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Steuer & Recht - Zivilrecht
Mit am 11. März 2016 verkündetem Urteil hat die 10. Zivilkammer des Landgerichts Hannover die Klage einer Frau auf Schadensersatz und Schmerzensgeld im Zusammenhang mit einem Sturz im Linienbus der Beklagten abgewiesen.
Dem Rechtsstreit lag im Wesentlichen folgender Sachverhalt zugrunde:
Die seinerzeit 48-jährige Klägerin bestieg am Morgen des 8. Juli 2014 den Linienbus der Beklagten an der Haltestelle Hölty-Gymnasium in Wunstorf. Nach Vorzeigen der Fahrkarte ging sie mit einer Tüte in jeder Hand an mehreren - der Behauptung nach - belegten Sitzplätzen vorbei durch den Mittelgang des Busses und steuerte einen freien Sitzplatz im Bereich um die vierte Sitzreihe an. Zu dieser Zeit stand der Bus noch an der Haltestelle. Als der Fahrer des Busses anschließend - wie die Klägerin meinte: ruckartig - anfuhr, um die Haltestelle zu verlassen, stürzte die Klägerin im Mittelgang, da sie keinen sicheren Halt hatte. Der Fahrer hielt den Bus daraufhin nicht an, sondern fuhr bis zur nächsten Haltestelle weiter und kontaktierte dort den Rettungsdienst. Nach dessen Eintreffen wurde die Klägerin erstversorgt und sodann zu einem Arzt gebracht. Infolge des Sturzes erlitt die Klägerin erhebliche Schmerzen und zog sich eine Quadrizepssehnenruptur unter vollständigem Abriss der Patella rechts zu, die im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes operativ sowie im Anschluss daran für sechs Wochen postoperativ durch Tragen einer Orthese behandelt worden ist. Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin im Wesentlichen ein Schmerzensgeld von 5.000,00 Euro sowie verletzungsbedingte Mehraufwendungen von 5.827,90 Euro.
Die 10. Zivilkammer des Landgerichts Hannover hat die Klage abgewiesen, da verschuldensabhängige Ansprüche mangels Pflichtverletzung des Busfahrers nicht bestünden und eine Gefährdungshaftung wegen anspruchsausschließenden Mitverschuldens der Klägerin nicht gegeben sei.
Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme konnte die klägerische Behauptung eines besonders ruckartigen Anfahrens des Busses zur Überzeugung der Kammer entkräftet werden. Der Busfahrer hatte aus Sicht der Kammer überzeugend ausgeführt, das Gaspedal beim Anfahren nur leicht angetippt zu haben, wodurch die Haltestellenbremse gelöst worden und der Bus nur mit dem sog. Kraftschluss des Leerlaufes ohne weiteres Gasgeben geradeaus angefahren sei. Erst nach Verlassen der Haltestelle und nach dem Sturz der Klägerin habe er Gas gegeben. Im unmittelbaren Haltestellenbereich habe er wegen des nahen Gymnasiums stets mit über die Straße laufenden Schülern rechnen müssen.
Der durch den Kraftschluss des Leerlaufes bei Linienbussen entstehende allgemeine Anfahrtruck sei zudem üblich. Hiermit müsse ein Fahrgast grundsätzlich rechnen und sein Verhalten darauf einstellen. Tut er dies nicht, begründe dies keinen Schuldvorwurf.
Ebenso sei dem Busfahrer nicht vorwerfbar, dass er sich auf die mit dem Anfahren verbundenen Tätigkeiten konzentriert und die Klägerin nicht weiter beobachtet hatte. Der Fahrer eines Linienbusses dürfe aus Sicht der 10. Zivilkammer darauf vertrauen, dass Fahrgäste im eigenen Interesse ihrer Verpflichtung nachkommen, sich stets einen festen Halt zu verschaffen. Etwas anderes gelte ausnahmsweise dann, wenn für den Busfahrer leicht erkennbare Anhaltspunkte bestehen, dass der zugestiegene Fahrgast nicht in der Lage sein könnte, den normalerweise zugrunde zulegenden Anforderungen, sich einen sicheren Halt zu verschaffen, zu genügen. Nur in solchen Fallkonstellationen wie bei einer ohne weiteres erkennbaren schweren Behinderung, die dem Fahrer eine Vorsichtsmaßnahme geradezu aufdrängen muss, könne verlangt werden, dass er sich vor dem Anfahren darüber vergewissert, dass der Fahrgast nicht der Gefahr ausgesetzt ist, zu stürzen. An solchen Anhaltspunkten fehle es hier jedoch: Die Klägerin war weder bewegungsmotorisch eingeschränkt noch habe ihr mittleres Alter zu erhöhter Aufmerksamkeit gezwungen. Auch eine „Behinderung“ der Klägerin durch ein (etwaig) für den Fahrer erkennbar erhebliches Gewicht der Einkaufstüten sei nicht als relevante Behinderung anzusehen. Es handele sich insoweit nämlich in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht um eine zwingende, unbehebbare Behinderung, welcher nur durch Rücksichtnahme seitens des Fahrers abgeholfen werden konnte. Vielmehr hätte sich die Klägerin im Interesse ihrer eigenen Sicherheit beispielsweise mit einer Tüte zu dem angestrebten Sitzplatz begeben und sich dabei mit einer Hand festhalten, sodann die Tüte abstellen und die zweite Tüte nachholen können, oder aber sich beim Fahrer erkundigen können, ob der Bus noch so lange halten werde, dass sie mit beiden Tüten den angestrebten Sitzplatz erreichen werde. Konnte die Klägerin daher selbst in zumutbarer Weise für ihre Sicherheit sorgen, so habe sich für den Busfahrer nicht die Überlegung aufdrängen müssen, dass die Klägerin beim Anfahren möglicherweise stürzen werde. Daher sei er nicht verpflichtet gewesen, sie nach Vorzeigen des Fahrausweises weiter zu beobachten. Hielte man den Fahrer für verpflichtet, derartige Beobachtungen bei jeglichen Fahrgästen mit Gepäckstücken anzustellen, auch wenn sich kein Hinweis auf eine unbehebbare Behinderung des Fahrgastes ergibt, so würde das in unvertretbarem Maß seine Aufmerksamkeit von der Beobachtung derjenigen Vorgänge ablenken, welche er im Interesse der Verkehrssicherheit im Auge behalten muss.
Aufgrund der vorgenannten Erwägungen scheide schließlich auch eine verschuldens-unabhängige Haftung der Beklagten nach dem Straßenverkehrsgesetz aus. Das ganz überwiegende Eigenverschulden der Klägerin an dem Sturz und den daraus resultierenden Folgen lasse die von der Beklagten zu vertretende Betriebsgefahr des Linienbusses vollständig zurücktreten und führe zur alleinigen Haftung der Klägerin für die Folgen des Unfalls.
Fahrgästen im öffentlichen Personennahverkehr ist daher im eigenen Interesse angeraten, stets unmittelbar nach Zustieg festen Halt zu suchen.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig.
LG Hannover, Urteil 10 O 75/15 vom 11.03.2016
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