prüfprozesse lediglich auf dem Papier bestehen. Selbst wenn sich am Ende herausstellt, dass der Betrieb korrekt gehandelt hat, bleibt ein Imageschaden denkbar, wenn der Fall öffentlich wird und die Apotheke im Zusammenhang mit Arzneimittelfälschungen erscheint. Die Unsicherheit wächst zusätzlich, weil technische Sicherungssysteme wie Sicherheitsmerkmale auf Packungen nur dann greifen, wenn das Präparat tatsächlich im Betrieb eintrifft und der illegale Zugriff nicht bereits vorher ansetzt.
Im betrieblichen Alltag zeigt sich, dass der Umgang mit auffälligen Bestellungen vor allem eine Frage gelebter Routinen ist. Teams, die regelmäßig über aktuelle Betrugsmuster informiert sind, erkennen typische Konstellationen eher und besprechen Auffälligkeiten intern, bevor eine Entscheidung fällt. Dabei spielen nicht nur formale Kriterien wie die Verfügbarkeit eines Originalrezepts oder eines qualifizierten elektronischen Rezeptes eine Rolle, sondern auch die Gesamtsituation: Stimmen die Angaben des Anrufers mit bekannten Patientendaten überein, passt der gewünschte Wirkstoff zu Diagnosen, die aus der Dokumentation vertraut sind, und lässt sich die Zahlungs- oder Abrechnungsmodalität sauber hinterlegen. Je klarer Zuständigkeiten für Rückfragen, Dokumentation und gegebenenfalls die Einbindung von Ärzten oder Kassen geregelt sind, desto geringer ist das Risiko, dass in einem Moment des Zeitdrucks eine folgenschwere Entscheidung allein am Telefon getroffen wird. Umgekehrt verstärkt ein unstrukturierter Umgang mit Sonderfällen das Gefühl der Überforderung und eröffnet Lücken, die Täter gezielt auszunutzen versuchen.
Der Fall aus Erzhausen macht deutlich, dass die Grenze zwischen Serviceorientierung und notwendiger Distanz schärfer gezogen werden muss, je höher der wirtschaftliche und pharmazeutische Wert eines Präparats ist. Apotheken sollen und wollen auch in ungewöhnlichen Situationen helfen, sind aber darauf angewiesen, dass rechtliche Rahmenbedingungen, Versicherungsprodukte und digitale Infrastrukturen ihre Sorgfaltspflichten stützen und nicht allein auf ihre individuelle Risikobereitschaft abladen. Klare Leitplanken für den Umgang mit telefonischen Vorbestellungen hochpreisiger Arzneimittel, eindeutige Regeln zur Dokumentation und eine Kultur, in der das Abblocken zweifelhafter Situationen nicht als fehlende Kundennähe, sondern als professionelles Handeln verstanden wird, können hier entscheidend sein. Inhaberinnen und Inhaber, die ihre Erfahrungen teilen und vor bestimmten Mustern warnen, leisten damit nicht nur einen Beitrag zum Schutz des eigenen Betriebes, sondern auch zur Sensibilisierung einer Branche, in der sich reale Versorgungsaufträge und kriminelle Energie immer wieder an denselben Schnittstellen begegnen.
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