Krankschreibung ohne Arztkontakt, arbeitsrechtliche Konsequenzen, Vertrauensschutz und Beweislast
Das Verfahren vor dem Landesarbeitsgericht Hamm macht einen Grenzfall sichtbar, der durch digitale Angebote zusätzliche Relevanz erhält. Im Mittelpunkt steht eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die den Eindruck eines ärztlichen Kontakts vermittelt, obwohl ein solcher nicht stattgefunden hat. Die rechtliche Frage lautet, ob eine solche Konstellation den besonderen Vertrauensschutz der Bescheinigung erschüttert. Wird der Beweiswert der Bescheinigung angegriffen, verschiebt sich die Beurteilung von der bloßen Formalität hin zur Frage des getäuschten Vertrauens. Genau dort setzt die arbeitsrechtliche Einordnung eines wichtigen Grundes für eine fristlose Kündigung an.
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gilt grundsätzlich als hoch, weil sie die ärztliche Bewertung zu Arbeitsfähigkeit und Dauer dokumentiert. Dieser Beweiswert kann erschüttert werden, wenn Umstände darauf hindeuten, dass die Ausstellung ohne die übliche ärztliche Prüfung erfolgte. Eine Bescheinigung, die einen persönlichen oder qualifizierten ärztlichen Kontakt suggeriert, obwohl keiner stattfand, trifft den Kern des Vertrauensschutzes. In solchen Fällen wird nicht nur die Erkrankung hinterfragt, sondern die Integrität der Entschuldigung an sich. Aus der Perspektive des Gerichts ist das geeignet, den wichtigen Grund im Sinne einer außerordentlichen Beendigung zu begründen.
Für die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung bleibt die Interessenabwägung zentral, die stets die Umstände des Einzelfalls einbezieht. Von Bedeutung sind die Dauer des Arbeitsverhältnisses, mögliche Vorbelastungen, der Kommunikationsverlauf und die Frage, ob eine mildere Maßnahme ausgereicht hätte. Auch der Zeitpunkt der Vorlage der Bescheinigung und etwaige Folgebescheinigungen spielen eine Rolle. Die Abwägung misst, ob das Vertrauensdefizit so gravierend ist, dass eine Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist unzumutbar erscheint. Erst wenn diese Schwelle überschritten ist, trägt die außerordentliche Beendigung.
Technisch unterscheidet die Entscheidung nicht pauschal zwischen Formen ärztlicher Leistungserbringung, sondern zwischen realer ärztlicher Befassung und deren bloßer Behauptung. Ein legitimer telemedizinischer Kontakt mit strukturierter Anamnese und Dokumentation ist von einem automatisierten Attest ohne ärztliche Prüfung zu trennen. Entscheidend ist, ob die Bescheinigung eine tatsächliche medizinische Bewertung abbildet oder lediglich deren Anschein erweckt. Wird der Eindruck einer ärztlichen Prüfung vorsätzlich oder zumindest billigend in Kauf genommen, wiegt dies schwerer als ein bloß formaler Fehler. Damit rückt die Frage nach Inhalt, Ablauf und Dokumentation in den Vordergrund.
Aus der Entscheidung folgt eine klare Linie für den betrieblichen Alltag, ohne in schematische Automatismen zu verfallen. Beschäftigte sollten darauf achten, dass die Grundlage einer Bescheinigung eine echte ärztliche Befassung ist und der Charakter der Konsultation nicht irreführend dargestellt wird. Unternehmen wiederum haben ein berechtigtes Interesse, den Beweiswert zu prüfen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Unregelmäßigkeiten vorliegen. Die Schwelle zur außerordentlichen Beendigung bleibt hoch, wird jedoch erreicht, wenn der Schutzmechanismus der Bescheinigung unterlaufen wird. Transparenz über die Art des Kontakts und nachvollziehbare Dokumentation reduzieren Konflikte, bevor sie eskalieren.
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