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  • 31.05.2025 – Apotheken-Nachrichten von heute: Verantwortung sichern, Versorgung strukturieren, Strategien neu denken
    31.05.2025 – Apotheken-Nachrichten von heute: Verantwortung sichern, Versorgung strukturieren, Strategien neu denken
    APOTHEKE | Medienspiegel & Presse | Apotheken zwischen Haftungsdruck, Führungsfragen und Versorgungsverantwortung: Strategien für Kühlgut, Zielvereinbarungen und Kongressw...

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ApoRisk® Nachrichten - APOTHEKE:


APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |

Apotheken-Nachrichten von heute: Verantwortung sichern, Versorgung strukturieren, Strategien neu denken

 

Wie Apotheken Risiken bei Kühlgut, Personalführung und Patientenversorgung managen, Zielvereinbarungen rechtskonform gestalten und Kongressimpulse praktisch umsetzen

Kühlgutverlust, juristische Fallstricke und ein wachsender Anspruch an pharmazeutische Handlungskompetenz stellen Apotheken zunehmend vor strategische Entscheidungen: Wie sichert man temperaturempfindliche Arzneimittel gegen Stromausfall, Technikversagen oder Bedienfehler ab? Wie formuliert man Zielvereinbarungen, die motivieren statt frustrieren – und zugleich arbeitsrechtlich bestehen? Wie lassen sich Fortbildung und Versorgung verzahnen, wenn Kongressimpulse wie beim Pharmacon Meran neue klinische Horizonte eröffnen, aber zugleich regulatorische und betriebliche Grenzen aufzeigen? Inmitten politischer Irritationen um das Abtreibungsrecht, gescheiterte Versorgungsverträge wie bei der IKK classic und wachsender Präventionsdruck etwa durch Hepatitis-Impfung oder Ertrinkungsgefahren im Sommer zeigt sich: Apotheken müssen mehr denn je Führungsorte sein – entschlossen, lernfähig, abgesichert.

 

Temperaturverlust, Vermögensgefahr, Versorgungsverantwortung

Wie Apotheken Kühlschrankausfälle absichern, Verderbschäden begrenzen und durch kluge Strategien Haftungsrisiken vermeiden

Wenn in einer Apotheke der Kühlschrank streikt, geht es um weit mehr als Technik – es geht um Vertrauen, Versorgung und Vermögen. Temperaturempfindliche Arzneimittel sind nicht nur teuer, sondern auch potenziell lebenswichtig. Ein einziger Stromausfall, eine unbemerkte Türöffnung oder ein Defekt in der Kälteeinheit kann ausreichen, um ganze Chargen unbrauchbar zu machen. Was in der Praxis häufig als vermeidbares Betriebsrisiko eingestuft wird, ist in Wahrheit ein systemisches Schwachfeld mit erheblichen rechtlichen und wirtschaftlichen Implikationen – und zunehmend ein Prüfstein für die strategische Betriebsführung.

Denn die Realität ist deutlich: Die Lagerung temperatursensibler Arzneimittel wie Insuline, Impfstoffe oder bestimmte Biologika unterliegt strengen regulatorischen Anforderungen. Die Apothekenbetriebsordnung verpflichtet zu einer lückenlosen Qualitätssicherung – auch hinsichtlich Temperaturführung. Entgleist diese, haftet der Apothekenleiter. Und zwar nicht nur gegenüber der Kundschaft, sondern auch gegenüber Kassen, Aufsichtsbehörden und – im Falle eines Personenschadens – sogar strafrechtlich. Die Dimension solcher Szenarien ist den wenigsten in ihrer vollen Tiefe bewusst. Dabei reicht die Skala möglicher Schäden von der Retaxation der abgegebenen Präparate über den Reputationsverlust bis hin zur Existenzgefährdung bei wiederholtem oder großflächigem Verderb. Umso wichtiger ist ein präventiver Umgang mit genau diesen Szenarien.

Ein erster und oft unterschätzter Faktor ist die Wahl des richtigen Kühlsystems. Handelsübliche Haushaltskühlschränke sind weder normgerecht noch zuverlässig genug für pharmazeutische Lagerzwecke. Apotheken benötigen spezielle Medikamentenkühlschränke mit geprüfter Temperaturstabilität, fehlerresistenter Technik und dokumentationsfähiger Messtechnik. Viele dieser Modelle verfügen über redundante Alarm- und Schnittstellensysteme, die eine Fernüberwachung und Anbindung an zentrale Monitoring-Lösungen ermöglichen – etwa per WLAN, LAN oder Mobilfunk. Besonders bei Nachtzeiten oder Wochenenden ist dies entscheidend: Wenn kein Personal vor Ort ist, entscheidet die Alarmierungsarchitektur über Verlust oder Rettung der Ware.

Parallel zur Technik ist die organisatorische Dimension essenziell. Temperaturkontrollen müssen nicht nur täglich dokumentiert, sondern auch interpretiert werden. Abweichungen dürfen nicht als statistische Randerscheinungen hingenommen, sondern müssen analysiert und gegebenenfalls gemeldet werden. Ein klarer Notfallplan – mit definierten Abläufen zur Umlagerung, Rücksprache mit Lieferanten und Kommunikation mit Behörden – gehört in jedes Qualitätsmanagementsystem. In vielen Apotheken ist das zwar auf dem Papier geregelt, aber im Ernstfall fehlt oft das geübte Reaktionsmuster. Schulung und Routineeinsatz sind daher kein Luxus, sondern betriebliche Pflicht.

Hinzu kommt eine unterschätzte Versicherungslücke. Viele Inhalts- oder Elektronikversicherungen in Apotheken decken Kühlgutverluste nur unzureichend oder unter restriktiven Bedingungen. Beispielsweise wird ein Schaden nur dann reguliert, wenn er auf einen versicherten Sachverhalt – etwa einen Blitzeinschlag oder technischen Defekt – zurückzuführen ist. Stromausfälle durch Netzstörungen, menschliches Versagen oder unbemerkte Handhabungsfehler fallen häufig aus der Deckung. Die Lösung liegt in branchenspezifischen Versicherungspolicen mit expliziter Kühlschadenskomponente – inklusive Wertausgleich für temperaturempfindliche Medikamente. Doch auch hier gilt: Nur wer seine Lagerwerte sauber dokumentiert und regelmäßig prüft, kann im Schadensfall seine Ansprüche erfolgreich durchsetzen.

Blickt man in den betrieblichen Alltag, zeigt sich ein weiteres Problem: das Lager selbst. Übervolle Kühlschränke, nicht systematisch gekennzeichnete Chargen, fehlende Trennung zwischen OTC-Kühlware und hochpreisigen Arzneimitteln – all das erschwert die Reaktionsfähigkeit im Ernstfall. Wer etwa nach einem Stromausfall nicht lückenlos nachweisen kann, welche Präparate wie lange über Temperatur gelegen haben, verliert nicht nur den Anspruch auf Ersatz, sondern setzt auch das Wohl der Patienten aufs Spiel. Deshalb gilt: Weniger ist mehr. Ein klar strukturiertes, digital überwachtes Lagersystem mit nachvollziehbarer Wareneingangsdokumentation ist das Fundament jeder Kühlsicherheit. Ebenso wie die bewusste Entscheidung, nur tatsächlich benötigte Mengen temperaturempfindlicher Präparate vorzuhalten – das reduziert nicht nur das Verderbrisiko, sondern minimiert auch Kapitalbindung und Verlustrisiko.

Die betriebswirtschaftliche Perspektive verstärkt die Relevanz. Ein einziger Schadenfall – etwa durch einen defekten Sensor, der bei 9°C Kühlware für 18.000 Euro unbrauchbar macht – kann den Jahresgewinn einer Apotheke massiv beeinträchtigen. Noch schwerer wiegt der Vertrauensschaden, wenn Patienten über beschädigte Ware informiert oder Präparate zurückgerufen werden müssen. In einer Branche, deren Kapital vor allem aus persönlichem Vertrauen besteht, ist das Risiko nicht quantifizierbar. Und doch bleibt vielerorts der Eindruck, dass Kühlsicherheit ein Nebenthema sei – delegiert an eine studentische Aushilfe oder nachlässig auf Papier protokolliert.

Dabei gibt es längst Best-Practice-Modelle. Einige Apotheken nutzen kombinierte Systeme aus Cloud-Überwachung, Temperaturloggern mit App-Anbindung und automatisierter Benachrichtigung im Störfall. Andere arbeiten mit Nachbarschaftskooperationen, die im Notfall eine temporäre Umlagerung erlauben – etwa bei Stromausfall, Umbau oder Wartung. Wieder andere lagern besonders sensible Präparate in externen Kühlboxen mit Notstromversorgung. Entscheidend ist weniger die Technik als die Haltung: Wer Kühlgut ernst nimmt, schützt nicht nur seine Ware, sondern seine berufliche Integrität.

Denn am Ende geht es nicht nur um Betriebsführung, sondern um Verantwortung. Wer Medikamente lagert, lagert Vertrauen. Ein Versorgungsauftrag kann nicht aufrechterhalten werden, wenn die elementarsten Voraussetzungen – wie eine verlässliche Kühlung – nicht gegeben sind. In einer Zeit wachsender regulatorischer Kontrolle, zunehmender Arzneimittelpreise und sensibler Patientengruppen ist die sichere Lagerung mehr als ein Qualitätskriterium – sie ist ein Prüfstein für Professionalität.

Kühlsicherheit ist heute keine Zusatzoption, sondern ein Pflichtbestandteil nachhaltiger Apothekenführung. Wer jetzt nicht investiert – in Systeme, Prozesse, Menschen und Policen –, riskiert nicht nur Verluste, sondern das Fundament seiner Existenz. Was banal klingt, ist in Wirklichkeit eine der größten unternehmerischen Herausforderungen im pharmazeutischen Alltag.

 

Zielvereinbarungen brauchen Klarheit, Verbindlichkeit, Timing

Wie Arbeitgeber Bonusmodelle rechtssicher gestalten, Vertrauen sichern und arbeitsgerichtliche Risiken vermeiden

Zielvereinbarungen gehören zu den effektivsten und zugleich sensibelsten Mitteln der Mitarbeiterbindung und Leistungssteuerung in Apotheken – gerade in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheiten, tariflicher Dynamik und Fachkräftemangel. Wer Boni an individuelle oder betriebliche Zielerreichung koppelt, will nicht nur motivieren, sondern auch kalkulieren: Die Personalvergütung soll flexibel bleiben, aber planbar sein. Damit dieser Balanceakt gelingt, müssen Arbeitgeber insbesondere drei Grundsätze verstehen und beherzigen: rechtliche Verbindlichkeit, inhaltliche Zumutbarkeit und zeitliche Präzision.

Die Attraktivität von Zielvereinbarungen liegt auf der Hand: Apotheken, die Mitarbeitenden erfolgsabhängige Vergütungsbestandteile bieten, stärken deren unternehmerisches Denken, lenken Ressourcen in wirtschaftlich relevante Felder und schaffen mit verhältnismäßig geringem Aufwand einen Anreizrahmen, der gleichzeitig Engagement und Steuerbarkeit verspricht. Doch rechtlich stehen diese Vereinbarungen unter genauer Beobachtung. Der klassische Fehler: Ziele werden zu spät, einseitig oder gar nicht festgelegt – mit gravierenden Folgen. Denn der Anspruch auf den Bonus entfällt dann nicht automatisch. Im Gegenteil: In bestimmten Fällen drohen sogar Schadensersatzzahlungen.

Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu mit zwei aktuellen Entscheidungen neue Leitplanken gezogen, die insbesondere Apothekeninhaber beachten sollten, wenn sie Zielvereinbarungen implementieren oder fortschreiben. In seinem Urteil vom 3. Juli 2024 (10 AZR 171/23) rügte das Gericht die einseitige Zielvorgabe durch den Arbeitgeber, wenn die Verhandlungen zuvor gar nicht ernsthaft gesucht oder vorzeitig abgebrochen wurden. Der Knackpunkt: Wird die Möglichkeit der gemeinsamen Zieldefinition verwehrt, liegt laut BAG eine unangemessene Benachteiligung vor. Die Folge ist die Unwirksamkeit der Vereinbarung und unter Umständen ein direkter Anspruch des Mitarbeiters auf Ersatzleistung – unabhängig von tatsächlicher Zielerreichung.

In einer weiteren Entscheidung vom 19. Februar 2025 (10 AZR 57/24) wurde zusätzlich betont, dass Ziele nicht irgendwann, sondern rechtzeitig innerhalb der Zielperiode festgelegt werden müssen. Andernfalls entfällt der Anreizcharakter – und damit die Legitimationsbasis der Bonusverknüpfung. In dem verhandelten Fall hatte der Mitarbeiter seine Zielvorgaben erst gegen Ende der Zielperiode erhalten. Das Gericht stellte klar: Solche Versäumnisse fallen allein dem Arbeitgeber zur Last – auch dann, wenn der Mitarbeiter sich nicht aktiv um die Vereinbarung bemüht hat.

Für Apotheken ergibt sich daraus eine doppelte Herausforderung: Wer mit Zielvergütung arbeitet, muss den Prozess strukturiert, dokumentiert und transparent gestalten – von der ersten Verhandlungsbereitschaft bis zur konkreten Zielformulierung. Das beginnt mit einem ernsthaften Angebot zur Zielverhandlung. Es reicht nicht, dem Mitarbeiter eine Liste von Wunschleistungen zu übergeben. Vielmehr muss nachvollziehbar sein, dass die Ziele erreichbar, sachlich begründbar und betrieblich sinnvoll sind – etwa die Steigerung von OTC-Verkäufen, Durchführung von Impfungen, Implementierung neuer pharmazeutischer Dienstleistungen oder die Erschließung von Zusatzverkäufen bei Mikronährstoffen.

Zudem empfiehlt sich eine präzise schriftliche Dokumentation jeder Verhandlungsphase: Zeitpunkt, Inhalte, Argumente, ggf. Verweigerungsgründe. Nur so kann der Arbeitgeber im Streitfall belegen, dass er seiner Pflicht zur fairen Zielverhandlung nachgekommen ist – und nicht etwa den Prozess bewusst verschleppt oder unterlaufen hat.

Ein weiterer Kernpunkt ist die realistische Erreichbarkeit der Ziele. Was zunächst banal klingt, ist juristisch entscheidend: Werden Vorgaben gemacht, die objektiv nicht erfüllbar sind – etwa Umsatzziele in einem wirtschaftlich rückläufigen Markt ohne zusätzliche Maßnahmen oder Ressourcen – gelten sie als unangemessen. Auch hier droht im Zweifel die Unwirksamkeit der Vereinbarung. Apothekeninhaber sind daher gut beraten, realistische, betrieblich herleitbare und nachprüfbare Ziele zu wählen – nicht zuletzt, um das Vertrauensverhältnis zum Team nicht zu gefährden.

Neben der formalen Struktur darf der funktionale Kern nicht übersehen werden: Zielvereinbarungen sollen Mitarbeitende motivieren. Werden sie jedoch erst verspätet mitgeteilt, verlieren sie ihren steuernden Charakter. Späte Zielvorgaben sind daher nicht nur ineffektiv, sondern rechtlich angreifbar. Der Bonusanspruch lebt dann fort, auch wenn das Ziel nicht (mehr) erreichbar war – sofern der Arbeitgeber den Verzug zu vertreten hat.

Der Bonus als Vergütungsbestandteil ist damit kein einseitig steuerbares Instrument, sondern Teil eines rechtlichen Systems, das auf Transparenz, Fairness und Plausibilität beruht. Eine Zielvereinbarung, die als Druckmittel oder Disziplinierungsinstrument verstanden wird, läuft Gefahr, juristisch zu scheitern – und langfristig Vertrauen im Team zu verspielen.

Gerade Apotheken stehen derzeit unter massivem Druck: ökonomisch, personell, strukturell. Zielvereinbarungen können helfen, Ressourcen zu lenken, Motivation zu stärken und wirtschaftliche Zielgrößen operationalisierbar zu machen. Doch wer sie einsetzt, muss sie auch professionell managen – mit klarem Zeitrahmen, gerechter Beteiligung und dokumentierter Verhandlungsführung. Nur dann wird aus dem Bonus ein Vorteil – und nicht ein Risiko.

 

Wissen bewegen, Wandel gestalten, Wirkung entfalten

Wie der Pharmacon Meran Wissenschaft und Praxis zusammenführt, junge Kräfte mobilisiert und Zukunftsfragen der Offizin aufgreift

Wenn der Blick auf das Ganze neue Perspektiven eröffnet, wenn wissenschaftliche Erkenntnis zur praktischen Handlung wird und die Zukunft der Apotheken nicht nur gedacht, sondern diskutiert und gestaltet wird, dann ist Pharmacon – und der Kongress in Meran war genau das. Vom 25. bis 30. Mai 2025 verwandelte sich der Kursaal in eine Bühne für kluge Köpfe, für richtungsweisende Vorträge, für Begegnungen zwischen Generationen und Disziplinen. Unter dem Motto „Wissen, Wandel, Wirkung“ vereinte der 61. Fortbildungskongress erneut, was im Gesundheitswesen oft getrennt voneinander agiert: Wissenschaft und Versorgung, Forschung und Alltag, Systemperspektive und Einzelfall.

Der Pharmacon Meran bleibt nicht nur ein traditionsreicher Kongress, er ist ein Ort aktiver Professionalisierung, ein Kristallisationspunkt für zentrale Zukunftsfragen der Offizinpharmazie. Als Dr. Armin Hoffmann, Präsident der Bundesapothekerkammer, in seiner Eröffnungsrede die Apotheke als „gesundheitspolitische Infrastruktur“ beschrieb und von einem „Anker medizinischer Versorgung“ sprach, wurde deutlich, worum es in Meran tatsächlich ging: um die Verortung der Apothekerschaft im Gesundheitssystem der Zukunft. Die alte Dualität von Arzneimittelabgabe und Beratung greift zu kurz – gefragt ist ein heilberuflicher Anspruch, der über Rezeptpflichtigkeit hinaus reicht und neue Räume betritt: Prävention, Telemedizin, Impfversorgung, Klimakompetenz, Digitalisierung, Therapieunterstützung.

Diesen erweiterten Berufskern unterfütterte der Kongress mit vielfältigen Vorträgen, in denen der hohe wissenschaftliche Standard ebenso überzeugte wie die Relevanz für die tägliche Praxis. Besonders eindrucksvoll: der Eröffnungsvortrag zur modernen Alternsforschung, untermalt mit Musik der Rolling Stones – ein pointierter Einstieg in eine Woche, die weder akademisch abstrakt noch betulich konservativ wirkte, sondern eine Mischung aus Neugier, Erkenntnis und Gestaltungswillen entfaltete.

Dass Apotheken nicht mehr nur Orte pharmazeutischer Logistik sind, sondern soziale Schnittstellen, zeigte sich auch in der Programmstruktur. Partnersymposien mit Dr. Willmar Schwabe und Bausch & Lomb, der Ausbau des Ausstellungsbereichs und die intensive Beteiligung junger Pharmazeutinnen und Pharmazeuten machten deutlich: Der Pharmacon ist nicht nur Plattform, sondern Resonanzraum – für Innovationen wie das neue Wocheninsulin Insulin icodec (Awiqli®), das mit dem PZ-Innovationspreis ausgezeichnet wurde, ebenso wie für grundlegende Fragen zur Zukunft des Berufs.

Inmitten der politischen Debatten um Apothekenschließungen, Nachwuchsmangel und ökonomische Belastungen ist der Pharmacon Meran ein Gegenentwurf: Hier geht es nicht um Klage, sondern um Lösungsideen. Dass bis zu 45 Fortbildungspunkte gesammelt werden konnten, ist mehr als ein formaler Aspekt – es steht sinnbildlich für die Bereitschaft, den Beruf nicht nur auszuüben, sondern weiterzudenken. Metin Ergül, Geschäftsführer der Avoxa – Mediengruppe Deutscher Apotheker, brachte es auf den Punkt: Der Pharmacon ist „eine etablierte Größe, die Bewährtes erhält und mit neuen Formaten attraktive Impulse setzt.“

Dazu zählt auch die digitale Erweiterung: Wer nicht live vor Ort war, kann vom 4. Juni bis 4. August 2025 alle Vorträge on Demand abrufen – einzeln oder im Paket. Diese Hybridstruktur ermöglicht Teilnahme trotz Zeitdruck, Berufspflichten oder familiärer Bindungen – ein Schritt hin zu einer inklusiveren Fortbildungskultur.

Zum Abschluss luden BAK-Präsident Hoffmann und Vizepräsidentin Franziska Scharpf bereits zur Fortsetzung ein: Vom 18. bis 23. Januar 2026 in Schladming zum Thema „Volkskrankheiten“, vom 31. Mai bis 5. Juni 2026 wieder in Meran. Die Kontinuität des Formats unterstreicht, dass der Pharmacon nicht nur eine Veranstaltung, sondern ein fester Termin im Jahreslauf pharmazeutischer Weiterbildung ist – und ein Symbol dafür, dass die Offizinpharmazie inmitten aller Herausforderungen an sich glaubt.

Was bleibt, ist mehr als Fortbildung: Es ist ein Gefühl kollektiver Erneuerung, das aus Wissenschaft Handlung macht, aus Wissensvermittlung Dialog und aus Kongressbesuch Engagement. Wer in Meran war, kehrt nicht nur mit CME-Punkten zurück – sondern mit dem Impuls, die eigene Rolle im Gesundheitssystem aktiver zu definieren.

 

Keine Hilfsmittel, keine Lösung, kein Signal für Versorgungssicherheit

Wie das Scheitern des DAV-IKK-Vertrags Apotheken trifft, Einzelverträge zur Gefahr wird und Hilfsmittelversorgung zur Verhandlungsmasse verkommt

Es ist eine stille Zäsur mit lauter Konsequenzen: Zum 1. Juli 2025 endet die Hilfsmittelversorgung durch Apotheken zulasten der IKK classic – nicht, weil ein neuer Rahmenvertrag verabschiedet wurde, sondern weil es schlicht keinen mehr gibt. Die Gespräche zwischen dem Deutschen Apothekerverband (DAV) und der Krankenkasse sind gescheitert. Statt Kontinuität herrscht Leere. Statt Planbarkeit breitet sich Unsicherheit aus. Und statt einer einheitlichen Versorgung steuert das System auf eine Fragmentierung zu, die nicht nur bürokratisch aufwendig ist, sondern die flächendeckende Patientenversorgung gefährdet.

Was auf den ersten Blick wie ein branchenspezifischer Vertragskonflikt erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ein exemplarischer Fall für eine Systemlogik, die Versorgung planbar halten will, aber regelmäßig an ökonomischen Grenzverhandlungen scheitert. Die IKK classic, eine der großen gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, hat dem DAV nach dessen Angaben ein Angebot unterbreitet, das als »wirtschaftlich nicht tragfähig« zurückgewiesen wurde. Mit anderen Worten: Die Konditionen lagen unterhalb einer wirtschaftlich zu verantwortenden Schwelle, bei der Apotheken Hilfsmittel überhaupt noch ohne Verluste abgeben könnten. Die Verhandlungen wurden beendet, ohne einen neuen Vertrag. Dass diese Einigung ausbleibt, hat unmittelbare Folgen – nicht nur für Apotheken, sondern vor allem für Versicherte.

Denn der bestehende Hilfsmittelversorgungsvertrag läuft am 30. Juni aus. Danach dürfen Apotheken keine Hilfsmittel mehr auf Kassenkosten für Versicherte der IKK classic abgeben. Eine Einzelgenehmigung durch die Kasse für konkrete Versorgungsfälle? Laut IKK classic nicht vorgesehen. Eine Übergangsregelung? Nicht vorgesehen. Die Krankenkasse verfolgt stattdessen nun offenbar einen dezentralisierten Ansatz: Einzelverträge mit Apotheken oder den jeweiligen Landesapothekerverbänden sollen den Weg ebnen – ein Modell, das der DAV jedoch mit deutlicher Zurückhaltung bewertet. Einzelverträge bergen rechtliche und wirtschaftliche Risiken. Die Vertragsbedingungen seien, so der DAV, auf wirtschaftliche Tragfähigkeit hin dringend zu prüfen. Es drohen unternehmerische Fallen und unklare Haftungsverhältnisse, wenn Apotheken in gutem Glauben Versorgung leisten und anschließend auf den Kosten sitzen bleiben.

Die Verweigerung eines einheitlichen Rahmenvertrags wirkt wie ein strategisches Manöver. Statt kollektiv zu verhandeln, werden Apotheken in eine atomisierte Vertragslandschaft gedrängt, die sie strukturell schwächt. Der dahinterstehende Systemdruck ist nicht neu: Bereits in anderen Kassenbereichen, etwa bei den pharmazeutischen Dienstleistungen oder der Arzneimittelabgabe, werden Versorgungsakte zunehmend durch Mikropolitik auf der Vertragsebene gesteuert. Der aktuelle Fall macht jedoch sichtbar, wie gefährlich dieses Modell ist, wenn es sich auf existenzielle Versorgungsteile wie Hilfsmittel ausweitet. Rollatoren, Kompressionsstrümpfe, Inhalationshilfen oder Verbandsmaterialien – all das gehört zur täglichen Versorgung vulnerabler Gruppen, insbesondere älterer, multimorbider Patientinnen und Patienten. Eine Unterbrechung der Versorgungskette trifft sie mit voller Härte.

Für Apotheken stellt sich die Situation nicht nur als betriebswirtschaftlicher Drahtseilakt dar, sondern als systemisches Dilemma. Die Abgabe von Hilfsmitteln war bisher Teil einer durch Verträge abgesicherten Regelversorgung. Ohne diese Grundlage droht eine gefährliche Vermischung von Freiwilligkeit und Risikoübernahme. Wer künftig dennoch abgibt, muss unter Umständen selbst für Zahlungsausfälle geradestehen. Wer sich verweigert, handelt rechtlich korrekt – riskiert aber Reputationsverluste und Brüche in der Patientenbindung.

Auch für die Versicherten der IKK classic ist der Schaden real. Die Kasse betont, es gebe keine Pflicht zur Einzelprüfung oder Genehmigung. Das bedeutet: Wer künftig ein Rezept für ein Hilfsmittel in der Apotheke vorlegt, könnte abgewiesen werden – nicht, weil das Hilfsmittel nicht notwendig wäre, sondern weil keine Kostenzusage vorliegt. Besonders in ländlichen Regionen, in denen Apotheken oft die einzigen niedrigschwelligen Versorger mit Hilfsmitteln sind, bedeutet dies eine erhebliche Versorgungslücke.

Dahinter steht auch ein größerer Trend: das Aushöhlen sektorübergreifender Versorgung durch Vertragsverweigerung. Während Politik und Öffentlichkeit den Schulterschluss von Kassen, Apotheken und anderen Leistungserbringern einfordern, kapituliert die Praxis immer wieder vor der Ökonomisierung. Die Frage ist längst nicht mehr, wer verhandelt – sondern ob überhaupt noch Verhandlungspartner existieren, die Versorgung als gemeinsame Aufgabe verstehen.

Das System verlässt sich auf die Resilienz der Apotheken. Doch diese Resilienz hat Grenzen. Wenn wirtschaftliche Mindestanforderungen ignoriert werden und Versorgungspflichten ohne Schutzmechanismen delegiert werden, entsteht kein partnerschaftliches Gesundheitssystem, sondern eine asymmetrische Lastenverteilung. Die Krankenkasse spart – auf Kosten derer, die das System vor Ort stützen. Dass der DAV Einzelverträge kritisch sieht, ist daher nicht nur verbandspolitische Reaktion, sondern auch eine Warnung vor struktureller Überforderung.

Der aktuelle Konflikt zwischen IKK classic und DAV ist damit weit mehr als ein gescheiterter Vertrag. Er ist ein Lackmustest für die Frage, ob das deutsche Kassensystem weiterhin auf kollektive Versorgung setzen will – oder ob es bereit ist, diese durch selektive Individualverträge zu zersplittern. Die Leidtragenden sind dabei nicht nur die Leistungserbringer, sondern die Versicherten selbst. Wenn Apotheken ab dem 1. Juli keine Hilfsmittel mehr für IKK-Versicherte abgeben können, ist das kein Einzelfall. Es ist ein Symptom. Und es ist eine Mahnung, dass Versorgung nicht vertraglich ausgehöhlt werden darf.

 

Gestationsdiabetes erkennen, Therapie optimieren, Zukunft sichern

Wie frühe Diagnostik Komplikationen vermeidet, Insulinstrategien differenziert greifen und Stillen zum metabolischen Schutzfaktor wird

Wenn in der Schwangerschaft die Zuckerwerte entgleisen, geraten zwei Leben aus dem Gleichgewicht – und die Chance, dieses Gleichgewicht wiederherzustellen, ist eng mit der Schnelligkeit und Systematik der Reaktion verknüpft. Der Gestationsdiabetes mellitus (GDM) ist längst kein seltenes Phänomen mehr, sondern ein wachsendes Problem der öffentlichen Gesundheit mit weitreichenden Folgen für Mutter und Kind. In der aktuellen Versorgungslage wird immer deutlicher: Entscheidend ist nicht nur das Erkennen, sondern das Verstehen – und daraus folgend eine differenzierte, dynamische Therapie, die präventiv denkt, aber individuell handelt. Dr. Helga Auer-Kletzmayr aus Klagenfurt zeigte beim Fortbildungskongress Pharmacon in Meran, wie Apotheken als Ankerpunkte in dieser hochsensiblen Versorgungssituation agieren können – und warum sie nicht nur Versorger, sondern auch Begleiter in einem metabolischen Ausnahmezustand sind.

Zwischen der 24. und 28. Schwangerschaftswoche liegt das Fenster, in dem der orale Glucosetoleranztest (oGTT) als Screeningmaßnahme regulär empfohlen wird – bei erhöhtem Risiko schon früher. Alter, genetische Disposition, Adipositas, Bewegungsmangel oder Nikotinkonsum zählen zu den Risikofaktoren. Doch es bleibt nicht bei der Diagnose allein: Der GDM wirkt als Vorbote künftiger Stoffwechselentgleisungen, seine Nichtbeachtung als Inkubator späterer Erkrankungen. In Deutschland sind heute zwischen 10 und 15 Prozent aller Schwangeren betroffen – Tendenz steigend. Das bedeutet: Jede zehnte Schwangerschaft verlangt präzise Diagnostik, strukturierte Beratung und gegebenenfalls pharmakologische Intervention.

Der erste Test erfolgt niederschwellig mit 50 g Glucose. Wird der Grenzwert von 135 mg/dl eine Stunde nach Einnahme überschritten, folgt der diagnostisch entscheidende oGTT mit 75 g Glucose. Hier entscheiden drei Werte über das weitere Vorgehen: der Nüchternblutzucker (≤91 mg/dl), der Wert nach einer Stunde (≤179 mg/dl) und nach zwei Stunden (≤152 mg/dl). Reicht ein einziger erhöhter Wert, ist die Diagnose gestellt. Doch damit beginnt erst die eigentliche Herausforderung – nicht nur medizinisch, sondern auch kommunikativ.

Eine präzise, alltagsnahe und verlässliche Beratung der betroffenen Frauen ist essenziell. Ernährung, Bewegung, Blutzuckerkontrolle: All das muss in einer Lebensphase gelingen, die ohnehin durch hormonelle Umstellungen, psychosoziale Belastungen und körperliche Veränderungen geprägt ist. Apotheken übernehmen dabei eine zentrale Funktion: Sie erklären, motivieren, kalibrieren das Verständnis für Zusammenhänge, ohne zu verängstigen – eine Balance, die zwischen Fachkompetenz und Empathie liegt. Auer-Kletzmayr betonte: Zwei Wochen strukturierte Blutzuckerkontrolle mit Zielwerten unter 140 mg/dl postprandial sind der entscheidende Prüfstein. Bleiben die Werte stabil, kann auf Insulin verzichtet werden. Doch bei einem Drittel der Patientinnen reicht die Diätetik nicht aus – die Insulintherapie wird erforderlich.

Die Entscheidung für das passende Insulin ist dabei mehr als Pharmakologie – sie ist eine Frage des zeitlichen Musters der Entgleisung. Ist nur der Nüchternwert erhöht, kommen Basalinsuline wie Glargin oder Degludec in Betracht. Sind die postprandialen Werte auffällig, sind kurzwirksame Analoga wie Lispro oder Aspart Mittel der Wahl. Jede Phase der Schwangerschaft bringt zudem eigene Dynamiken im Insulinbedarf mit sich: Ein Absinken im ersten Trimenon, ein steiler Anstieg im zweiten, ein abruptes Abfallen nach der Geburt – das verlangt Flexibilität und kontinuierliche Begleitung. Apothekerinnen wie Auer-Kletzmayr leisten hier mehr als Medikamentenabgabe. Sie justieren Erwartung, Reaktion und Realität – und machen die Patientin zur aktiven Gestalterin ihres Therapieerfolgs.

Besonders heikel ist der Moment der Geburt. Ab dem Einsetzen der Wehen wird kein Basalinsulin mehr gegeben, stattdessen wird engmaschig kontrolliert und bei Bedarf mit kleinen Bolusdosen korrigiert. Das Ziel: eine stabile Blutzuckerlage, die weder Hypo- noch Hyperglykämien provoziert – beim Kind wie bei der Mutter. Denn das Kind hat ab der 14. Schwangerschaftswoche eine eigene Insulinproduktion aufgebaut. War die intrauterine Glucosezufuhr erhöht, reagiert es mit Hyperinsulinismus – die Folge: eine gefährliche postpartale Hypoglykämie, die eine Notfallintervention erforderlich machen kann. Auch hier kann die vorbereitende Aufklärung durch Apothekerinnen entscheidend sein – etwa zur Stillförderung.

Denn das Stillen ist ein unterschätzter metabolischer Regulator. Studien belegen: Stillende Mütter haben ein signifikant reduziertes Risiko für Typ-2-Diabetes, und auch beim Kind sinkt die Wahrscheinlichkeit für späteres Übergewicht und metabolisches Syndrom. Der Rat, mindestens vier bis sechs Monate zu stillen, ist nicht nur bindend, sondern auch medizinisch gut begründet – insbesondere bei Kindern übergewichtiger Mütter mit GDM. Die Nachsorge darf nicht enden, wenn der Blutzucker sich normalisiert: Ein erneuter oGTT nach sechs bis zwölf Wochen sowie eine regelmäßige Kontrolle alle zwei bis drei Jahre (inkl. HbA1c-Bestimmung) sind kein formaler Rest, sondern ein proaktives Monitoring gegen ein zehnfach erhöhtes Risiko für Diabetes Typ 2.

Der Gestationsdiabetes ist ein multiperspektivisches Geschehen: medizinisch riskant, emotional herausfordernd, gesundheitspolitisch unterschätzt. Doch in dieser Vielschichtigkeit liegt auch die Chance: Wenn Versorgung nicht nur klinisch gedacht, sondern vernetzt praktiziert wird – mit Apotheken als beratende Partner, die medizinische Vorgaben übersetzen, Adhärenz fördern und Prävention verankern –, entsteht ein Versorgungsraum, der nicht nur Symptome managt, sondern Zukunft sichert. Ein Fall für zwei – Mutter und Kind. Und eine Aufgabe für viele – auch für die Apothekenlandschaft.

 

Selbstbestimmung braucht Gesetzeswandel, Versorgung braucht Entlastung, Strafrecht braucht Reform

Warum der Ärztetag das Abtreibungsrecht neu denkt, wie §218 medizinische Praxis kriminalisiert und weshalb echte Gleichstellung nur jenseits des Strafgesetzes beginnt

Wer das Selbstbestimmungsrecht von Frauen nicht nur rhetorisch, sondern rechtlich ernst nimmt, kommt an einer fundamentalen Neubewertung des §218 StGB nicht vorbei – das zeigt die jüngste Positionierung der Bundesärztekammer auf dem Deutschen Ärztetag in Leipzig. Der Beschluss, Schwangerschaftsabbrüche in der Frühphase aus dem Strafrecht herauszulösen, ist nicht bloß Symbolpolitik eines Berufsstandes, sondern ein deutlicher Handlungsauftrag: Die Kriminalisierung reproduktiver Entscheidungen ist mit einer modernen Gesundheitsversorgung und mit der Gleichberechtigung der Geschlechter nicht vereinbar. Dass der Ärztetag dieses Thema aufgreift, während sich die politische Mehrheit weiterhin verweigert, illustriert eine wachsende Kluft zwischen gesetzlicher Norm und gesellschaftlicher Realität – aber auch zwischen medizinischem Handlungswissen und politischer Trägheit.

Denn faktisch ist ein Schwangerschaftsabbruch in Deutschland auch im Jahr 2025 nur unter Bedingungen erlaubt, die strafrechtlich negativ gerahmt sind: Er bleibt »rechtswidrig, aber straffrei«, wenn bestimmte Voraussetzungen – Beratungspflicht, Fristenwahrung, Indikationen – erfüllt sind. Dieser juristische Spagat hat gravierende Konsequenzen: Für Patientinnen bedeutet er nicht nur ein Stigma, sondern auch eingeschränkten Zugang zu sicheren Versorgungsstrukturen; für Ärztinnen und Ärzte bedeutet er Unsicherheit, Misstrauen und das Risiko von Anfeindungen oder juristischen Angriffen. Der Paragraf 218 steht nicht isoliert, er wirkt systemisch – als Signal an Gesellschaft, Justiz, Politik und Medizin, dass Fortpflanzungsentscheidungen unter Generalverdacht stehen.

Vor allem jedoch verhindert er strukturellen Fortschritt: Die Versorgungslage für ungewollt Schwangere ist angespannt – nicht nur im ländlichen Raum, sondern auch in Städten mit wenigen, häufig unter Druck stehenden Einrichtungen. Dass in vielen Bundesländern kaum noch Praxen zu finden sind, die überhaupt Schwangerschaftsabbrüche durchführen, ist direkte Folge der juristischen Rahmung. Wo potenziell strafrechtliche Relevanz besteht, weichen viele Leistungserbringende zurück. Die Folge: ein faktischer Versorgungsnotstand, der durch politische Blockadehaltung zementiert wird.

Dabei sprechen die Zahlen eine eindeutige Sprache: Laut einer im Auftrag des Bundesministeriums für Familie durchgeführten repräsentativen Befragung aus dem Jahr 2024 befürworten mehr als 78 Prozent der Deutschen eine vollständige Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in der Frühphase. Diese breite gesellschaftliche Zustimmung kontrastiert scharf mit der ablehnenden Haltung konservativer Kräfte, allen voran Bundeskanzler Friedrich Merz, der sich zuletzt klar gegen eine Entkriminalisierung aussprach. Die geplante Neuregelung scheiterte im Februar 2025 – trotz breiter Unterstützung von SPD, Grünen und mehr als 300 Bundestagsabgeordneten.

Doch die Debatte ist nicht neu. Sie reicht bis in die Weimarer Republik zurück, erlebte ihren erbitterten Höhepunkt in den 1970er-Jahren – mit Massenprotesten, Gerichtsurteilen und ideologischen Frontlinien. Der Kompromiss von 1995, der das heutige System der Beratungspflicht schuf, war ein mühsam errungener Ausgleich – aber eben auch ein Verzicht auf echte Entkriminalisierung. Seither hat sich vieles verändert: medizinische Standards, gesellschaftliche Haltungen, internationale Rechtsvergleiche. In den meisten europäischen Nachbarländern ist der Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafrechts geregelt – in Frankreich, den Niederlanden, Italien oder Spanien gilt das Recht auf Abbruch als Teil der reproduktiven Gesundheitsversorgung.

Umso größer ist die normative Schieflage in Deutschland, die mitunter groteske Formen annimmt: So müssen Frauen nach einer Vergewaltigung häufig nachweisen, dass sie nicht nur Anzeige erstattet, sondern auch ein Gutachten vorgelegt haben – was in der Praxis zu retraumatisierenden Verfahren führt. Auch medizinische Indikationen unterliegen strengen Prüfungen, bei denen nicht selten moralische oder institutionelle Widerstände mitspielen. Wer auf Basis der aktuellen Gesetzeslage Hilfe sucht, wird oft allein gelassen – oder muss ins Ausland ausweichen.

Der Deutsche Ärztetag hat das erkannt. Sein Beschluss fordert nicht nur die Entkriminalisierung, sondern auch eine Stärkung der Versorgungssicherheit und eine Aufwertung der Beratungsstrukturen. Dabei bleibt die Pflicht zur Beratung als Chance erhalten – nicht als Hürde. Die Bundesärztekammer betont, dass gerade in einer offenen, vorurteilsfreien Beratung Raum geschaffen werden kann, um Entscheidungen zu begleiten und medizinisch wie menschlich zu stützen – ohne Strafandrohung, ohne moralische Verurteilung, ohne politische Ideologisierung.

Die politische Verweigerung, diese Realität endlich gesetzgeberisch anzuerkennen, ist nicht nur ein frauenpolitisches Versagen, sondern auch ein gesundheits- und rechtsstaatliches Problem. Es zementiert ein antiquiertes Bild von Mutterschaft als Pflicht und stellt reproduktive Freiheit unter Vorbehalt – gegen den Willen der Mehrheit, gegen die Expertise der Fachleute und gegen jede zukunftsfähige Gleichstellungspolitik. Wer das Selbstbestimmungsrecht ernst nimmt, muss §218 abschaffen – nicht reformieren, nicht kosmetisch verändern, sondern klar und konsequent durch ein Gesetz ersetzen, das reproduktive Rechte als Teil der Gesundheitsversorgung anerkennt. Alles andere bleibt ein Rückfall in ein patriarchales System, das weder medizinisch noch moralisch Bestand hat.

 

Vorsicht, Vertrauen, Verantwortung

Wie Badeunfälle tödlich enden können, welche Risiken Erwachsene unterschätzen und warum Kindersicherheit am Ufer beginnt

Wenn das Thermometer steigt, steigen auch die Risiken – nicht nur in den Bergen, auf Straßen oder in Flugzeugen, sondern unmittelbar vor unseren Augen, im Wasser. Im Jahr 2024 verloren mindestens 411 Menschen in Deutschland ihr Leben durch Ertrinken. Das ist keine abstrakte Zahl, sondern das Resultat konkreter Fehler, die vermeidbar gewesen wären – Fehler von Einzelnen, aber auch strukturelle Lücken im kollektiven Sicherheitsverständnis. Der Badeunfall ist keine Sommeranekdote. Er ist eine stille Katastrophe, oft lautlos, häufig unterschätzt und in vielen Fällen tragisch vermeidbar. Die verbreitete Vorstellung, nur Kinder oder Nichtschwimmer seien gefährdet, führt in die Irre – denn die Statistik zeichnet ein anderes Bild: Es sind vor allem junge Männer, die in offenen Gewässern verunglücken. Seen, Flüsse, Kanäle und das Meer sind kein Hallenbad. Sie sind dynamische, unberechenbare Naturzonen mit Strömungen, Temperaturgefällen, Wellengang und anderen Unwägbarkeiten, denen selbst erfahrene Schwimmer oft nicht gewachsen sind.

Fachleute definieren „sicheres Schwimmen“ anhand klarer Kriterien – etwa dem Bronzeabzeichen, das 200 Meter Schwimmen in 15 Minuten voraussetzt. Doch auch wer dieses Kriterium erfüllt, kann leicht in gefährliche Situationen geraten. Eine der größten Risiken besteht darin, dass Menschen direkt nach starker Sonnenexposition ohne Abkühlung ins Wasser springen. Der abrupte Temperaturwechsel kann Kreislaufversagen oder Bewusstlosigkeit auslösen, insbesondere bei vorbestehenden Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der Körper ist durch die Hitze auf maximale Weitung der Gefäße eingestellt. Trifft er plötzlich auf kaltes Wasser, kann es zu einem Schock kommen. Was folgt, ist kein dramatischer Hilferuf – sondern ein stilles, nahezu lautloses Untergehen. Die DLRG und die Wasserwacht appellieren deshalb eindringlich, vor dem Sprung ins kühle Nass den Körper schrittweise an das Wasser zu gewöhnen.

Hinzu kommt ein verbreitetes Missverhältnis zwischen Selbsteinschätzung und realer Belastbarkeit. Die Versuchung, in Talsperren oder Seen „mal eben rüberzuschwimmen“, führt regelmäßig zu Notlagen. Entfernungen werden unterschätzt, das Ufer wirkt näher, als es ist – 1000 oder 2000 Meter sind für ungeübte Schwimmer eine tödliche Herausforderung. Wer dann in kaltem Wasser einen Krampf bekommt oder panisch wird, hat kaum noch Chancen. Die Experten raten daher, möglichst immer parallel zum Ufer zu schwimmen – das erlaubt sportliche Herausforderungen bei gleichzeitigem Zugang zur Rettung.

Ein weiteres, fatales Element ist der Einfluss von Alkohol und Drogen. Rauschzustände verzerren die Risikowahrnehmung und verleiten zu übermütigem Verhalten. Nicht selten resultieren daraus Gruppendynamiken, die in gefährlichen Mutproben münden. Das betrifft nicht nur junge Männer, sondern jede Altersgruppe – am See wie auf Partys am Flussufer. Der Sprung ins Wasser wird zur Mutprobe – mit tödlichem Ausgang. Eine weitere unterschätzte Gefahr sind Strömungen. Selbst in Kanälen oder kleineren Flüssen können sie so stark sein, dass selbst kräftige Schwimmer keine Chance haben. Wer mitgerissen wird, sollte laut Experten sofort auf den Rücken drehen, mit Blick zum Ufer und sich möglichst treiben lassen, bis eine Ausstiegsstelle erreicht werden kann. Versuche, gegen die Strömung anzuschwimmen, enden meist in der Erschöpfung.

Besonders heikel: das Baden in Flüssen mit Schiffsverkehr. Schiffe erzeugen einen Sog, der Badegäste vom Ufer wegzieht – eine Gefahr, die vor allem Kinder betrifft. Die Empfehlung der Retter lautet klar: In großen Strömen nur in ausgewiesenen Flussbädern baden. Im Notfall – etwa bei Sichtung eines verunglückten Schwimmers – ist das richtige Verhalten entscheidend. Hilfe rufen, Rettungsdienste alarmieren und mit Hilfsmitteln wie einem Rettungsring agieren. Nur sichere Schwimmer sollten überhaupt an eine Rettung denken – niemals unüberlegt ins Wasser springen. Selbst aus bester Absicht kann so schnell ein zweiter Notfall entstehen.

Was oft übersehen wird: Auch ein vermeintlich harmloser Kopfsprung ins Wasser kann lebensverändernde Folgen haben. In unbekannten oder trüben Gewässern ist die Tiefe oft schwer einschätzbar. Eine Verletzung der Halswirbelsäule kann binnen Sekunden zur Querschnittslähmung führen – oder zur Bewusstlosigkeit und anschließendem Ertrinken. Ebenso gefährlich: Gewitter und Starkregen. Wer ein Gewitter am Horizont sieht, muss das Wasser verlassen – auch wenn es noch weit entfernt scheint. Ein Blitzeinschlag kann Ströme über mehr als 100 Meter im Wasser verbreiten. Bei Starkregen wiederum entsteht auf der Wasseroberfläche ein gefährliches Luft-Wasser-Gemisch, das das Atmen erschwert und zum Verschlucken führen kann.

Kinder schließlich brauchen einen ganz eigenen Fokus – nicht nur, weil sie besonders schutzbedürftig sind, sondern weil sie oft schon in seichten Gewässern gefährdet sind. Es reicht, wenn ein Kleinkind mit dem Gesicht nach unten in einem 20-Zentimeter-tiefen Becken liegt. Ablenkung durch das Smartphone, ein kurzer Gang zur Picknickdecke oder das Vertrauen in Schwimmhilfen wie Flügel oder Gummitiere sind keine tragfähigen Schutzmaßnahmen. Verantwortliche Aufsicht bedeutet: ein Kind ist im Wasser nie unbeobachtet. Eltern sollten sich auch untereinander absprechen, wer zu welchem Zeitpunkt verantwortlich ist – damit nicht alle glauben, die anderen würden hinschauen. Und: Frühzeitiges Schwimmenlernen rettet Leben. Die DLRG empfiehlt, spätestens im Vorschulalter mit Schwimmkursen zu beginnen.

Wasser ist Leben – aber nur, wenn wir es mit Respekt behandeln. Die Verantwortung liegt nicht bei der Temperatur, beim Wetter oder beim See. Sie liegt bei uns allen.

 

Therapeutische Neuerfindung, klinische Präzision, regulatorische Lernkurve

Wie Arzneistoffinnovationen 2024 neue Versorgungsperspektiven schaffen, klinische Zielgruppen gezielter adressieren und regulatorisch neue Anforderungen provozieren

2024 war kein Jahr für kosmetische Reformen in der Arzneimittelentwicklung, sondern eines mit echten Fortschritten – klinisch, pharmakologisch, regulatorisch. Der Fortbildungskongress Pharmacon in Meran setzte genau darauf den Fokus: Innovation nicht als Etikett, sondern als Substanz. Mit 39 neuen Wirkstoffen auf dem europäischen Markt – davon 17 Sprunginnovationen und 15 substanzielle Weiterentwicklungen – entstand ein Portfolio, das neue Maßstäbe in Präzisionstherapie, Sicherheit und Versorgungsdynamik setzt. Doch dieser Fortschritt bringt auch Nebenwirkungen: Neue Therapien verlangen neue Sicherheitsstrategien, klinische Differenzierung und ein Regulierungssystem, das Innovation nicht ausbremst, sondern sicher einbettet.

Ein paradigmatisches Beispiel ist der Neurokinin-3-Rezeptorantagonist Fezolinetant. Die Substanz stellt einen Umbruch in der Behandlung vasomotorischer Symptome (VMS) dar – erstmals nicht hormonell, sondern selektiv neurologisch wirkend. In den SKYLIGHT-Studien überzeugte Fezolinetant mit 45 mg täglich gegenüber Placebo, doch eine große Leerstelle bleibt: Der Vergleich mit der Hormonersatztherapie, dem bisherigen Standard, steht noch aus. Noch kritischer: Patientinnen mit östrogenabhängigen Tumoren waren von der Zulassungsauswertung ausgeschlossen – obwohl sie eine der vordringlichsten Zielgruppen wären. Hier kündigt sich mit der laufenden HIGHLIGHT-1-Studie erstmals ein ernsthafter Schritt an, die therapeutische Versorgungslücke zu schließen. Bayer, mit dem konkurrierenden Elinzanetant in der Pipeline, plant die Zulassung für beide Kollektive von vornherein – ein Signal für wachsendes Marktverständnis und indikationszentriertes Studiendesign.

Doch jeder Fortschritt hat seinen Preis – in diesem Fall potenziell hepatotoxische Effekte. Ein aktueller Rote-Hand-Brief mahnt zur regelmäßigen Leberwertkontrolle. Damit schlägt die Innovation regulatorisch zurück: Was klinisch vielversprechend ist, muss sicherheitsseitig auf neue Füße gestellt werden. Eine Herausforderung für Ärztinnen wie Apotheker, denn die Kontrolle erfordert organisatorische Zusatzarbeit und macht aus einer Versorgungsoption eine Verantwortungsschnittstelle.

Eine andere Dimension der Innovation zeigte sich mit Delgocitinib – einem pan-JAK-Inhibitor zur topischen Anwendung bei chronischem Handekzem. Die Zulassung von Anzupgo® markiert hier gleich drei Neuanfänge: einen molekularen, einen galenischen und einen sprachpolitischen. Denn die Anwendung ist auf das Wesentliche reduziert – zweimal täglich dünn auftragen – und die systemische Exposition minimal. In den DELTA-1- und DELTA-2-Studien blieb die Nebenwirkungsrate auf Placeboniveau. Doch die klinische Innovation wirft auch hier eine Schattenlinie: JAK-Inhibitoren stehen im Verdacht, langfristig das Basalzellkarzinomrisiko zu erhöhen – auch wenn dies bei Delgocitinib bislang nicht beobachtet wurde. Dass solche Wirkstoffe künftig trotz topischer Anwendung in langfristige Krebsregister aufgenommen werden müssen, ist wahrscheinlich – und notwendig.

Ein weiterer Protagonist des Meraner Kongresses war Insulin icodec, vermarktet unter dem Namen Awiqli®. Die Substanz steht für das, was technologische Optimierung in der modernen Diabetologie leisten kann: eine Halbwertszeitverlängerung auf Wochenbasis durch molekulare Modifikation und fettsäuregekoppelte Albuminbindung. Das Resultat: einmal wöchentliche Injektion bei stabiler Glukosekontrolle. Der Innovationspreis der Pharmazeutischen Zeitung, der dieses Jahr an Insulin icodec ging, ist folgerichtig – denn er ehrt nicht nur einen neuen Wirkstoff, sondern einen Versorgungsansatz, der Therapietreue erleichtert und Versorgungseffizienz steigert.

In der Gesamtschau wirkt 2024 wie ein Beschleunigungsjahr für eine Entwicklung, die sich schon lange ankündigt: Arzneimittelinnovation ist nicht mehr nur Sache großer Indikationen, sondern dringt in therapeutische Nischen vor, adressiert bislang unterversorgte Patientengruppen und transformiert alte Behandlungsalgorithmen. Doch dabei wachsen nicht nur Hoffnung und Heilsversprechen, sondern auch die regulatorische Komplexität. Apotheken, Ärzteschaft und Zulassungsbehörden stehen gleichermaßen unter dem Druck, Innovationen nicht nur zu ermöglichen, sondern auch kritisch zu begleiten, in Systeme zu integrieren und haftungssicher zu machen. Das verlangt neue Kooperationsformen, transparente Datenwege und klinische Nachbeobachtungsmodelle, die Innovation dauerhaft sicher machen – ohne sie im Keim zu ersticken.

 

Impfschutz verhindert Leberfolgen, Reiseberatung klärt Risiken, Kostenübernahme schafft Zugang

Warum Hepatitis-Vorsorge vor dem Urlaub Leben schützt, medizinische Beratung entscheidend ist und Impfkosten kein Hinderungsgrund sein müssen

Wer an Sommer, Sonne, Ferne denkt, blendet das Unsichtbare gern aus – zum Beispiel Viren, die im Urlaubsland auf Kontakt hoffen. Besonders Hepatitis A und B gehören zu den unterschätzten Gesundheitsgefahren für Reisende. Die Erreger greifen die Leber an, verursachen grippeähnliche Symptome und können – je nach Typ – mit langfristigen Folgen wie Leberzirrhose oder Leberkrebs enden. Dabei ließe sich die Infektion oft leicht verhindern: durch eine rechtzeitig durchgeführte Impfung. Doch gerade dieser einfache Schutz wird häufig vergessen, unterschätzt oder aufgeschoben – mit potenziell dramatischen Konsequenzen, sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesundheitssysteme im Herkunfts- und Zielland.

Die Deutsche Leberstiftung rät, spätestens sechs bis acht Wochen vor dem Urlaub eine reisemedizinische Beratung wahrzunehmen. Denn nicht jedes Reiseziel ist gleich riskant, nicht jeder Kontakt gefährlich, nicht jede Impfung notwendig – aber viele sind es. Hepatitis-A-Viren werden meist fäkal-oral übertragen, etwa über verschmutztes Trinkwasser oder unzureichend gegarte Speisen. Sie kommen besonders häufig in Ländern mit mangelhaften hygienischen Standards vor, etwa in Teilen Afrikas, Asiens, Südamerikas und Osteuropas. Hepatitis B hingegen wird vor allem über Körperflüssigkeiten übertragen – ein Risiko, das unter anderem bei Sexualkontakten, medizinischen Behandlungen, Tätowierungen oder gemeinsam benutzten Hygieneartikeln wie Rasierern besteht.

Die medizinischen Unterschiede zwischen beiden Virentypen sind gravierend: Während Hepatitis A fast immer spontan ausheilt, kann Hepatitis B in bis zu 10 Prozent der Fälle chronisch werden. Diese chronische Hepatitis kann über Jahre hinweg das Lebergewebe schädigen, zur Leberzirrhose führen und das Risiko für Leberkrebs massiv erhöhen. Zudem ist Hepatitis B hochinfektiös – rund 50- bis 100-mal ansteckender als HIV. Die gute Nachricht: Gegen beide Erkrankungen stehen hochwirksame Impfstoffe zur Verfügung, die seit Jahrzehnten bewährt und gut verträglich sind. Dennoch bleibt die Impflücke bestehen.

Die empfohlene Impfschemata sind klar definiert: Für Hepatitis A genügt eine Zweifachimpfung im Abstand von sechs bis zwölf Monaten, bei kurzfristigen Reisen reicht oft schon die erste Dosis – sie bietet in der Regel zwei Wochen nach Gabe ausreichenden Schutz. Hepatitis B erfordert drei Impfungen über sechs Monate hinweg. Wer schneller Schutz benötigt, kann ein Schnellimpfschema wählen – mit Einschränkungen beim Langzeitschutz. Kombinationsimpfstoffe gegen beide Erreger sind ebenfalls verfügbar und medizinisch sinnvoll, insbesondere für Vielreisende, Personen mit beruflichem Expositionsrisiko oder Menschen mit chronischen Vorerkrankungen.

Ein wesentlicher Punkt betrifft die Finanzierung: Viele gesetzliche Krankenkassen übernehmen die Kosten für die Reiseimpfungen zumindest anteilig – in manchen Fällen vollständig. Voraussetzung ist meist ein ärztliches Beratungsgespräch mit reisemedizinischem Fokus. Doch selbst wenn die Kasse nicht zahlt, sollte der Impfschutz nicht am Preis scheitern: Die durchschnittlichen Kosten für eine Kombi-Impfung liegen bei rund 100 bis 150 Euro – im Vergleich zu möglichen Behandlungskosten, Krankenhausaufenthalten oder dauerhaften Leberschäden ein geringer Betrag.

Gesundheitspolitisch sind es die scheinbar kleinen Versäumnisse, die sich zu strukturellen Problemen auswachsen können. Eine Infektion im Ausland kann nicht nur das individuelle Leben verändern, sondern auch das öffentliche Gesundheitswesen belasten, wenn Folgeerkrankungen auftreten oder chronische Verläufe nicht erkannt werden. Gleichzeitig ist Prävention ein unterschätzter Baustein in der Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger – und ein Gradmesser für die Wirksamkeit gesundheitlicher Aufklärung in der Fläche. Wer verreist, sollte nicht nur an Sonnencreme und Auslandsversicherung denken, sondern auch an den Impfschutz – als Investition in die eigene Zukunft und als Zeichen gesundheitlicher Mündigkeit.

Die reisemedizinische Beratung muss dabei mehr sein als ein formales Pflichtgespräch. Sie sollte individuell angepasst, risikobewusst geführt und von medizinisch geschultem Personal durchgeführt werden. Nur so lassen sich falsche Annahmen, wie etwa „ich bin doch schon mal dort gewesen“ oder „mir passiert das nicht“, durch valide Informationen ersetzen. Apotheken können dabei eine tragende Rolle spielen – etwa durch Aufklärungskampagnen, Beratungsangebote und niedrigschwellige Impfleistungen in Kooperation mit Ärztinnen und Ärzten. Die Aufwertung der Apothekenkompetenz im Bereich Reiseprävention ist dabei nicht nur gesundheitspolitisch sinnvoll, sondern auch wirtschaftlich effizient – denn sie entlastet Hausarztpraxen, verbessert die Versorgungsdichte und erhöht die Impfbereitschaft durch Zugänglichkeit.

Die Urlaubsplanung 2025 beginnt also nicht im Reisebüro, sondern mit einem Blick in den Impfpass. Wer frühzeitig reagiert, kann mit Sicherheit reisen – nicht nur, was Flugverbindungen und Hotels betrifft, sondern auch in gesundheitlicher Hinsicht. Hepatitis A und B sind vermeidbare Krankheiten. Was es braucht, sind Information, Entscheidung und ein kleiner Piks – am besten jetzt.

 

Sprache, Verantwortung, Selbstbestimmung

Wie der Pharmacon-Vortrag zur Abtreibungsdebatte moraltheologische Grenzlinien aufzeigt, Begriffswahl zum Streitfall wird und pharmazeutische Ethik in politischer Grauzone operiert

Was wie ein Tabubruch anmutete, entpuppte sich als kalkulierter Brückenschlag zwischen zwei Disziplinen, die sich traditionell nur selten begegnen: Am vierten Tag des Pharmacon-Kongresses in Meran sprach kein Mediziner, kein Jurist, keine Ethikerin mit Bezug zur Pharmazie – sondern ein Moraltheologe über den Schwangerschaftsabbruch. Professor Dr. Franz-Josef Bormann von der Universität Tübingen stellte sich auf offener Bühne einem Thema, das in den Gesundheitsberufen ebenso präsent wie unangenehm ist: die ethische Dimension der reproduktiven Selbstbestimmung. Mit analytischer Präzision und disziplinärer Unbeirrbarkeit benannte er den Konflikt als das, was er in seiner Sicht sei: »die Mutter aller medizinethischen Konflikte«. Doch was folgt daraus für die Pharmazie?

Schon in der Wortwahl beginnt die Auseinandersetzung. Wer »Abtreibung« sagt, setzt einen anderen Fokus als jemand, der »Schwangerschaftsabbruch« sagt – ein scheinbar sprachlicher Unterschied, der jedoch laut Bormann eine ethische Position markiert. Während ersteres das Ende eines Lebens betont, zielt letzteres auf die Perspektive der Frau und ihre Entscheidungshoheit. Die Begriffswahl wird damit zum moralischen Statement – ein Punkt, der gerade für Berufsgruppen mit Beratungsfunktion wie Apothekenpersonal alles andere als theoretisch ist.

Bormann spannte den historischen Bogen bis zum Eid des Hippokrates, der Schwangerschaftsabbruch und Tötung explizit ausschließt. Bereits in der Antike also war die Frage nicht nur medizinisch, sondern normativ aufgeladen. Dass dieses ethische Koordinatensystem bis heute nachwirkt, zeige sich etwa daran, dass viele pharmazeutisch Tätige bei der Abgabe von abortiv wirkenden Substanzen in einen inneren wie rechtlichen Zwiespalt geraten – besonders in Ländern mit restriktiver Gesetzgebung oder stark polarisierten öffentlichen Debatten.

Die Frage nach Legitimität und Grenzziehung beschäftigt auch die internationale Rechtsentwicklung. Bormann erinnerte an das berühmte US-Urteil »Roe vs. Wade« von 1973, das ein bundesweites Recht auf Abtreibung begründete – und ebenso an dessen Rücknahme durch das »Dobbs vs. Jackson«-Urteil von 2022, das die Verantwortung an die Bundesstaaten zurückgab. Diese Kehrtwende ist mehr als nur ein juristisches Ereignis: Sie wirkt auf Versorgungsrealitäten, Abgabepflichten und ethische Handlungsspielräume zurück – auch dies mit Auswirkungen auf Apotheken, insbesondere in Grenzregionen oder bei Reimports.

In Europa bleibt das Bild uneinheitlich. Frankreich und Spanien drängen auf eine Verankerung des Abtreibungsrechts in ihren Verfassungen, während EU-weit noch keine bindende Festlegung besteht. Auch in Deutschland herrscht Rechtsunsicherheit unter ethischer Kompromissformel: Der § 218 Strafgesetzbuch erlaubt einen Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Bedingungen, doch die Einordnung als »rechtswidrig, aber straffrei« verdeutlicht das anhaltende Spannungsfeld zwischen Lebensschutz und Selbstbestimmung. Bormann bezeichnete diese Regelung als Versuch, zwei einander widerstreitende Prinzipien in eine fragile Balance zu bringen – eine Balance, die in Beratungssituationen oft zur Zerreißprobe wird.

Diese Ambivalenz betrifft Apotheken nicht nur mittelbar. Wenn sie bestimmte Präparate wie Mifepriston oder Misoprostol bevorraten oder abgeben, geraten sie in ein Spannungsfeld zwischen Versorgungspflicht, Gewissensfreiheit und strafrechtlicher Bewertung. Anders als Ärztinnen und Ärzte verfügen Apotheken zwar nicht über ein explizit normiertes Widerspruchsrecht, stehen aber dennoch in der Verantwortung, ethische wie betriebliche Risiken zu managen – zumal politische Kräfte immer wieder versuchen, den Zugang zu diesen Präparaten entweder zu erleichtern oder einzuschränken. Der Beitrag von Bormann erinnerte die Zuhörenden daran, dass Neutralität in diesen Fragen nicht voraussetzungsfrei zu haben ist.

Eine zentrale These seines Vortrags lautete, dass keine universale Ethik existiert, die diesen Konflikt endgültig auflösen könne – und dass dies gerade für Berufsgruppen, die sich nicht über ideologische Lager identifizieren, eine Herausforderung sei. Moralische Konflikte wie der Schwangerschaftsabbruch verlangten deshalb mehr als nur gesetzliche Vorgaben oder betriebliche Standardvorgehensweisen – sie verlangten individuelle, begründete Entscheidungen, getragen von einer ethisch fundierten Berufshaltung. Dass dies weder einfach noch ohne Widerspruch möglich ist, wurde im anschließenden Publikumsgespräch deutlich: Die Diskussion war konfrontativ, die Positionen unversöhnlich, der »heiße Stuhl« des Referenten mehr als ein symbolischer Platz.

Und dennoch liegt gerade darin die Relevanz dieses Beitrags für die Pharmazie. Apotheken stehen an der Schnittstelle zwischen Verordnung und Versorgung, zwischen Gesetz und Gewissen. Der Umgang mit konfliktbeladenen Medikamenten ist keine Randfrage, sondern integraler Bestandteil einer sich wandelnden Versorgungspraxis, die zunehmend moralisch aufgeladen ist – nicht zuletzt, weil gesellschaftliche Debatten um Sexualität, Reproduktion und Gesundheit seit Jahren polarisieren. Wer in diesem Umfeld arbeitet, muss nicht nur Arzneistoffe dosieren, sondern auch ethische Ambiguitäten aushalten – und darf sich dabei nicht auf Neutralität als Schonraum verlassen.

Der Pharmacon in Meran hat mit diesem Vortrag eine Provokation gesetzt – im besten Sinne des Wortes. Er hat gezeigt, dass pharmazeutische Praxis mehr ist als Produktausgabe, dass Sprache Verantwortung schafft und dass ethische Fragestellungen nicht an der Offizin enden. Der Vortrag von Franz-Josef Bormann war keine Einbahnstraße theologischer Belehrung, sondern eine Einladung zum Nachdenken – über Beruf, über Gesellschaft, über Verantwortung. Und genau das macht ihn so relevant.

 

Schwangerschaft als Gefäßrisiko, Präeklampsie als Altersbeschleuniger, Forschung als Hoffnungspfad

Warum kardiometabolische Spätfolgen oft unterschätzt werden, wie Gefäßsysteme Jahrzehnte altern und welche Therapiestrategien über die Geburt hinausreichen müssen

Wenn eine Schwangerschaft zum kardiometabolischen Stresstest wird, ist es nicht allein die akute klinische Herausforderung, die zählt – sondern der gesundheitspolitische und medizinische Blick auf das, was bleibt. Präeklampsie ist kein vorübergehendes Ereignis, sie ist ein kardiovaskuläres Risikoereignis ersten Ranges – mit Spätfolgen, die noch Jahrzehnte nach der Geburt nachhallen. Der Gynäkologe und Geburtsmediziner Professor Dr. Holger Stepan veranschaulichte beim Pharmacon-Kongress in Meran, wie tiefgreifend eine solche Schwangerschaftskomplikation den weiblichen Organismus verändert – und warum daraus nicht nur therapeutische, sondern auch präventive und systemische Konsequenzen folgen müssen.

Die Präeklampsie, ausgelöst durch eine pathologische Gefäßreaktion im Mutterkuchen, geht mit Bluthochdruck und Organschäden einher – darunter Nierenfunktionsstörungen, Leberbeteiligung oder neurologische Auffälligkeiten. Doch entscheidend ist: Die Erkrankung ist keine abgeschlossene Episode. Sie markiert vielmehr einen Wendepunkt im biologischen Alterungsprozess des Gefäßsystems. Frauen mit durchgemachter Präeklampsie zeigen – gemessen am Aortendurchmesser – eine Gefäßalterung, die im Mittel einer Dekade entspricht. Es ist eine stille, aber messbare Vorverlagerung chronischer Erkrankungsrisiken.

Die Zahlen sind deutlich: Frauen mit Präeklampsie erleiden langfristig mit höherer Wahrscheinlichkeit Myokardinfarkte, Apoplexien, chronische Nierenerkrankungen oder Typ-2-Diabetes. Der kumulative Effekt über mehrere Schwangerschaften hinweg potenziert diese Risiken. Stepan formulierte es pointiert: Kein männlicher Raucher könne sich „in eine solche Risikokategorie hineinrauchen“, wie sie Frauen mit multipler Präeklampsie erleben. Damit stellt sich eine gesellschaftliche Schieflage: Denn das Wissen um diese Zusammenhänge ist gering, die ärztliche Langzeitbegleitung lückenhaft und die Prävention auf spätere Lebensdekaden kaum angepasst.

Zur Therapie im akuten Fall steht derzeit ausschließlich eine Maßnahme mit kausalem Effekt zur Verfügung – die Entbindung. Nur durch Entfernung der Plazenta, die pathophysiologisch im Zentrum des Geschehens steht, lässt sich die Erkrankung stoppen. Alles andere bleibt symptomatisch: Eine sorgfältige Blutdruckkontrolle ist entscheidend, empfohlen wird die Einleitung einer medikamentösen Therapie ab 140/90 mmHg, mit Zielwerten von 135/85 mmHg. Mittel der Wahl sind α-Methyldopa, Labetalol, Metoprolol oder Nifedipin. Dabei zerstreute Stepan Bedenken, wonach α-Methyldopa mit postpartalen Depressionen assoziiert sei: Die Evidenz dafür sei nicht vorhanden.

Präventiv ist aktuell vor allem Acetylsalicylsäure im Fokus. Frauen mit erhöhtem Risiko – etwa mit Hypertonie, Diabetes, Nierenerkrankungen oder vorangegangener Präeklampsie – erhalten ab der Frühschwangerschaft bis zur 34. Woche täglich 150 mg ASS. Dies gilt als evidenzbasierter Goldstandard. Andere Maßnahmen wie Fischöl oder Heparin haben keinen belegten Nutzen. Doch die Forschung denkt weiter – und tiefer. Im Zentrum der wissenschaftlichen Debatte steht das gestörte Gleichgewicht zwischen PlGF und sFlt-1. PlGF fördert die Gefäßbildung in der Plazenta, während sFlt-1 – ein löslicher VEGF-Rezeptor – diese hemmt. Die Überproduktion von sFlt-1 gilt als zentrales pathogenetisches Element, da sie die endotheliale Dysfunktion triggert.

Mehrere experimentelle Ansätze zielen darauf, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren. Ein Verfahren sieht vor, sFlt-1 per Apherese aus dem Blut zu entfernen. Andere Strategien testen neutralisierende Antikörper, rekombinantes PlGF oder VEGF sowie siRNA-basierte Hemmungen der sFlt-1-Bildung. Doch hier beginnt der ethische und regulatorische Grenzbereich: Eingriffe in Schwangerschaftsverläufe mit gentherapeutischem Potenzial sind hochsensibel, klinisch wie moralisch. Es bleibt die Erkenntnis, dass Präeklampsie keine Einzelerkrankung ist – sondern ein Systemereignis. Die Plazenta ist zwar das erste Organ, das betroffen ist – aber das Herz-Kreislauf-System ist dasjenige, das auf Dauer geschädigt wird.

Diese Perspektive verlangt nicht nur nach besseren Früherkennungsprogrammen, sondern nach einem interdisziplinären Monitoring von Frauen nach der Geburt – nicht nur in den ersten Wochen, sondern über Jahre hinweg. Kardiologie, Gynäkologie und Endokrinologie müssen gemeinsame Langzeitpfade definieren, um strukturell präventiv wirken zu können. Präeklampsie darf nicht mehr als abgeschlossene Schwangerschaftskomplikation betrachtet werden, sondern als Marker für ein lebenslang erhöhtes Erkrankungsrisiko. Für Frauen bedeutet das: Jede Schwangerschaft ist auch eine Chance auf Präventionsmedizin – wenn das System es erlaubt.

 

Immunmodulation in neuen Dimensionen, Patientensicherheit im Fokus, Therapieindividualisierung als Leitprinzip

Wie innovative MS-Arzneistoffe das Immunmanagement präzisieren, Apotheken in der Nebenwirkungsberatung fordern und personalisierte Therapiewahl an Bedeutung gewinnt

Multiple Sklerose ist eine Krankheit der Brüche – zwischen den Lebensentwürfen der Betroffenen und dem Verlauf der Krankheit, zwischen medizinischem Fortschritt und praktischer Umsetzbarkeit, zwischen Immunlogik und therapeutischer Kontrolle. Dass diese Brüche heute besser überbrückbar sind als noch vor wenigen Jahren, ist vor allem den sechs neuen Wirkstoffen zu verdanken, die seit 2020 das Spektrum der MS-Therapie maßgeblich erweitert haben. Doch mit wachsender Komplexität steigt auch der Beratungsbedarf – in der ärztlichen Praxis ebenso wie in der Offizin.

Mit rund 280.000 Betroffenen in Deutschland und einer Manifestation im jungen Erwachsenenalter – überwiegend bei Frauen – ist die Multiple Sklerose die häufigste chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung in Europa. Ihre Ätiologie bleibt multifaktoriell und nur fragmentarisch verstanden: Überaktivierte T- und B-Zellen dringen ins zentrale Nervensystem ein und greifen dort paradoxerweise die Myelinscheiden der Axone an. Es entstehen multiple Entzündungsherde, die häufig schubförmig verlaufen und in der interschubalen Phase sklerotisch vernarben. Diese Pathophysiologie ist auch der Grund dafür, dass selbst hochwirksame Medikamente keine Heilung ermöglichen, sondern lediglich den Krankheitsverlauf abmildern oder verzögern können.

Der klinische Verlauf ist typischerweise in drei Hauptformen gegliedert: Die schubförmig remittierende MS (RRMS) betrifft etwa 90 % der Patientinnen und Patienten initial, die sekundär progrediente Form (SPMS) entwickelt sich daraus meist nach zehn bis fünfzehn Jahren. Die primär progrediente MS (PPMS) tritt bei rund 10 % direkt mit kontinuierlicher Verschlechterung ohne erkennbare Schübe auf. Ein zunehmend anerkanntes Konzept ist PIRA – eine schwelende, nicht schubabhängige Progression, die auch bei RRMS-Patienten die therapeutische Strategie verändert.

Die zentrale Leitlinie der modernen MS-Behandlung lautet »Hit hard and early«. Das bedeutet: eine frühe und intensive Modulation des Immunsystems, bevor irreversible Schäden auftreten. Entsprechend orientiert sich die medikamentöse Therapie nicht an einem starren Stufenschema, sondern an individuellen Faktoren: Verlaufsform, Aktivität, Komorbiditäten, Patientenvorlieben – und nicht zuletzt auch an der Verträglichkeit.

Die Wirkstoffe lassen sich in drei Wirksamkeitskategorien einteilen – differenziert nach der Schubratenreduktion in Zulassungsstudien. Klassische Vertreter der Kategorie 1 sind β-Interferone und Glatirameracetat, ergänzt durch Teriflunomid und Dimethylfumarat. Diroximelfumarat, seit 2022 verfügbar, erweitert diese Basislinie: Es ist wie sein Vorgänger ein Prodrug von Monomethylfumarat, bietet jedoch gastrointestinale Verträglichkeitsvorteile.

In der mittleren Wirksamkeitsstufe (Kategorie 2) markieren die selektiveren Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptormodulatoren einen therapeutischen Fortschritt. Während Fingolimod breit auf S1PR-Subtypen wirkt, adressieren Ponesimod, Siponimod und Ozanimod gezielter einzelne Subtypen – mit dem Ziel, Nebenwirkungen zu minimieren. Diese »Imode« erfordern dennoch kardiovaskuläres Monitoring und pharmakogenetische Prüfungen, etwa bei Siponimod (CYP2C9) oder Ozanimod (CYP2C8, MAO-Hemmer).

Auch Cladribin verdient in dieser Kategorie besondere Aufmerksamkeit: Als selektive Immunrekonstitutionstherapie beeinflusst es das Immunsystem nachhaltig, aber reversibel. Die Population der Lymphozyten erholt sich strukturell verändert – ein gezieltes »Resetting« der Immunantwort.

Die höchste Wirksamkeitsklasse (Kategorie 3) dominieren die Anti-CD20-Antikörper: Ocrelizumab, Rituximab (off Label), Ofatumumab und Ublituximab. Sie depletieren B-Zellen hochselektiv und ermöglichen so eine langanhaltende Remission – bei vergleichsweise guter Immunrekonstitution durch Vorläuferzellen. Ocrelizumab war 2018 ein Meilenstein: Es eröffnete erstmals die Möglichkeit, PPMS spezifisch zu behandeln. Mit Ofatumumab steht seit 2021 erstmals ein subkutan applizierbarer Antikörper zur Selbstanwendung zur Verfügung – ein Schritt zur Therapieautonomie.

Ergänzend agieren der Anti-CD52-Antikörper Alemtuzumab mit jährlichen Stoßtherapien und Natalizumab, das durch Blockade des Adhäsionsmoleküls α4-Integrin die Leukozytenmigration ins ZNS verhindert – seit 20 Jahren ein valider Pfeiler der Hochwirksamkeitstherapie.

Zukunftsweisend sind Entwicklungen in zwei Richtungen: Erstens molekularbiologische Antikörper wie Frexadimab, ein CD40L-Hemmer in Phase II, der gezielt die überexprimierten Aktivierungssignale bei MS dämpfen soll. Zweitens neuroprotektive und remyelinisierende Strategien wie PIPE-307 – ein selektiver M1-Rezeptorantagonist mit potenzieller Wirkung auf die Regeneration der Myelinscheiden. Die Brutonkinase-Inhibitoren Evobrutinib, Remibrutinib, Tolebrutinib und Fenebrutinib befinden sich ebenfalls in fortgeschrittener Prüfung und versprechen eine bessere Balance zwischen Wirksamkeit und systemischer Schonung.

Die Rolle der Apotheke in diesem komplexen Setting ist zentral: Aufklärung über Nebenwirkungen, Interaktionsmanagement, therapiebegleitende Sicherheitsberatung und Impfempfehlungen – all das wird zunehmend zur pharmazeutischen Kernaufgabe. Der Trend zur Selbstinjektion, zur oralen Langzeittherapie und zur individualisierten Immunmodulation erfordert nicht nur pharmakologische Expertise, sondern auch Empathie, Verlässlichkeit und Kontinuität im Patientenkontakt.

Dass die MS heute in vielen Fällen ihren Schrecken als unmittelbar sichtbare Einschränkung verloren hat, ist dem konsequenten Einsatz hochindividualisierter Therapiestrategien zu verdanken. Doch die Verantwortung dafür liegt nicht allein bei den Neurologen: Auch die Apotheken tragen einen entscheidenden Anteil an der Versorgungsqualität – in einem Feld, das sich zwischen Fortschritt und Unsicherheit neu austariert.

Von Engin Günder, Fachjournalist

 

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