Rezeptur-Retax und BSG-Urteil, Apothekeneinkaufspreise und Anbruch-Streit, AOK Nordwest und Teilmengenpläne
Das aktuelle Urteil des Bundessozialgerichts zur Abrechnung von Rezepturen setzt einen markanten Akzent gegen eine restriktive Retaxpraxis mancher Krankenkassen. Im konkreten Fall hatte die AOK Nordwest elf Verordnungen einer westfälischen Apotheke gekürzt, weil in den Rezepturen unter anderem das nicht verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel Mitosyl und das Kosmetikum Neribas verarbeitet wurden und jeweils nur ein Teil der kleinsten verfügbaren Packungsgrößen tatsächlich in der Rezeptur landete. Die Kasse wollte deshalb nur anteilige Einkaufspreise anerkennen und verwies auf das Wirtschaftlichkeitsgebot sowie auf die vom Hersteller angegebene Haltbarkeit der Anbrüche. Aus Sicht der Apotheke war dieses Vorgehen weder praktisch handhabbar noch rechtlich gedeckt, weil für jede Rezeptur gesondert Ware beim Großhandel bestellt und verarbeitet wurde und eine verlässliche Planung weiterer Verordnungen nicht möglich war. Bereits an diesem Punkt prallten zwei sehr unterschiedliche Lesarten der Arzneimittelpreisverordnung und der Hilfstaxe aufeinander.
Das Bundessozialgericht bestätigte die Linie der Vorinstanzen und stellte klar, dass bei Rezepturen vom Einkaufspreis der üblichen Abpackung auszugehen ist, selbst wenn diese nicht vollständig verbraucht wird. Der Wortlaut und die Systematik des § 5 AMPreisV bieten nach Auffassung der Richter keine Grundlage für eine nachträgliche Aufteilung der Einkaufspreise auf Teilmengen. Entscheidend sei, dass die Preisbildung an real existierenden Packungsgrößen ausgerichtet bleibt, für die Apothekeneinkaufspreise mit vertretbarem Aufwand feststellbar sind. Fiktive, aus der verarbeiteten Menge rückgerechnete Einzelpreise würden dagegen ein neues, im Verordnungstext nicht angelegtes Berechnungsmodell darstellen. Die Argumentation der Kasse, Anbrüche könnten über einen längeren Zeitraum wirtschaftlich genutzt werden, blieb auch deshalb ohne Erfolg, weil diese Nutzung weder beweisbar dokumentiert noch im System der Preisvorschriften abgesichert ist.
Die praktische Dimension spielte in der gerichtlichen Würdigung eine zentrale Rolle. Das Sozialgericht hatte bereits darauf hingewiesen, dass Rezepturen aus Anbrüchen mit verkürzter Haltbarkeit im Ergebnis zu früheren Neuverordnungen führen können, wenn das Verfalldatum erreicht ist, bevor der medizinische Bedarf endet. Eine pauschale Pflicht, Anbrüche über Monate vorzuhalten und gezielt für kommende Rezepturen einzuplanen, blendet reale Abläufe in Apotheken aus, in denen Kundennachfrage, Verordnungsverhalten und Lagerkapazitäten nie vollständig vorhersehbar sind. Das Bundessozialgericht griff diese Überlegungen auf und sah keine tragfähige Grundlage, aus dem allgemeinen Wirtschaftlichkeitsgebot eine Pflicht zur systematischen Resteverwertung abzuleiten. Damit rückte das Gericht die Funktionsfähigkeit der Rezepturversorgung in den Mittelpunkt, statt sie an idealisierten Annahmen über Haltbarkeit, Abrufe und planbare Folgeverschreibungen auszurichten.
Für Apotheken reicht die Bedeutung des Urteils deutlich über den Streitwert des Einzelfalls hinaus. Retaxationen wegen angeblich überhöhter Abrechnung von Fertigarzneimittel-Anbrüchen hatten in der Praxis zu spürbarer wirtschaftlicher Unsicherheit geführt, zumal schon mittlere Stoffkosten bei häufiger Beanstandung die Rentabilität einer Rezepturabteilung gefährden können. Mit der nun bestätigten Auslegung des § 5 AMPreisV entsteht eine klarere Kalkulationsbasis, auf deren Grundlage Personal, Ausstattung und Lagerhaltung geplant werden können. Gleichzeitig sendet das Urteil ein Signal an die Verhandlungspartner im Rahmenvertrag und im GKV-Spitzenverband, dass Sparmodelle, die eine völlig neue Berechnungslogik konstruieren, nicht ohne ausdrückliche vertragliche oder verordnungsrechtliche Grundlage durchsetzbar sind. Spannungen ergeben sich vor allem im Hinblick auf die Pläne des Bundesgesundheitsministeriums, in der AMPreisV ausdrücklich eine Teilmengenlogik für die Verarbeitung von Fertigarzneimitteln in Rezepturen zu verankern. Kommt eine solche Änderung, stellen sich neue Konfliktfragen, etwa beim Umgang mit unvermeidlichen Verwerfungen, nicht weiter verwendbaren Restmengen und zusätzlichen Dokumentationspflichten.
Für die Standesvertretungen der Apotheken, allen voran den Apothekerverband Westfalen-Lippe, ist die Entscheidung ein sichtbarer Erfolg. Der Verband kann Mitgliedsapotheken zeigen, dass sich der lange Atem in Musterverfahren lohnt und dass Gerichte bereit sind, die praktische Realität in Apotheken gegen schematische Sparmodelle der Kassen zu gewichten. Das stärkt die Verhandlungsmacht und beeinflusst laufende Verfahren wie die Klage einer Münsteraner Apotheke gegen die AOK Nordwest, die nun auf ein klares höchstrichterliches Signal zurückgreifen kann. Langfristig dürfte das Urteil die Bereitschaft stützen, Rezepturarbeitsplätze nicht allein aus wirtschaftlichen Sorgen zurückzufahren, sondern als eigenständige Versorgungsleistung zu erhalten. Zwischen rechtlicher Klarheit, politischer Reformbereitschaft und ökonomischem Druck entsteht damit ein neues Gleichgewicht, in dem Rezepturen als gestaltbarer Bestandteil des Apothekenprofils wahrgenommen werden können.
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