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  • 29.06.2025 – Vertrauen wird zur Schwachstelle, Digitalisierung wird zur Angriffsfläche, Verantwortung wird zur Systemfrage
    29.06.2025 – Vertrauen wird zur Schwachstelle, Digitalisierung wird zur Angriffsfläche, Verantwortung wird zur Systemfrage
    APOTHEKE | Medienspiegel & Presse | Quishing bedroht Apotheken durch hybride Täuschung, politische Reformen stocken, Versicherer verweigern Leistungen. Eine Analyse zu Angri...

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ApoRisk® Nachrichten - APOTHEKE:


APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |

Vertrauen wird zur Schwachstelle, Digitalisierung wird zur Angriffsfläche, Verantwortung wird zur Systemfrage

 

Wie Apotheken auf Quishing-Attacken reagieren, der Großhandel um Anerkennung kämpft und Gerichte die Grenze zwischen Lifestyle und Lohnpflicht ziehen

Apotheken-News von heute

Die neue Quishing-Welle offenbart eine digitale Schwachstelle, die nicht technischer Natur ist, sondern auf der gewohnten Vertrauenslogik beruht: Apotheken werden gezielt durch postalisch versendete QR-Codes angegriffen, die in gefälschten Formularen die Identität offizieller Stellen vortäuschen – eine hybride Täuschungsform, gegen die klassische IT-Sicherheit oft machtlos bleibt, während gleichzeitig Versicherer ihre Leistungspflicht zunehmend an technische Compliance knüpfen und im Schadenfall auf lückenhafte Absicherung oder mangelnde Schulung verweisen. Parallel dazu verdeutlicht die geplante Schließung der Salzach-Apotheke, dass wirtschaftliche Entscheidungen längst nicht mehr allein auf Ertragslage beruhen, sondern auf strukturellen Engpässen, langfristigen Vertragsbindungen und dem Eindruck wachsender Unkontrollierbarkeit im Betriebsalltag, während die Politik auf Bundesebene mit dem Fixumverweis stagniert und einzig regionale Kammerinitiativen gegensteuern. Auf Systemebene fordert der Großhandel Anerkennung für seine Schlüsselrolle in der Arzneimittelversorgung, während im juristischen Raum Entscheidungen wie zur Wegovy-Erstattung oder zum Lohnanspruch nach Tattoo-Entzündung die Debatte um Selbstverantwortung und soziale Schutzmechanismen neu schärfen – flankiert von wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Wert von Nickerchen für Problemlösung, zu Red Flags in der Pädiatrie und zur Aggression als systemisch unterschätzter Risikodynamik im pharmazeutischen Alltag.

 

Betrüger unterwandern Briefverkehr, Apotheken stehen im Fokus, Versicherer geraten unter Zugzwang

Quishing-Angriffe treffen Gesundheitsberufe gezielt, digitale Abwehr greift zu kurz, Absicherungslücken werden zur Schwachstelle

Quishing heißt die neue Masche – und sie ist tückischer als jede bisherige Phishing-Welle. Während E-Mails mit verdächtigen Links längst zum Alltag gehören und zumindest ein gewisses Maß an Vorsicht auslösen, zielt Quishing auf das genaue Gegenteil: auf das Vertrauen in vermeintlich offizielle Briefe, auf die Seriosität gedruckter Logos und die Gewohnheit, postalischer Kommunikation mit einer gewissen Sorglosigkeit zu begegnen. Besonders Apotheken geraten aktuell verstärkt ins Visier. Denn sie vereinen mehrere Risikofaktoren: Sie verwalten sensible Daten, haben betriebliche Kontozugänge, agieren unter hoher Belastung und müssen tagtäglich bürokratische Dokumente bearbeiten. Das macht sie zu idealen Zielen.

Die Täter nutzen täuschend echt gestaltete Schreiben mit aufgedruckten QR-Codes, die angeblich zur Verifizierung von Konto- oder Nutzerdaten, zur Sicherheitsaktualisierung oder zu Compliance-Bestätigungen auffordern. Die Briefe sind mit Banklogos versehen, enthalten echte Namen von Mitarbeiter:innen der Apobank oder klingen nach offiziellen Rundschreiben von Berufsverbänden. Viele Apothekenmitarbeiter:innen, insbesondere in der Verwaltung oder Buchhaltung, sind aufgrund der realitätsnahen Aufmachung überfordert. Wird der QR-Code gescannt, gelangt man auf eine Seite, die täuschend echt das Design des Apobank-Portals nachahmt – inklusive Zwei-Faktor-Eingabe, „Sicherheitsüberprüfung“ und PIN/TAN-Feld.

Der Schaden entsteht nicht erst beim Absenden der Daten, sondern bereits in dem Moment, in dem Vertrauen aufgebaut wird. Der psychologische Trick ist perfide: Die Täter spielen mit dem Alltagsstress, der Betriebsamkeit und dem Drang zur schnellen Erledigung. Der QR-Brief wird nicht kritisch hinterfragt, sondern als Routine-Aufgabe abgearbeitet. Manche Apotheken wurden auf diesem Weg bereits um mehrere zehntausend Euro gebracht, weil durch die erhaltenen Zugangsdaten Konten leergeräumt oder hohe Überweisungen ausgelöst wurden.

Juristisch ist die Lage komplex. Denn Quishing-Angriffe sind hybrid – sie verlaufen analog im Zugang (Brief) und digital im Schaden (Kontoübernahme). Die klassischen Cyberversicherungen vieler Apotheken greifen jedoch nur bei rein digitalen Angriffen. Wer in seinem Vertrag keine Erweiterung auf Täuschung durch physische Medien abgeschlossen hat, bleibt unter Umständen auf dem Schaden sitzen. Besonders problematisch: Wenn Mitarbeitende den Brief irrtümlich als betriebliche Maßnahme einordnen, agieren sie im Rahmen des Arbeitsverhältnisses – und der Betrieb trägt die Verantwortung. Damit liegt nicht nur der finanzielle Schaden bei der Apotheke, sondern auch die Beweislast, dass der Angriff nicht fahrlässig begünstigt wurde.

Versicherungsjuristen warnen bereits: Viele gängige Policen enthalten Ausschlussklauseln für „Täuschungshandlungen Dritter“, wenn keine technische Sicherheitsbarriere durchbrochen wurde. Das bedeutet: Wenn keine Malware installiert wurde, sondern der Schaden durch eine menschliche Handlung auf Basis einer Täuschung entstanden ist, kann die Leistung verweigert werden. Der Quishing-Angriff wird damit aus Versicherungssicht zur Obliegenheitsverletzung – vor allem, wenn Mitarbeitende nicht geschult waren oder keine klare betriebliche Anweisung zum Umgang mit Sicherheitsfragen vorlag.

Die Reaktion der Apobank fällt differenziert aus. Man habe Kenntnis von der neuen Betrugsform, arbeite eng mit den Ermittlungsbehörden zusammen und aktualisiere laufend die Sicherheitskommunikation. Dennoch verweist man darauf, dass die Kunden – insbesondere Geschäftsinhaber – in der Verantwortung stehen, interne Sicherheitsmaßnahmen zu implementieren. Dazu gehören nicht nur IT-technische Absicherungen, sondern auch Prozesse zur Prüfung externer Posteingänge, klare Zuständigkeiten bei Sicherheitsverifikationen und regelmäßige Schulungen.

Für Apotheken bedeutet das: Die Sicherheitsfrage ist nicht mehr an eine technische Komponente gebunden, sondern an eine strategische Führungsentscheidung. Wer seine Angestellten nicht befähigt, Quishing-Angriffe zu erkennen, handelt unternehmerisch fahrlässig. Wer keine Versicherung mit expliziter Deckung analoger Täuschungshandlungen abgeschlossen hat, riskiert den Totalausfall im Schadensfall. Wer QR-Briefe nicht systematisch prüft und dokumentiert, verliert im Streitfall die Beweisführung gegenüber Versicherung, Bank und Ermittlungsbehörden.

Hinzu kommt ein bislang unterschätzter Aspekt: Die Reputation. Wenn eine Apotheke Opfer eines Quishing-Angriffs wird, ist nicht nur der materielle Schaden beträchtlich. Es drohen Datenschutzverletzungen, Misstrauen der Kunden, Rückfragen der Aufsichtsbehörden und schlimmstenfalls ein Widerruf bestehender Geschäftsverbindungen durch Bankpartner. In einem Sektor, der ohnehin unter politischem Druck, Personalmangel und wirtschaftlicher Belastung steht, können solche Vorfälle existenzbedrohend werden – vor allem, wenn das Umfeld mangelnde IT-Kompetenz unterstellt.

Dabei ist das Problem systemisch. Die Täter operieren nicht aus dem Bauch heraus, sondern analysieren gezielt den Kommunikationsstil, die Prozesse und die öffentlichen Strukturen von Apotheken. In manchen Fällen stammen die Adressen aus öffentlichen Verzeichnissen, in anderen aus Datenlecks früherer Jahre. Die Professionalität der Angriffe legt nahe, dass internationale Netzwerke im Hintergrund stehen, die Quishing nicht als Einzelfall, sondern als skalierbare Betrugsform begreifen – gezielt zugeschnitten auf kleine und mittlere Unternehmen mit hohem Vertrauen in institutionelle Kommunikation.

Was also tun? Apotheken müssen Sicherheitsmanagement als Führungsaufgabe begreifen. Das beginnt bei der Prävention: Interne Standards zum Umgang mit QR-Briefen, zentrale Meldepflicht bei verdächtigen Schreiben, regelmäßige Schulungen – auch für nicht-technische Mitarbeitende. Es umfasst die Reaktion: Eine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten, ein Notfallplan bei erkannten Täuschungen, die schnelle Kontaktaufnahme mit der Apobank und der Versicherung. Und es endet nicht beim materiellen Schutz, sondern muss auch den kommunikativen Umgang mit Kunden und Behörden beinhalten.

Der Gesetzgeber bleibt bislang weitgehend untätig. Weder gibt es klare Regelungen zur Haftungsverteilung bei hybriden Angriffen, noch Vorgaben an Banken zur Erkennbarkeit von Täuschungsversuchen. Auch das Aufsichtsrecht sieht Quishing bisher nicht als eigene Kategorie – ein Umstand, der Strafverfolgung und Prävention erschwert. Die Standesvertretungen der Apotheken könnten hier eine aktive Rolle übernehmen: durch Aufklärungskampagnen, Musterregelungen für Versicherungsverträge, Zusammenarbeit mit Cybersicherheitsbehörden und politische Lobbyarbeit für besseren Schutz betroffener Betriebe.

Denn eines ist klar: Quishing wird nicht verschwinden. Im Gegenteil. Die Kombination aus niedriger Entdeckungswahrscheinlichkeit, hoher Erfolgsquote und psychologischer Raffinesse macht diese Betrugsform für Täter besonders attraktiv. Nur wenn Apotheken rechtzeitig und konsequent reagieren – technisch, organisatorisch, juristisch und kulturell –, können sie sich schützen. Die Verantwortung liegt nicht allein bei den Banken, nicht bei der Polizei, nicht bei den Versicherungen – sondern beim Betrieb selbst. Und sie beginnt bei einem ganz einfachen Satz: „Solche Briefe prüfen wir nicht nur, wir hinterfragen sie systematisch – bevor wir auch nur einen QR-Code scannen.“

 

Vertrauen braucht Schutz, Technik braucht Kontrolle, Apotheke braucht Cybersicherheit

Wie digitale Systeme gezielt abgesichert werden, welche Fehler Apotheken vermeiden müssen und warum Cyberversicherungen allein nicht ausreichen

Die Apotheke ist längst nicht mehr nur ein Ort pharmazeutischer Versorgung – sie ist ein hochkomplexes Dienstleistungszentrum, in dem sensible Gesundheitsdaten verarbeitet, Arzneimittelbewegungen dokumentiert, digitale Schnittstellen bedient und Echtzeitkommunikation mit Arztpraxen, Rechenzentren, Krankenkassen, Großhändlern und Botendiensten betrieben wird. Mit der Einführung des E-Rezepts, der Anbindung an die Telematikinfrastruktur, digitalen Signaturen, Lagerautomatisierung und cloudbasierter Buchhaltung hat sich die einst analog geschützte Apotheke in ein digital verwundbares Ziel verwandelt. Der Schutz dieser digitalen Apothekenrealität ist jedoch häufig rudimentär – mit teils katastrophalen Folgen.

Cybersicherheit für Apotheken beginnt nicht mit Technik, sondern mit Einsicht: Dass Angriffe kein Ausnahmefall mehr sind, sondern kalkuliertes Geschäftsmodell organisierter Kriminalität. Dass die Komplexität der digitalen Arbeitsumgebung Verantwortung nicht neutralisiert, sondern potenziert. Und dass betrieblicher Schutz nicht bei der Firewall endet, sondern bei der Führungsstruktur beginnt. Im Jahr 2025 stehen Apotheken als systemkritische Knotenpunkte im Fokus mehrdimensionaler Bedrohungen – von Ransomware über Phishing, Social Engineering, Kompromittierung von Botensystemen bis hin zu gezielten Angriffen auf Abrechnungsprozesse. Und das Besondere: Diese Risiken entstehen nicht durch spektakuläre Hackertricks, sondern durch banale Nachlässigkeit.

Die Hauptangriffsvektoren lassen sich klar identifizieren: Erstens die externe Täuschung – sogenannte Quishing-Briefe etwa, die vermeintlich von der Apobank oder Kassenärztlichen Vereinigung stammen und QR-Codes zur „Verifizierung“ enthalten, öffnen die Tür für Credential Harvesting und Trojaner-Einschleusung. Zweitens die interne Unachtsamkeit – Mitarbeitende, die ihre Passwörter auf Papier notieren, sich von Kunden beim Kassieren ablenken lassen oder private USB-Sticks in Dienstrechner einstecken. Drittens die systemische Schwachstelle – veraltete Software, nicht dokumentierte Updates, fehlende Backup-Strategien, Geräte ohne Endpoint Protection oder Firewalls, deren Regeln nie überprüft wurden. Es braucht keine ausgeklügelte Exploit-Kette, wenn der Alltag fahrlässig strukturiert ist.

Was also tun? Zunächst müssen Apothekeninhaber:innen die juristische Realität begreifen: Sie sind haftbar. Das Datenschutzrecht, allen voran die DSGVO, kennt keine Nachsicht für unterlassene Schutzmaßnahmen. Wer Patientendaten in unsicheren Umgebungen speichert, haftet nicht nur finanziell, sondern unter Umständen auch strafrechtlich. Hinzu kommen neue regulatorische Vorgaben des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), die auch für kleinere Betriebe schrittweise relevant werden – etwa wenn sie an zentrale Versorgungsstrukturen angebunden sind. Die Ausrede „zu klein, zu wenig relevant“ trägt nicht mehr. Jeder Knotenpunkt ist ein Risiko für das Gesamtsystem.

Ein erster operativer Schritt ist die Erstellung eines digitalen Risikoprofils: Welche Systeme werden genutzt? Welche Daten sind wie zugänglich? Wer hat Zugriff? Wie sind Updates dokumentiert? Gibt es Rollenkonzepte für Zugriffsrechte? Wo liegen Backup-Daten? Wer prüft die Log-Protokolle? Dieses digitale Inventar legt die Grundlage für strukturierte Schutzmaßnahmen – von technischen Maßnahmen wie Patch-Management, Endpoint Protection, Multi-Faktor-Authentifizierung und Netzsegmentierung bis hin zu organisatorischen Maßnahmen wie Mitarbeiterschulung, Awareness-Programme, Reaktionsketten bei Vorfällen und Pflicht zur Protokollierung sicherheitsrelevanter Vorgänge.

Gerade die Rolle des Personals wird oft unterschätzt – dabei sind menschliche Fehler in über 70 % aller erfolgreichen Angriffe ursächlich. Die beste Software nützt nichts, wenn jemand auf den falschen Link klickt. Deshalb müssen Teams systematisch geschult werden – nicht einmalig, sondern regelmäßig. Jede neue Bedrohung, jede neue Masche muss kommunikativ eingebunden und simuliert werden. Szenarien wie der plötzliche Ausfall der Rezeptschnittstelle, ein erpresserisches Popup auf dem Hauptrechner oder die Entdeckung eines USB-Sticks im Offizinbereich müssen aktiv durchgespielt werden – inklusive Eskalationsplänen, Zuständigkeiten und Kommunikationsstrategie.

Parallel zur technischen und menschlichen Schutzarchitektur stellt sich die Versicherungsfrage. Cyberversicherungen werden immer häufiger abgeschlossen – doch der Markt ist volatil, anspruchsvoll und oft missverstanden. Viele Policen greifen nur dann, wenn bestimmte Grundstandards erfüllt sind: aktuelle Virenscanner, dokumentierte Schulungen, Zwei-Faktor-Authentifizierung, verschlüsselte Backups. Fehlt auch nur ein Baustein, kann im Schadenfall die Leistung verweigert oder drastisch gekürzt werden. Zudem verlangen viele Versicherer Eigenbeteiligungen von bis zu 50 % bei grober Fahrlässigkeit – was bei mangelnden Updates schnell greift. Apotheken brauchen also nicht nur eine Police, sondern eine versicherbare IT-Struktur. Eine formale Unterschrift reicht nicht – geprüft wird im Ernstfall rückwirkend.

Ein unterschätzter Aspekt ist auch die Rolle externer Dienstleister: Wer IT-Wartung, Buchhaltung, Botendienstsysteme oder Telematikanschlüsse über Dritte laufen lässt, muss deren Sicherheit mitverantworten. IT-Dienstleister sollten vertraglich zur Einhaltung von BSI-Grundschutz verpflichtet, regelmäßig kontrolliert und haftungstechnisch abgesichert sein. Zudem muss der Datentransfer klar geregelt und verschlüsselt erfolgen – etwa bei der Fernwartung. Die IT-Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Und in vielen Apotheken ist das nicht die Technik, sondern der Mangel an organisatorischer Kontrolle.

Langfristig führt an einer strukturellen Einbindung der Cybersicherheit in den Führungsprozess kein Weg vorbei. Es reicht nicht, Aufgaben an eine externe IT abzugeben oder auf eine Versicherung zu vertrauen. Apothekenleitungen müssen den Überblick behalten, Verantwortlichkeiten intern klar definieren und Cybersicherheit als kontinuierliche Managementaufgabe verstehen – mit klaren Zielen, Verantwortlichkeiten und regelmäßiger Evaluierung. Dies betrifft auch die Kommunikation mit dem Team: Wer Angst vor Fehlern hat, meldet Vorfälle nicht. Wer keine Ahnung hat, handelt nicht. Wer keine Struktur kennt, improvisiert. Und wer improvisiert, verliert.

Deshalb muss die Apotheke der Zukunft nicht nur digital modern, sondern auch digital souverän sein. Das bedeutet nicht, alle Risiken ausschließen zu können – aber sie zu kennen, zu bewerten, zu begrenzen und strukturiert zu managen. Die öffentliche Wahrnehmung von Apotheken als verlässlich, sicher und vertrauenswürdig hängt zunehmend nicht nur vom Fachwissen ab, sondern auch von digitaler Kompetenz. Und dieser neue Vertrauensfaktor ist kein Zusatz – er ist essenziell. Denn im digitalen Gesundheitswesen entscheidet nicht allein das richtige Arzneimittel, sondern auch die Fähigkeit, es sicher und verantwortungsvoll zu dokumentieren, zu verarbeiten und zu schützen.

 

Verträge binden, Strukturen bremsen, Apotheken weichen

Warum die Schließung der Salzach-Apotheke für ein bundesweites Problem steht und welche systemischen Ursachen hinter dem Rückzug stehen

In Laufen an der Salzach wird Ende Juni eine Apotheke schließen, deren Gründe bundesweit auf wachsende Resonanz stoßen: Die Inhaberin Beate Frimmel hat sich entschieden, ihre Salzach-Apotheke nach eigener Aussage „aus wirtschaftlicher und struktureller Verantwortung“ nicht weiterzuführen. Der Standort sei grundsätzlich versorgungsrelevant, verfüge über eine stabile Kundenbindung und ein gut etabliertes Team. Dennoch überwiegen nach Einschätzung der Inhaberin die Risiken im Weiterbetrieb. Dabei gehe es nicht um eine akute wirtschaftliche Krise, sondern um die Abwägung zwischen langfristigen Verpflichtungen, digitaler Infrastruktur, wachsender Administrationslast und zunehmend eingeschränkten Handlungsspielräumen im pharmazeutischen Alltag.

Ein zentraler Faktor sei die Bindung an Verträge mit mehrjähriger Laufzeit, insbesondere im Bereich Apothekensoftware, Warenwirtschaft und Cloud-basierter Dokumentation. Diese Vertragsmodelle böten oft geringe Flexibilität bei gleichzeitiger Erhöhung laufender Fixkosten. In einem Umfeld, in dem Arzneimittelengpässe, Preisverwerfungen, Retaxationen und personelle Herausforderungen den Versorgungsalltag prägen, erscheine eine derart starre Kostenstruktur für viele Betriebe nicht mehr tragbar. Zudem erschwere die dynamische Entwicklung regulatorischer Anforderungen, etwa im Zusammenhang mit dem E-Rezept, der Telematikinfrastruktur oder der Digitalisierung von Abrechnungsprozessen, eine nachhaltige Planbarkeit.

Auch der Wandel des Berufsbilds werde von Inhaberinnen und Inhabern zunehmend kritisch bewertet. Während die Apotheke vor Ort weiterhin eine zentrale Rolle in der Arzneimittelversorgung, Beratung und Gesundheitskompetenzvermittlung spiele, verschiebe sich der Fokus in der Praxis immer stärker in Richtung technischer Prozesskontrolle, Meldepflichten, Plattforminteraktion und Schnittstellenkoordination. Dieser Strukturwandel führe nach Einschätzung von Branchenbeobachtern dazu, dass viele Inhaberinnen und Inhaber sich weniger als selbstständige Heilberufler denn als ausführende Organisatoren fremdbestimmter Systemroutinen sehen.

Beate Frimmel benennt diesen Prozess nüchtern als „Verlust an Reiz und Flexibilität“. Der Betrieb sei zunehmend durch externe Taktgeber geprägt, die keinen unmittelbaren Bezug zur Versorgungslage vor Ort hätten. Eine Softwareumstellung, so Frimmel, könne faktisch größere Risiken mit sich bringen als der Wechsel eines Großhändlers oder einer Krankenkasse – nicht aufgrund technischer Defizite, sondern aufgrund langfristiger Bindungswirkungen, die auf betriebswirtschaftlicher Ebene kaum rückgängig zu machen seien. Die Anforderungen an Datenschutz, Ausfallsicherheit, Kompatibilität mit künftigen TI-Versionen und Nachweispflichten gegenüber Versicherern würden von den Anbietern regelmäßig verschärft – bei gleichzeitig limitierten Mitbestimmungsmöglichkeiten durch die Nutzerseite.

Die Schließung der Salzach-Apotheke erfolgt damit nicht aus einem akuten Defizit heraus, sondern aus einer strukturellen Vorsorgeentscheidung. Der Rückzug ist in diesem Fall das Resultat einer unternehmerischen Einschätzung, dass die Fortführung unter den gegebenen Bedingungen mehr Risiken als Entwicklungsmöglichkeiten birgt. Dieses Muster ist nach Einschätzung mehrerer Landesapothekerkammern kein Einzelfall mehr. In strukturschwächeren Regionen oder in Gebieten mit engen Versorgungsnetzen komme es vermehrt zu freiwilligen Rückgaben von Betriebserlaubnissen, weil Nachfolgerinnen und Nachfolger fehlen, Betriebsübernahmen mit unkalkulierbaren Altverträgen verbunden sind oder bestehende Apotheken durch die Komplexität digitaler Umstellungen an operative Grenzen stoßen.

Dabei sind laut Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) nicht nur ökonomische Faktoren ausschlaggebend, sondern auch rechtliche und versorgungspolitische: Die wachsende Anzahl digitaler Schnittstellen, die unklare Rechtslage bei Vertragskündigungen im Rahmen der Telematikinfrastruktur sowie die Forderung vieler Versicherer nach standardisierter Compliance-Dokumentation erhöhen die Hürden für eine flexible Betriebsführung. Insbesondere bei Cloud-basierten Systemen und neuen Kommunikationsschnittstellen wie eMP, ePA oder eVerordnung werde der Handlungsspielraum kleiner, wenn technische Dienstleister langfristige Vertragsmodelle kombinieren mit dynamischer Produktweiterentwicklung. Anpassungskosten und Schulungsaufwand träfen dabei überproportional kleine Betriebe.

Im Fall Laufen zeigt sich eine Entwicklung, die inzwischen bundesweit sichtbar ist: Inhaberinnen und Inhaber wägen strategisch ab, ob sie unter den gegebenen Rahmenbedingungen weiterführen können oder wollen. Die Entscheidung, eine Apotheke zu schließen, ist dabei weniger Ausdruck eines Scheiterns als vielmehr ein Hinweis auf ein strukturelles Ungleichgewicht zwischen Versorgungspflicht, technischer Infrastruktur, betriebswirtschaftlicher Planbarkeit und rechtlicher Absicherung. In diesem Sinne steht der Fall Salzach-Apotheke nicht für ein regionales Ereignis, sondern für ein zunehmend systemisches Phänomen im deutschen Apothekenwesen.

 

Fixum bleibt Illusion, Gipfel bleibt Hoffnung, Kammer bleibt aktiv

Warum die Sommerpause keine Lösung bringt, wer sich noch bemüht und wieso Berlin und Stuttgart gegen den Stillstand stemmen

Die wirtschaftliche Lage der Apotheken spitzt sich weiter zu – nicht schlagartig, aber stetig, nicht eruptiv, sondern erosiv. Und während sich diese Entwicklung in den Betrieben durch stagnierende Margen, wachsende Fixkosten und steigenden Personalaufwand täglich konkretisiert, bleibt der politische Raum ein Ort der Verlangsamung. Die parlamentarische Sommerpause naht – und mit ihr die faktische Verabschiedung jeder kurzfristigen Unterstützung. Eine Erhöhung des Fixums? Liegt auf Eis. Eine Soforthilfe? Nicht in Sicht. Dabei wäre das Instrumentarium vorhanden: Eine minimalinvasive Anpassung der Arzneimittelpreisverordnung könnte den Apotheken bundesweit kurzfristige Stabilität bieten. Doch selbst dieser technisch unaufwendige Schritt scheitert – an politischem Willen, an haushalterischer Vorsicht, an Prioritätensetzung.

Der Frust auf Bundesebene ist greifbar, wird jedoch nicht flächendeckend artikuliert. Denn in Teilen der Standesvertretung scheint eine stille Akklimatisierung an die politische Zurückhaltung stattgefunden zu haben. Auffällig: In mehreren Kammern wird der scheidenden ABDA-Präsidentin Gabriele Regina Overwiening mit erstaunlich versöhnlichen Tönen begegnet. Es sei die „geschlossenste und professionellste Berufspolitik seit Jahrzehnten“ gewesen, urteilen mehrere Kammerfunktionäre, insbesondere aus Süddeutschland – wohl wissend, dass die Erfolge dieser Politik in der Realversorgung kaum spürbar waren. Der Subtext: Selbst die beste Performance im Berliner Politikbetrieb garantiert noch lange keinen messbaren Effekt in den Apotheken. In der Anerkennung schwingt also auch Enttäuschung mit – und eine zunehmend resignative Einsicht in die systemische Trägheit bundespolitischer Entscheidungswege.

In dieses Vakuum drängt nun die Idee eines „Apothekengipfels“, wie sie zuletzt aus Bayern und Berlin lanciert wurde. Der Begriff klingt nach Aufbruch – doch weder Zeitpunkt noch Zielrichtung sind bislang konkret. Während Bayerns Landespolitik seit Jahren stärker apothekenspezifisch denkt, ist das Berliner Engagement vor allem strategisch motiviert: Ein Gipfel könnte das Thema Versorgungssicherheit medial aufladen, parteipolitisch anschlussfähig machen und – bei entsprechender Besetzung – Druck auf das Bundesgesundheitsministerium ausüben. Aber auch hier gilt: Initiativen brauchen Ressourcen, Träger, Konsens. Und solange diese Parameter nicht erfüllt sind, bleibt das Gipfelprojekt ein Hoffnungskanal ohne faktische Reichweite.

Diese Leerstelle nutzt die Landesapothekerkammer Baden-Württemberg auf ihre Weise – und formuliert konkrete Strukturvorschläge. Zwei Themen stehen im Zentrum: die Notdienstversorgung und die Rolle der Apotheken in der Chronikerbetreuung. Beide Felder leiden unter denselben politischen Versäumnissen wie das Fixum: Es fehlen praktikable Konzepte, die betriebliche Belastung sinkt nicht, und das gesellschaftliche Verständnis für apothekerliche Leistungen in Ausnahmesituationen – sei es nachts, sei es im Krankheitsverlauf – wird oft unterschätzt. Der baden-württembergische Vorstoß geht darum weit über die reine Analyse hinaus: Er skizziert eine dezentrale Notdienststruktur mit regionalem Ausgleichsfonds, flankiert von Fördermitteln für strukturschwache Gebiete. Gleichzeitig wird die Chronikerversorgung als stabilisierendes Element im Primärsystem gedacht: Als kontinuierliche, niederschwellige Schnittstelle zwischen Hausärzten, Patienten und Therapie.

Bemerkenswert ist dabei die politische Anschlussfähigkeit dieser Konzepte. Während Bundesgremien oft von digitalen Großprojekten wie E-Rezept, TI oder ePA dominiert werden, orientieren sich die Vorschläge der LAK BW an realen Versorgungsprozessen. Sie setzen auf Interaktion statt Interoperabilität, auf Betreuung statt Backend, auf Verantwortung statt Verlagerung. Gerade die Chronikerbetreuung bietet dabei eine systemische Chance: In einer alternden Gesellschaft, in der Multimorbidität und Medikationsmanagement zur Regel werden, sind wohnortnahe Arzneimittelbetreuung, Wirkstoffanpassung, Adhärenzkontrolle und Medikationsanalyse keine Luxusaufgaben, sondern versorgungsstrategische Notwendigkeiten. Apotheken können und sollen diese Rolle übernehmen – wenn sie rechtlich abgesichert, wirtschaftlich tragfähig und professionell eingebunden sind.

Der Vorschlag aus Stuttgart steht damit exemplarisch für ein Denken, das sich nicht mit der Untätigkeit des Bundes abfindet. Er ist keine Kampfansage, sondern ein Testballon: Ob sich politische Aufmerksamkeit, Kammerengagement und regionale Versorgungslösungen zu einem konstruktiven Bündel verknüpfen lassen, das sich gegenüber Bundespolitik und Krankenkassen als Modell positionieren kann. Zugleich markiert der Vorschlag eine strategische Rückbesinnung: Apotheken als Gesundheitsakteure vor Ort, nicht als Datenschnittstelle im Digitalarchipel.

Dass dieser Kurs nicht überall mitgetragen wird, zeigt die Reaktion anderer Kammern – mal vorsichtig abwartend, mal dezidiert skeptisch. Doch die Verengung auf Bundesprozesse erscheint zunehmend kontraproduktiv. Denn solange dort weder politische Führungsverantwortung noch strukturverändernde Gesetzesinitiativen erkennbar sind, verlieren Apotheken weiter an Substanz, Attraktivität und strategischer Reichweite. Nicht durch einzelne Ereignisse, sondern durch das systematische Ausbleiben von Perspektiven.

In dieser Gemengelage liegt die politische Verantwortung nicht mehr nur in Berlin – sie liegt bei den Akteuren, die bereit sind, trotz Gegenwind zu gestalten. Die Sommerpause wird kommen. Aber sie darf nicht zur Ausrede werden, nichts zu tun. Versorgung kennt keine Parlamentsferien. Wer jetzt nicht handelt, überlässt das Feld dem Rückzug – oder der Resignation.

 

Großhandel kämpft um Anerkennung, Koalitionsvertrag setzt Schwerpunkte falsch, Kühlkettenpflicht bleibt unbeachtet

Sanacorp-Chef Neuss fordert Vergütungsreform, kritisiert politischen Tunnelblick und warnt vor gefährlicher Marktverzerrung

Als Patrick Neuss am Rednerpult der Sanacorp-Vertreterversammlung in München zum ersten Mal als Vorstandsvorsitzender das Wort ergriff, ließ er keinen Zweifel daran, dass er die Verantwortung seines Amtes mit klarem Blick auf die Systemrisiken der Gegenwart antritt. Seine Rede war mehr als eine Situationsbeschreibung. Sie war ein Appell – an Politik, Branche und Öffentlichkeit –, die wachsende Diskrepanz zwischen politischer Symbolik und realwirtschaftlicher Versorgungsstruktur endlich aufzulösen. Während die Apotheken im Koalitionsvertrag zumindest namentlich Anerkennung finden, bleibt der pharmazeutische Großhandel faktisch unsichtbar – trotz seiner Schlüsselrolle bei Versorgungssicherheit, Arzneimittelverteilung und Kühlkettenlogistik.

Der globale Hintergrund, den Neuss zu Beginn seiner Ausführungen skizzierte, ist kein bloßer rhetorischer Auftakt, sondern tief verwoben mit der Realität der Arzneimittelversorgung: Der Krieg in der Ukraine, geopolitische Spannungen im Indopazifik, Handelskonflikte zwischen den USA und China sowie instabile Lieferketten infolge der Pandemie haben nicht nur die Rohstoffpreise beeinflusst, sondern auch die Verlässlichkeit internationaler Transporte erschüttert. Parallel dazu verschärfen Inflation, Fachkräftemangel und steigende Energiepreise die ökonomische Lage der systemrelevanten Akteure im Gesundheitswesen – allen voran der Apotheken und Großhändler.

Neuss ließ keinen Zweifel daran, dass die Sanacorp in dieser Situation Verantwortung übernehmen wolle. Doch Verantwortung lasse sich nicht von einem Akteur allein schultern, wenn das regulatorische Umfeld nicht mitwächst. Während die Bundesregierung mit dem Koalitionsvertrag erste Schritte hin zu einer verbesserten Apothekenvergütung unternehme, bleibe die Finanzierung vage und der politische Fokus verschoben. Statt gezielter Investitionen in Versorgungssicherheit dominierten Rüstungsausgaben, infrastrukturelle Großprojekte und klimapolitische Initiativen den Haushalt. Neuss betonte, dass die Gründe für diese Schwerpunktsetzungen nachvollziehbar seien – dennoch dürfe die Arzneimittelversorgung nicht zum haushaltspolitischen Restrisiko verkommen.

Besonders kritisch bewertete Neuss die politische Ausblendung des Großhandels. Trotz der enorm gestiegenen Anforderungen an Logistik, Temperaturüberwachung, BtM-Verwaltung und Dokumentation finde sich im Koalitionsvertrag kein einziges Wort zu einer Anpassung der Großhandelsvergütung. Der gesetzliche Margendeckel lasse seit Jahren keine Dynamisierung zu, obwohl sich die Kostenstruktur grundlegend verändert habe. Von Tariflohnerhöhungen über gestiegene Finanzierungskosten bis hin zu energetischen Investitionen in Lagerhäuser – das wirtschaftliche Fundament bröckele. „Die Folge ist logisch: Das System droht zu kippen“, warnte Neuss eindringlich.

Damit verbunden ist auch eine Warnung vor Reformen, die auf den ersten Blick entlastend erscheinen, tatsächlich aber Verwerfungen verschärfen. Das vom Bundesgerichtshof bestätigte Skontoverbot habe der Sanacorp zwar kurzfristig Mehreinnahmen verschafft, diese seien aber reinvestiert worden – etwa in digitale Infrastruktur und Energieeffizienz. Die im Koalitionsvertrag angedeutete Rücknahme dieser Regelung könnte einzelne Apotheken kurzfristig entlasten, unterlaufe aber das Ziel einer nachhaltigen Stabilisierung der Versorgungskette. „Was den Apotheken hilft, darf den Großhandel nicht zerstören“, formulierte Neuss und verwies auf das Prinzip wirtschaftlicher Kohärenz: Versorgungssicherheit sei ein Verbundsystem – kein Nullsummenspiel.

Zudem erinnerte Neuss an die Rolle des Gesetzgebers. Es sei nicht Aufgabe des Großhandels, durch Sonderkonditionen strukturelle Defizite der Apothekenfinanzierung zu kompensieren – so die klare Aussage des BGH. Vielmehr müsse die Politik ein tragfähiges Vergütungssystem schaffen, das alle Glieder der Kette angemessen berücksichtigt. Der Großhandel habe jahrzehntelang in Infrastruktur investiert, Kühlketten zuverlässig gesichert und BtM-Sicherheit gewährleistet. Dass diese Leistungen heute nicht mehr kostendeckend abgebildet werden könnten, sei Ausdruck einer dysfunktionalen Regulierung.

Neuss' Ausführungen mündeten in eine präzise Kritik an der Marktverzerrung durch ausländische Versandhändler. Diese könnten sich – oft ohne Kontrolle – auf lukrative Segmente konzentrieren, während Apotheken vor Ort auch unrentable Leistungen wie Nacht- und Notdienste, individuelle Rezepturen und persönliche Beratung sicherstellten. Die Mischkalkulation, auf die Apotheken angewiesen seien, werde durch die „Cherrypicking“-Strategie renditeorientierter Versender zunehmend ausgehöhlt. Besonders alarmierend sei, dass kühlkettenpflichtige Arzneimittel über Versandwege transportiert würden, ohne dass behördliche Temperaturkontrollen entlang der gesamten Kette stattfinden. „Das ist nicht nur ein unfairer Wettbewerb – das ist ein konkretes Risiko für die Patientensicherheit“, so Neuss.

Trotz der Aufnahme der Thematik in den Koalitionsvertrag sei bisher keine Kontrollmaßnahme umgesetzt worden. Für Neuss ist klar: Entweder müsse der Staat die Einhaltung deutscher Sicherheitsstandards für alle Marktteilnehmer konsequent kontrollieren – oder den Versand solcher Präparate verbieten. In vielen EU-Ländern sei letzteres längst Realität. Dass sich Deutschland hier auf einem Sonderweg befinde, schade nicht nur der Apothekenstruktur, sondern gefährde auch das Vertrauen in die Arzneimittelsicherheit insgesamt.

Abschließend betonte Neuss die Rolle der Sanacorp als genossenschaftlicher Akteur. Ziel sei nicht Gewinnmaximierung, sondern die Sicherung der Versorgung und wirtschaftlichen Stabilität der Mitgliedsapotheken. Doch auch eine Genossenschaft könne ihre Funktion nur erfüllen, wenn sie selbst wirtschaftlich gesund bleibe. „Wir stehen an einem Wendepunkt“, so Neuss. „Wenn die Politik nicht endlich bereit ist, systemische Verantwortung zu übernehmen, werden sich die Brüche in der Arzneimittelversorgung weiter vertiefen – mit Folgen, die sich nicht mehr politisch verwalten lassen.“

 

Kleine Zeichen, große Gefahr, kluge Reaktion

Was Kinderärzte sofort alarmiert, worauf Apotheken achten müssen, wie Red Flags Leben retten können

Nicht jedes fiebernde Kind gehört sofort in die Notaufnahme – doch bei bestimmten Symptomen kann ein Zögern gefährlich sein. Dr. Nibras Naami, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, hat auf der Interpharm in Stuttgart eine klare Botschaft formuliert: Wer sogenannte Red Flags in der Pädiatrie ignoriert, riskiert Verzögerungen mit möglicherweise dramatischen Folgen. Der Podcaster von „Hand, Fuß, Mund“ erinnerte das Fachpublikum daran, dass es nicht nur um medizinisches Wissen geht, sondern um Haltung, Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, das Wesentliche vom Harmlosen zu unterscheiden.

Die ersten kritischen Marker betreffen Neugeborene. Fieber über 38,5 °C bei Säuglingen unter 28 Tagen ist nicht irgendein Infekt – es ist ein Notfall. Die Wahrscheinlichkeit für schwerwiegende bakterielle Infektionen ist so hoch, dass in diesem Alter selbst banale Infekte sepsismimisch verlaufen können. Naami betonte: „Es darf keine Schwelle der Bagatellisierung geben.“ Der Sprung von einem vermeintlich stabilen Zustand in ein septisches Bild sei oft kurz – und irreversibel. Ebenso sei eine hypotherme Körpertemperatur unter 36,0 °C ein klares Warnsignal.

Ein zweiter Red-Flag-Komplex betrifft das sogenannte nüchterne Erbrechen: Kinder, die ohne vorherige Nahrungsaufnahme oder spezifische Reize erbrechen, müssen engmaschig beobachtet und ärztlich vorgestellt werden. Ursache können seltene, aber gefährliche Stoffwechselerkrankungen sein, etwa eine organische Azidurie oder ein Defekt der Beta-Oxidation. Diese Störungen manifestieren sich oft erstmals in banalen Krankheitssituationen – und entgleisen bei falscher Deutung rasch in lebensbedrohliche Krisen. Die zentrale Herausforderung: Apotheken und medizinisches Personal müssen wissen, wann Routinewissen nicht mehr ausreicht und spezielle Stoffwechselzentren kontaktiert werden müssen.

Ein drittes Alarmsignal betrifft die sogenannte Kussmaul’sche Atmung – eine vertiefte, rhythmisch langsame Atmung, wie sie etwa bei einer diabetischen Ketoazidose auftreten kann. Naami hob hervor, dass insbesondere in der Frühphase eines Diabetes Typ 1 das Risiko für diese Form der metabolischen Entgleisung unterschätzt wird. Kinder mit starker Mundtrockenheit, auffälliger Atemtiefe, Azetongeruch oder zunehmender Lethargie sollten nicht mehr in hausärztlicher Betreuung verbleiben, sondern unverzüglich pädiatrisch stationär versorgt werden. Derzeit beobachten Kinderärzt:innen wiederholt, dass Eltern mit leichten Symptomen aus ärztlichen oder pharmazeutischen Praxen beruhigt nach Hause geschickt werden – mitunter ein fataler Fehler.

Für Apothekenpersonal ergibt sich daraus eine doppelte Verantwortung: Erstens als niedrigschwellige Anlaufstelle für elterliche Unsicherheit – und zweitens als Filterinstanz für potenziell schwerwiegende Fälle. In diesem Kontext sind Schulungen zur Erkennung von Red Flags ebenso relevant wie klare Entscheidungsbäume im Botendienst oder bei Beratungen im Nachtdienst. Die interprofessionelle Kommunikation zwischen Apotheken, Notdiensten und Kinderärzten ist dabei kein Zusatz, sondern Voraussetzung für patientennahe Sicherheit.

Dr. Naami unterstrich, dass die Red-Flag-Thematik auch eine ethische Dimension habe: Es gehe nicht nur um medizinische Präzision, sondern um die Fähigkeit, sich an der richtigen Stelle nicht irren zu dürfen. „Wir brauchen in der Pädiatrie weniger Abwarten und mehr entschlossenes Handeln – mit dem Mut, im Zweifel lieber einmal zu viel als zu wenig zu alarmieren.“ In einer Zeit, in der Kinderkliniken unter Druck stehen und hausärztliche Strukturen vielerorts ausgedünnt sind, kommt der frühen Einschätzung und Weichenstellung durch Vor-Ort-Strukturen eine zentrale Rolle zu – Apotheken eingeschlossen.

 

Impuls wird Pathologie, Kontrolle wird Risiko, Therapie wird Systemfrage

Wie Neurobiologie, Arzneimittel und Pflegeinterventionen Aggression formen, welche Behandlungsstrategien Wirkung entfalten und warum Demenz eine ethische Gratwanderung verlangt

Aggression ist kein Zufall. Sie ist Ausdruck eines Spannungsfelds aus Biologie, Erfahrung, Umwelt und Situation – und stellt damit nicht nur für medizinische Systeme, sondern auch für Gesellschaften eine Herausforderung dar. Dass auch Apothekenteams zunehmend mit aggressivem Verhalten konfrontiert sind, zeigt: Die Frontlinien verlaufen längst nicht mehr nur in psychiatrischen Einrichtungen oder Notaufnahmen. Mit wachsendem Druck, sozialer Fragmentierung und gestörtem Vertrauen ins Gesundheitssystem treten Aggression und Gewalt immer häufiger dort auf, wo eigentlich Hilfe gesucht wird. Die neurobiologischen Grundlagen dieses Verhaltens sind komplex – und therapeutisch nur schwer steuerbar.

Im Zentrum der Aggressionsforschung steht die Amygdala, deren Überaktivierung in Verbindung mit verminderter Kontrolle durch den präfrontalen Cortex ein neurobiologisches Rezept für Impulsdurchbrüche liefert. Ein niedriger Serotoninspiegel, verstärkte dopaminerge Aktivität oder erhöhter Noradrenalin-Ausstoß wirken wie Brandbeschleuniger. Testosteron kann, besonders bei gleichzeitig niedrigem Cortisolspiegel, zur Risikopotenzierung beitragen. Doch nicht alle Formen von Aggression lassen sich pathologisieren – erst das Zusammenspiel mit sozialen, situativen und individuellen Faktoren bestimmt, ob Verhalten eskaliert oder bewältigt wird.

In medizinischen Kontexten entstehen aggressive Reaktionen häufig durch Angst, Unverständnis oder Überforderung. Was auf Therapeuten wie Kontrollverlust wirkt, kann für Patienten der Versuch sein, Autonomie zurückzugewinnen. Gerade in der Pflege sind Übergriffe häufig – nicht aus Bosheit, sondern aus innerer Not. Der Begriff des „herausfordernden Verhaltens“ verdeutlicht, dass nicht der Mensch das Problem ist, sondern das Zusammenspiel seiner Einschränkungen mit der Umwelt. Besonders Menschen mit Demenz oder geistiger Behinderung zeigen oft Reaktionen, die Ausdruck von Schmerz, Reizüberflutung oder Missverständnissen sind.

Die pharmakologische Behandlung aggressiven Verhaltens ist keine einfache Antwort, sondern eine Gratwanderung zwischen Wirksamkeit und Nebenwirkung, Kontrolle und Ethik. Während SSRI nur begrenzt helfen, zeigen unspezifische Antipsychotika oft stärkere Effekte – allerdings um den Preis schwerer Nebenwirkungen. Benzodiazepine wirken schnell, können aber paradoxe Reaktionen auslösen, die Aggression verstärken. Die Literatur bleibt zurückhaltend: randomisierte Studien fehlen, viele Empfehlungen basieren auf Praxisberichten, retrospektiven Auswertungen oder Expertenerfahrung. Therapiealgorithmen existieren, doch sie ersetzen nicht die klinische Einschätzung im Einzelfall.

Bei Demenzpatienten zeigt sich die ganze Dilemma-Architektur medikamentöser Intervention: Die Zulassung von Risperidon zur Kurzzeitbehandlung bei anhaltender Aggression ist an enge Indikationsgrenzen und strikte Kontrolle gebunden. Die Mortalität steigt unter Antipsychotika signifikant – eine Tatsache, die in der Versorgungspraxis häufig verdrängt wird. Auch bei Menschen mit geistiger Behinderung ist die Datenlage schwach. Studien aus der Kinderpsychiatrie lassen sich nicht ohne Weiteres übertragen, pharmakologische Strategien bleiben oft experimentell und symptomorientiert.

Stattdessen fordern Experten ein Umdenken: weniger pharmakologische Suppression, mehr individualisierte nicht-medikamentöse Maßnahmen. Eine stabile Umgebung, empathischer Umgang, körperliche Aktivierung, Erinnerungspflege und klare Tagesstruktur haben oft mehr Einfluss als jedes Neuroleptikum. Gerade in Langzeitbetreuung und geriatrischer Versorgung bedeutet dies: eine Rückbesinnung auf das therapeutische Milieu als Wirkfaktor. Doch auch dieser Weg verlangt Ressourcen – personell, organisatorisch, politisch. Ohne Anerkennung dieser Realitäten bleibt das aggressive Verhalten nicht nur eine klinische, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforderung.

Die Verfügbarkeit medikamentöser Optionen wie Clozapin, Asenapin oder auch inhalativem Loxapin eröffnet zwar neue Wege, doch ihre Anwendung ist eng begrenzt, sei es durch Interaktionsrisiken, Nebenwirkungen oder den erforderlichen Kooperationsgrad der Patienten. Die Hoffnung auf einfache Lösungen trügt. Vielmehr verlangt der Umgang mit Aggression ein interdisziplinäres Denken, das Neurobiologie, Pflegewissenschaft, Ethik und Sozialmedizin zusammenführt – nicht zuletzt auch in Apotheken, die längst zum Brennpunkt patientennaher Krisenkommunikation geworden sind.

 

Erstattung bleibt ausgeschlossen, Gesundheitskosten steigen, Industrie drängt auf Zulassung

Warum Wegovy als Lifestyle-Produkt gilt, Adipositas trotzdem ein Gesundheitsproblem bleibt und Pharmahersteller politische Signale nutzen

Der Wunsch, mit einer Spritze Gewicht zu verlieren, trifft auf die Grenzen der gesetzlichen Krankenversicherung. Das Sozialgericht Mainz hat die Ablehnung der Kostenübernahme für das Medikament Wegovy® bestätigt und damit klargestellt: Abnehmpräparate, selbst wenn sie medizinisch wirksam sind, gelten nach derzeitiger Rechtslage als Lifestyle-Produkte – und sind damit von der Erstattungspflicht ausgeschlossen. Die klagende Versicherte hatte argumentiert, das Medikament diene ihrer Gesundheit, nicht der Ästhetik. Doch das Gericht sah das anders. Der gesundheitliche Nutzen sei nicht schwerwiegend genug, um die gesetzliche Ausschlussregelung zu umgehen. Für eine Leistungspflicht fehle es – so das Urteil – an einer lebensbedrohlichen oder vergleichbar schwerwiegenden Erkrankung. Die Richter stützten sich dabei auf die geltenden Maßgaben des Fünften Sozialgesetzbuches, in dem bestimmte Arzneimittelgruppen explizit von der Versorgung ausgeschlossen sind, selbst wenn sie medizinisch anerkannt wirken.

Diese Entscheidung folgt einer klaren Linie der Sozialgerichtsbarkeit, die bislang keinen Interpretationsspielraum für eine differenzierte Betrachtung von Adipositas zulässt. Dass Übergewicht Folgekrankheiten wie Diabetes, Hypertonie oder Herzinsuffizienz begünstigen kann, ändere an der Klassifikation als Lifestyle-Anwendung derzeit nichts. Auch der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hatte mehrfach betont, dass es keine Sonderregel für Wegovy oder ähnliche Medikamente wie Mounjaro® geben werde. Selbst bei wiederholten Vorstößen aus der Industrie, Adipositas neu als chronische Krankheit einzustufen, blieb der G-BA bei seiner restriktiven Haltung.

Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) schloss sich dieser Linie zuletzt ausdrücklich an. Auf Nachfrage verwies ein Sprecher darauf, dass die Regelung bewusst eingeführt worden sei, um die Solidargemeinschaft vor nicht notstandsbedingten Kosten zu schützen. Im Klartext: Wer aus eigener Entscheidung zu viel wiegt und dann ein Abnehmmittel nutzen möchte, muss dies selbst bezahlen – auch wenn der Gewichtsverlust das Risiko von Sekundärerkrankungen senkt.

International zeichnet sich jedoch ein anderer Trend ab. In den USA hatte Präsident Joe Biden 2023 angekündigt, dass bestimmte Abnehmpräparate unter bestimmten Voraussetzungen ab 2026 Teil der staatlichen Versorgung für Risikogruppen werden sollen – als Maßnahme zur Senkung künftiger Gesundheitskosten. Auch der britische NHS prüft Modelle zur flächendeckenden Bereitstellung von Wegovy für adipöse Patientinnen und Patienten. Anders als in Deutschland wird dort stärker betont, dass Adipositas eine medizinische Herausforderung und keine bloße Frage des Lebensstils sei.

In Deutschland hingegen beobachten Krankenkassen und Verbände die Debatte mit Skepsis – auch wegen der wirtschaftlichen Dynamik dahinter. Denn der Markt für GLP-1-Rezeptoragonisten wächst rasant. Novo Nordisk und Eli Lilly erzielen mit Wegovy® und Mounjaro® Milliardengewinne. Pharmaunternehmen betonen inzwischen offensiv, dass sie im Austausch mit deutschen Behörden stehen. Ein Sprecher von Eli Lilly ließ verlauten, man befinde sich „in gutem Dialog mit der Bundesregierung hinsichtlich der Erstattungsfähigkeit für Adipositas-Medikamente“. Genaue Ergebnisse gibt es jedoch nicht.

Dass diese Gespräche überhaupt stattfinden, verweist auf die Spannung zwischen medizinischer Notwendigkeit und politischer Abgrenzung. Die gesetzlichen Kassen bleiben vorerst bei der Linie, dass die sogenannte Lifestyle-Regel bindend sei. Ein Sprecher eines großen Versicherers unterstrich dies im März erneut: „Der gesetzliche Ausschluss ist für uns maßgebend.“ Die Folge: Auch wenn Wegovy und Mounjaro medizinisch wirken, bleiben sie in Deutschland vorerst Privatangelegenheit – mit allen gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen. Denn während auf internationaler Ebene längst in großen Linien über Prävention und Frühintervention gesprochen wird, hält das deutsche System weiter an einer statischen Definition von Notwendigkeit fest. Das dürfte nicht nur gesundheitspolitische, sondern auch versorgungsethische Debatten verschärfen.

 

Grenzen der Selbstverwirklichung, Maßstäbe des Verschuldens, Risiken des Körperschmucks

Warum Tattoos den Anspruch auf Lohn kosten können, wann Gerichte Eigenverantwortung betonen und wie Arbeitsrecht zur Gesundheitsfrage wird

Die Vorstellung, Selbstbestimmung über den eigenen Körper sei durchweg privat und ohne rechtliche Konsequenzen, endet häufig dort, wo Arbeitsrecht, Lohnanspruch und Gesundheitsrisiko aufeinandertreffen. Das zeigt ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein, das einer Pflegehilfskraft nach entzündungsbedingter Krankschreibung die Entgeltfortzahlung verweigert sieht – mit weitreichenden Implikationen für die Abgrenzung zwischen selbstgewählten Gesundheitsrisiken und sozialrechtlicher Absicherung. Denn die Klägerin hatte sich am Unterarm ein Tattoo stechen lassen, woraufhin sich die Hautstelle entzündete. Die Arbeitsunfähigkeit wurde ärztlich bescheinigt, doch die Arbeitgeberin stellte die Lohnfortzahlung ein – mit dem Argument, das Risiko sei selbst gewählt, die daraus resultierende Erkrankung damit selbst verschuldet. Das Arbeitsgericht Flensburg gab ihr recht, nun hat auch die nächste Instanz entschieden: Der Gesundheitsschutz des Arbeitgebers endet dort, wo individuelle Entscheidungen gegen das eigene Gesundheitsinteresse getroffen werden.

Im Urteil heißt es ausdrücklich, dass Tätowierungen eine bewusste Körperverletzung darstellten – wenn auch mit Einwilligung –, und daraus folgende Komplikationen keine unvorhersehbaren Zufälle seien. Das LAG verweist auf medizinisch bekannte Wahrscheinlichkeiten für Infektionen zwischen einem und fünf Prozent und konstatiert, dass ein solches Risiko nicht dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen sei. Es sei daher kein Fall von "arbeitsunabhängiger Erkrankung", sondern ein Fall bewusster Eigenverantwortung mit Folgen für den Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Wer sich tätowieren lässt, muss mit typischen Folgeerscheinungen rechnen – und kann den Arbeitgeber nicht für deren ökonomische Folgen haftbar machen.

Die Argumentation der Klägerin, die zwischen Tattooprozess und Infektion zeitlich und rechtlich zu trennen versuchte, hielt das Gericht für nicht überzeugend. Dass zwischen Impuls, Handlung und Komplikation ein erkennbarer Kausalverlauf liegt, begründet laut Gericht kein Zufallsereignis, sondern ein bewusst eingegangenes Risiko. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Verschiebung des Krankheitsbegriffs im arbeitsrechtlichen Kontext: Nicht mehr allein die Diagnose zählt, sondern auch ihre Genese – und ob diese als fremdbestimmt oder selbstverschuldet bewertet wird. Der Maßstab für Selbstverschulden wird damit ausgeweitet – auf Lebensbereiche, die bisher eher als privat galten.

Besonders für Berufsgruppen mit körpernahen oder hygienerelevanten Tätigkeiten könnte das Urteil eine rechtliche Wegmarke setzen. Denn dort, wo körperliche Integrität nicht nur Selbstzweck, sondern Bestandteil professioneller Funktionsfähigkeit ist, erhält die Frage nach der Herkunft einer Erkrankung arbeitsrechtlich eine neue Dimension. Auch künftige Entscheidungen etwa zu kosmetischen Operationen, Freizeitrisiken oder medizinisch nicht indizierten Eingriffen könnten sich an diesem Urteil orientieren. Der Verzicht auf Lohnfortzahlung bei selbstverschuldeter Arbeitsunfähigkeit wird damit zur arbeitsrechtlichen Spiegelung eines gesellschaftlichen Trends: Selbstbestimmung, ja – aber mit voller Haftung.

 

Tiefschlaf stärkt Einsicht, Forschung beleuchtet Denkpausen, Psychologie entdeckt Nickerchen als Strategie

Warum Sekunden im Stadium-2-Schlaf komplexe Aufgaben knacken, ein Möbelhaussessel zur Wissenschaft beiträgt und Lernprozesse sich im Dösen ordnen

Es braucht keinen Zaubertrick, sondern lediglich eine halbe Stunde Lichtpause im Halbdunkel – und die Wahrscheinlichkeit, dass ein festgefahrener Gedanke sich entwirrt, steigt deutlich. Genau das zeigen neue Ergebnisse aus Hamburg, die nicht nur die Wirkung von Nickerchen auf die Problemlösungsfähigkeit belegen, sondern auch die Bedingungen dieses sogenannten „kognitiven Umschaltmoments“ differenziert untersuchen. Der Clou: Nicht jeder Schlaf ist gleich wirksam. Erst wenn der Mensch den sogenannten Stadium-2-Schlaf erreicht – jenen Abschnitt, der durch das Eindringen tieferer Theta-Wellen gekennzeichnet ist –, scheint das Gehirn zu jener Reorganisation fähig, die einen „Aha-Moment“ auslöst.

Die Hamburger Studie um die Entwicklungspsychologinnen Anika Löwe und Marit Petzka, veröffentlicht im Fachjournal PLOS Biology, zeichnet sich nicht nur durch statistisch saubere Methodik aus, sondern auch durch originellen Pragmatismus: Die Sessel, in denen die Proband:innen zum Dösen gebracht wurden, stammen aus einem Möbelhaus, in dem zuvor aufwendig der bestmögliche „Wissenschaftssitz“ ausgewählt worden war. Der Humor dieser Vorbereitung steht im Kontrast zur Ernsthaftigkeit der Befunde: 86 Prozent derjenigen, die in der Testpause in den tieferen Schlaf glitten, erkannten anschließend einen zuvor verborgenen Regelzusammenhang – in diesem Fall eine Farb-Richtungs-Korrelation in einem Punktetest, den zuvor nur die wenigsten durchschauten.

Die Versuchsanordnung war dabei schlicht, aber wirksam: 90 Testpersonen, keine Koffeinzufuhr, 30 Prozent Schlafmangel in der Vornacht, standardisierte visuelle Reize auf dem Bildschirm. Die Hauptaufgabe: Erkennen, wohin sich die Mehrheit der Punkte auf dem Monitor bewegt – ein Muster, das sich subtil über die Farbcodierung erschließt. Nach dem ersten Durchlauf folgte der Schlafimpuls. Die Hirnaktivität wurde mittels Elektroden gemessen, der Raum abgedunkelt – und nach exakt 20 Minuten startete die zweite Testrunde. Das Ergebnis: Je tiefer der Schlaf, desto stärker das kognitive Entdecken.

Dabei ist nicht allein die Anzahl der Schlafminuten ausschlaggebend, sondern der Eintritt in ein bestimmtes Stadium. Wer nur oberflächlich – also in Stadium 1 – döste, zeigte mit 64 Prozent eine deutlich niedrigere Erkenntnisrate. Jene, die wach blieben, lagen mit 55 Prozent auf dem Niveau der Kontrollgruppen ohne Pause. Diese Differenz betont, was moderne Schlafforschung zunehmend zeigt: Schlaf ist keine bloße Pause vom Denken, sondern aktiver Bestandteil des Denkprozesses selbst.

Der Freiburger Schlafexperte Dieter Riemann, langjährig in der DGSM aktiv, ordnet die Arbeit als „seltenes Fenster“ in ein ansonsten kaum erforschbares Phänomen ein. Heureka-Momente sind schwer zu greifen – doch die Hamburger Studie gelingt der Nachweis, dass diese Geistesblitze planbar gefördert werden können. Zwar sei Lernen im Schlaf ein „Wunschtraum“, so Riemann, doch das selektive Speichern und Neuordnen von Informationen in kurzer Schlafzeit sei ein reales, wissenschaftlich greifbares Phänomen – eine Art systemischer Frühjahrsputz des Bewusstseins.

Vor allem im Bildungskontext, aber auch in therapeutischen oder kreativen Settings könnten sich neue Anwendungen ergeben. Ein gezielt eingesetzter Powernap – so der implizite Vorschlag – ist nicht Faulheit, sondern kognitive Strategie. Während man schläft, arbeitet das Gehirn unbemerkt an der Umsortierung von Wissen. Gedankenblitze sind damit weniger magisch als biologisch bedingt. Eine gute Nachricht für all jene, die sich bislang dafür entschuldigten, am Schreibtisch kurz die Augen zu schließen.

 

Glosse: Vertrag ersetzt Versorgung, Nähe wird Luxus, Gesundheit folgt GPS

Wie die IKK classic Millionen Patientinnen umlenkt, Apotheken marginalisiert und Hilfsmittel zur Ortslotterie macht

Es beginnt mit einem Brief. Einem dieser Schreiben, die wie Behördenpost aussehen, aber das Leben einer chronisch kranken Person schneller auf den Kopf stellen als jedes Laborergebnis. Die IKK classic informiert: Ab dem 1. Juli gibt es keine pauschale Hilfsmittelversorgung mehr über Apotheken mit Kassenrezept. Nur wer einen exklusiven Einzelvertrag mit der Kasse hat, darf noch liefern. Was für die einen wie eine Formalie klingt, ist für andere der Anfang einer Odyssee.

Denn plötzlich zählen nicht mehr Nähe, Beratung, Fachkenntnis oder persönliche Betreuung. Es zählt nur noch, ob die Apotheke in der Liste steht – oder draußen bleibt. Das neue Versorgungssystem kennt keine Umwege, keine Ausnahmen und keine Kulanz. Wer versorgt, wurde ausgewählt. Wer nicht auf der Liste steht, ist abgewählt. Das ist keine Modernisierung, das ist ein castingbasiertes Gesundheitssystem. Wer Glück hat, wohnt zufällig in der Nähe einer Vertragsapotheke. Wer Pech hat, braucht ein Auto, einen Tag Urlaub oder ein stabiles Nervenkostüm.

Inmitten dieses Strukturwechsels wird deutlich: Die Verwaltung übernimmt die Rolle der Versorgung, und der Patient wird zum Projektleiter seiner eigenen Gesundbleib-Logistik. Die IKK classic redet von Effizienz, meint aber Verlagerung. Der Anspruch, wirtschaftlich zu agieren, wird zur Verpflichtung, Verantwortung abzugeben. Apothekerinnen werden selektiert, nicht mehr konsultiert. Patienten werden weitergeleitet, nicht mehr begleitet. Die persönliche Beziehung zwischen Versorgung und Versorgten bricht auf, und was bleibt, ist eine Liste, ein QR-Code und eine Telefonnummer mit Warteschleifenmusik.

Die Realität sieht so aus: Eine ältere Diabetikerin steht in ihrer Stamm-Apotheke und bekommt keinen Insulinpen mehr, weil der Vertrag nicht unterschrieben wurde. Eine junge Mutter wird beim Abholen der Milchpumpe an eine Vertragsapotheke 120 Kilometer weiter verwiesen. Eine COPD-Patientin ruft zwölf Apotheken an, bis sie jemanden findet, der „vielleicht nächste Woche liefern kann“. Das System beruft sich auf Struktur, erzeugt aber Unsicherheit. Es verspricht Gleichbehandlung, praktiziert jedoch Fragmentierung.

Und während die Hilfsmittelversorgung so zum Kontrollmechanismus wird, treiben auch andere Entwicklungen die Apothekenlandschaft in neue Spannungsfelder. Ozempic erscheint nun als 8-Wochen-Pen, was die Lagerhaltung komplexer, aber nicht rentabler macht. Apotheken müssen ihre Websites bis 28. Juni barrierefrei gestalten, was die Monatsgebühr bei Apotheken.de fast verdoppelt – ein Vorgang, der Digitalisierung eher bestraft als erleichtert. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf zwingt die Apothekerkammer Nordrhein zur Rückzahlung nicht gerechtfertigter Rücklagen – ein symbolisches Korrektiv für einen über Jahre aufgebauten Beitragsüberhang, der mit keiner Reformdebatte abgeglichen wurde. Und schließlich signalisiert der aktuelle Bundeshaushalt eine klare politische Richtung: Apotheken sollen mit weniger auskommen.

Der Blick auf die Versorgungspolitik dieser Woche zeigt, wie sich das Kräfteverhältnis verschiebt. Die Krankenkasse wird zur Dirigentin einer Orchestrierung ohne Noten. Die Apotheken sollen mitspielen, aber nicht mitbestimmen. Die Patientinnen und Patienten sollen verstehen, aber nichts mehr erwarten. Das Wort „Vertrag“ ersetzt das Wort „Zugang“, und die Frage, ob jemand Hilfe bekommt, ist keine medizinische mehr, sondern eine topografische.

Was sich hier Bahn bricht, ist mehr als eine neue Regelung. Es ist der Abschied von einem System, das auf Vertrauen, Nähe und Erreichbarkeit basierte. An seine Stelle tritt eine bürokratische Landschaft mit Ausschlusskriterien, in der das Recht auf Versorgung durch die Koordinaten der Wohnadresse relativiert wird. Die IKK classic führt das Land in ein Gesundheitsmodell, das funktioniert – aber nur für diejenigen, die ins Raster fallen.

Von Engin Günder, Fachjournalist

 

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