Reform als Systemtest, Verbundmodelle als Risiko, Abda warnt vor Arzneimittelkiosken
Die Vorlage zur Neuordnung der Versorgung ist politisch aufgeladen, weil sie im Jahr 2025 mehrere Stellschrauben gleichzeitig anfasst und damit an der Statik eines über Jahrzehnte gewachsenen Systems rüttelt. Während das Bundesgesundheitsministerium eine „Modernisierung“ betont, liest die Standesvertretung darin vor allem eine Kaskade von Lockerungen, die in Summe ein anderes Marktbild erzeugen könnten. Gemeint sind Verbünde, Zweigstrukturen und externe Räume, die den Betrieb trennen, wo bislang Einheit galt, und dadurch neue Schnittstellen in Prozesse mit hoher Fehlerfolgenwahrscheinlichkeit ziehen. Die Chiffre „Arzneimittelkiosk“ steht in diesem Kontext nicht für Romantik am Rand, sondern für ein Geschäftsmodell mit geringer Tiefe, hoher Frequenz und wenig Redundanz in Qualitätssicherung. Politisch brisant ist, dass kleine Stellschrauben selten klein bleiben; wird an mehreren Punkten gleichzeitig gedreht, addieren sich Effekte, und am Ende entsteht etwas, das keiner so bestellt hat.
Die Befürchtung dahinter ist betriebspraktisch: Wo Herstellung, Prüfung, Lagerhaltung, Dokumentation und Abgabe räumlich oder organisatorisch auseinanderfallen, entsteht ein Geflecht aus Verantwortlichkeiten, das erst dann auffällt, wenn ein Fehler geschieht. Schon heute zeigen Prüfberichte, dass Medienbrüche bei Kühlkette, Betäubungsmittel-Handling oder Rezepturkennzeichnung selten isoliert auftreten, sondern in Clustern, die sich entlang von Schnittstellen ausbreiten. Wird nun die Schwelle für Zweigstrukturen abgesenkt, ohne zugleich an Qualifikation, Aufsichtstiefe und Nachweislast zu drehen, vergrößert sich der Korridor für Störungen, die später als Retax-Konflikte, Haftungsfälle oder Vertrauensverluste sichtbar werden. Zahlen wirken hier nüchtern: Ein einziger Temperaturabriss von 2–8 °C über 90 Minuten kann ganze Chargen kompromittieren, und ein falsch ausgelieferter Packungsinhalt ist kein Prozessdetail, sondern ein Patientenschaden-Risiko. Wer an dieser Stelle kleinteilig liberalisiert, muss großmaßstäblich in Qualität investieren – sonst geht die Rechnung nicht auf.
Hinzu kommt die Frage der Marktarchitektur: Verbundmodelle sind nicht per se problematisch, aber sie verändern Preis- und Mengengerüste, sobald Skaleneffekte die Oberhand gewinnen. In Deutschland stehen 2025 weiterhin wohnortnahe Versorgungsstrukturen im Vordergrund; sie sind teurer als zentralisierte Logistik, aber robuster gegen Störungen, wie Engpassjahre 2020–2023 gezeigt haben. Eine Liberalisierung, die vor allem Frequenzpunkte mit geringer Tiefe schafft, mag kurzfristig Wege verkürzen, schafft aber auf Dauer Abhängigkeiten von Backbone-Strukturen, die nicht überall belastbar sind. Ökonomisch kippt das Bild schnell: Schon eine Margenverschiebung um 0,3–0,5 Prozentpunkte bei Standardabgaben multipliziert sich bei Millionen Packungen pro Quartal zu Millionenbeträgen, die entweder in Qualitätssicherung fließen – oder aus ihr herausgezogen werden. Wer behauptet, dass das eine das andere nicht berührt, hat die Elastizität realer Budgets nicht betrachtet.
Regulatorisch steht die Debatte im Schatten der Vergangenheit: Frühere Reformversuche zielten auf mehr Flexibilität, stießen aber dort an Grenzen, wo Aufsicht, Evidenz und Patientensicherheit harte Ränder setzen. Die aktuelle Fassung nimmt Fäden auf, die schon 2023/2024 unter anderen Vorzeichen diskutiert wurden, und verknüpft sie nun mit neuen Instrumenten. Damit steigen die Anforderungen an Kohärenz: Wenn externe Räume, reduzierte Laborpflichten oder erleichterte Zweiggründungen zulässig sein sollen, brauchen sie einen gleichzeitigen Ausbau bei Qualifikationsprofilen, Kalibrier- und Wartungsregimen und eine digitale Nachweisführung, die auditfest ist. Es genügt nicht, Kapazität zu „entfesseln“, wenn Nachweislasten analog bleiben; dann entstehen genau jene Schattenzonen, in denen Fehler unbemerkt durchrutschen. Ein Systembruch ist nicht ein einzelner Paragraf, sondern die Summe unverbundener Freiheiten, die an neuralgischen Punkten zusammenlaufen.
Schließlich geht es um Vertrauen, das in Zahlen messbar ist: Reklamationsquoten, Beanstandungsraten, Rückrufzahlen und Zeit bis zur Fallklärung sind harte Indikatoren, die in jedem Quartal veröffentlicht oder zumindest intern erfasst werden. Sie bewegen sich nicht im Promillebereich, wenn Strukturen umgebaut werden, sondern schlagen messbar aus, bevor sich neue Routinen stabilisieren. Deswegen lautet der nüchterne Rat: Wer flexibilisiert, muss zugleich redundante Sicherungen einbauen, die Ausreißer abfangen, und die Finanzierung so ordnen, dass Qualität nicht zum Residualposten im Monatsabschluss wird. Die Abda warnt vor „Arzneimittelkiosken“, weil dort Tiefe durch Frequenz ersetzt wird; das ist kein kulturpessimistisches Bild, sondern eine Funktionsbeschreibung. Wenn Politik hier Stabilität sichern will, braucht sie klare Leitplanken, digitale Belege in Echtzeit und eine Ökonomie, die Sicherheit nicht bestraft. Andernfalls könnte aus der Idee von mehr Nähe eine Praxis mit mehr Abstand zur Sicherheit werden.
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