ApoRisk® auf Facebook ApoRisk® auf X
  • 24.07.2025 – Rezepte verkommen zur Ware, Plattformen täuschen Therapie vor, Gesetze stolpern der Wirklichkeit hinterher
    24.07.2025 – Rezepte verkommen zur Ware, Plattformen täuschen Therapie vor, Gesetze stolpern der Wirklichkeit hinterher
    APOTHEKE | Medienspiegel & Presse | Apotheken-News: Digitale Rezeptplattformen, Callcenter-Cannabis und Missbrauchsfälle bei Jugendlichen zeigen die Schattenseiten der Ges...

Für Sie gelesen

Sehr geehrte Apothekerin, sehr geehrter Apotheker,
hier ist der vollständige Text für Sie:

ApoRisk® Nachrichten - APOTHEKE:


APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |

Rezepte verkommen zur Ware, Plattformen täuschen Therapie vor, Gesetze stolpern der Wirklichkeit hinterher

 

Wie Callcenter-Cannabis, digitale Rezeptportale und Missbrauchstrends bei Jugendlichen ein System überfordern, das nach Sicherheit, Kontrolle und Verantwortung ruft

Apotheken-News: Bericht von heute

Digitale Rezeptportale, die ärztliche Verantwortung durch Callcenter-Prozesse ersetzen, ein Cannabis-Markt, der unter dem Vorwand medizinischer Versorgung Konsumstrukturen legitimiert, und eine Telemedizin-Landschaft, in der Algorithmen schneller reagieren als Aufsichtsbehörden – das digitale Gesundheitswesen läuft Gefahr, seine Legitimität zu verspielen, während Plattformanbieter regulatorische Lücken systematisch ausnutzen. Die Ärztekammern fordern Rückkehr zur Verantwortung, während Krankenkassen wie die KKH Milliardenschäden durch Betrugsmodelle melden. Gleichzeitig verlieren Apotheken ihren letzten Handlungsspielraum, wenn Rezepte automatisiert eingelöst und kritische Medikamente wie Ozempic oder Paxlovid ohne tiefere Plausibilitätsprüfung durchgeschleust werden. Hinzu kommen gesellschaftlich besorgniserregende Trends wie der Missbrauch von Diphenhydramin unter Jugendlichen und eine neue Droge im Gummibärchenformat: Fruchtgummis mit Muscimol aus Fliegenpilz sorgen für Vergiftungen und zeigen, wie schnell Konsum und Gesundheitsgefahr im digitalen Raum verschmelzen. Der Bericht analysiert, warum Telemedizin nicht verteufelt, sondern endlich gesichert werden muss – und warum ein Plattformverbot nicht reich


Die Grenze zwischen medizinischer Versorgung und bloßer Konsumbefriedigung verschwimmt im digitalen Gesundheitswesen zusehends. Rezeptportale, die binnen Minuten Cannabis auf Zuruf verschicken, Plattformen, die medizinische Autorität vortäuschen, und Callcenter-Modelle, bei denen ärztliche Beratung kaum mehr als ein technischer Ablaufpunkt ist – all das lässt erkennen, wie stark Telemedizin unter dem Druck wirtschaftlicher Interessen leidet. Besonders der Cannabis-Markt hat sich nach der Teillegalisierung zu einem Brennglas für regulatorische Schwächen und medizinische Trugschlüsse entwickelt. Dass die Union nun den Onlineversand von Blüten verbieten will, ist weniger Ausdruck strategischer Gesundheitssteuerung als vielmehr eine politische Reaktion auf Kontrollverlust.

Der Präsident der Ärztekammer Nordrhein brachte es auf den Punkt: „Das ist keine medizinische Versorgung mehr, das ist Plattform-gestützter Konsum.“ Und in der Tat: Wer auf Webseiten mit Slogans wie „Kiffen war noch nie so einfach“ binnen weniger Minuten ein ärztliches Tele-Rezept erhält, ohne echte Anamnese, ohne Differentialdiagnose, der kann nicht mehr von Gesundheitsversorgung im engeren Sinne sprechen. Die Plattformbetreiber wiederum kontern, dass sie bloß ein „digitales Angebot“ im Rahmen der Gesetzgebung liefern – und verweisen auf ihre Serverstandorte in den Niederlanden. Die rechtliche Grauzone wird zur operativen Blaupause. Und während sich Juristen mit Zuständigkeitsfragen plagen, bauen die Betreiber ihre Strukturen längst grenzüberschreitend aus.

Dasselbe Prinzip zeigt sich auch bei der Rezeptierung anderer Substanzen. Diphenhydramin, ein Antihistaminikum, wird in den USA zunehmend von Jugendlichen missbraucht – nicht selten im Rahmen viraler Challenges. Die Zahl der vorsätzlichen Überdosierungen hat sich binnen eines Jahrzehnts fast verdoppelt. Und was in sozialen Netzwerken kursiert, macht auch vor europäischen Bildschirmen nicht halt. Zwar ist Diphenhydramin in Deutschland meist apothekenpflichtig, doch über den Graumarkt digitaler Angebote oder durch irreführende Produktbeschreibungen wird auch hier der Zugang erleichtert. Das Problem ist nicht die Substanz, sondern die mediale Entkopplung vom medizinischen Kontext.

Parallel dazu mehren sich Berichte über bewusst konsumierte Fruchtgummis mit Fliegenpilz-Inhaltsstoffen. Sechs Vergiftungen allein in Deutschland listet das Europäische Schnellwarnsystem für 2024. Die Produkte enthalten Muscimol – eine psychoaktive Substanz, deren Wirkung zwar bekannt, aber in der Konsumform kaum erforscht ist. Der Einstieg wirkt harmlos, der Schaden ist es nicht. Was einst als Waldmythos abgetan wurde, hat nun Eingang in die Food-Tech-Start-up-Welt gefunden. TikTok-Influencer zeigen „Trips in 20 Minuten“ – und unterschätzen dabei systematisch das toxische Potenzial.

Gleichzeitig erleben die Apotheken vor Ort, wie ihnen in dieser digitalen Scheinwelt die Versorgungsbasis entzogen wird. Die Einführung des 8-Wochen-Pens von Ozempic mag zwar auf den ersten Blick eine logistische Erleichterung sein, bedeutet aber auch eine weitere Abkehr von klassischer Beratung: Weniger Kontakte, weniger Aufklärung, weniger Rückfragen. Wenn dann auch noch Plattformen wie DoktorABC rezeptpflichtige Medikamente ohne tiefergehende Prüfung verschicken, wird das Modell „Rezept auf Zuruf“ zur realen Gefahr.

Hinzu kommen Fälle wie in München, wo eine Apothekerin und ein Apothekenangestellter unter dem Verdacht stehen, Paxlovid illegal veräußert zu haben. Der Verdacht der Untreue steht im Raum. Die Ermittlungen laufen. Zugleich klagt Apotheker Norbert Peter aus Berlin über eine zunehmende Kostenverlagerung durch Großhändler – diese lagern ihre digitalen Prozesskosten schlicht auf die Apotheken ab. Eine Digitalisierung, die Effizienz nur auf Lieferantenseite bringt, aber Apotheken finanziell belastet, kann nicht als Fortschritt gelten. Und im Hintergrund zerbröckeln immer mehr Notdienstkreise: KI-gestützte Verteilung mag auf dem Papier funktionieren, doch wenn Apotheken vor Ort schließen, kollabiert das Modell.

Diese strukturellen Brüche schlagen sich auch in den Zahlen nieder. Die KKH Kaufmännische Krankenkasse meldet für 2024 ihren bislang höchsten Schaden durch Abrechnungsbetrug: 5,4 Millionen Euro. Ambulante Pflegedienste stehen ganz oben auf der Liste – doch auch der Arzneimittelbereich folgt mit weitem Abstand. Zwar betrifft das nur wenige Apotheken, aber der Schaden für die Branche ist reputativ enorm. Einzelfälle reichen, um pauschales Misstrauen zu säen. Und während Ministerien und Krankenkassen mit der Aufarbeitung beschäftigt sind, fehlt vielerorts das Personal, um Missbrauch strukturell zu verhindern.

Und so stellt sich die Frage nach der Zukunft von Telemedizin nicht länger hypothetisch. Sie wird jetzt beantwortet – von Plattformen, die schneller skalieren als der Gesetzgeber reagiert, von Patienten, die Versorgung mit Erlebnis verwechseln, und von einem System, das sich scheut, klare Grenzen zu ziehen. Zwischen Therapie und Konsum, zwischen Schutzpflicht und Marktlogik, zwischen Verantwortung und technischer Bequemlichkeit.

Was bleibt, ist der Ruf nach Haltung. Nach einer digitalen Gesundheitsarchitektur, die Verantwortung nicht outsourct, sondern verankert. Die Telemedizin nicht abschafft, sondern schützt – vor sich selbst. Denn wenn das Rezept zur Ware wird, ist es nur noch ein Klick bis zur Entwertung des gesamten Systems.

Die juristische Nachjustierung lässt auf sich warten – und wo sie erfolgt, wirkt sie inkonsequent. Das zeigt exemplarisch das Gerichtsverfahren gegen eine Plattform, die Cannabis-Telekonsultationen durchführt. Die Argumentation der Betreiber: Sie stellen lediglich die technische Infrastruktur zur Verfügung. Die ärztliche Leistung erfolgt formal durch unabhängige Mediziner, die sich über die Plattform buchen lassen. Das erinnert stark an alte Tricks der Scheinselbstständigkeit – mit dem Unterschied, dass hier nicht die Arbeitskraft, sondern die ärztliche Legitimation zur Disposition steht. Und da das Rezept am Ende formal korrekt ist, tun sich die Aufsichtsbehörden schwer, eine Handhabe zu finden.

Dass sich Plattformmedizin auf diese Weise etabliert, hat auch mit der Sprachlosigkeit vieler Akteure zu tun. Während die Bundesärztekammer warnend den Zeigefinger hebt, bleibt das Bundesgesundheitsministerium in seinen Äußerungen auffällig zurückhaltend. Die Sorge, durch regulatorische Eingriffe als digitalfeindlich zu gelten, überlagert offenbar die Verpflichtung zur Schutzverantwortung. Dabei geht es längst nicht mehr nur um Cannabis oder Antihistaminika – sondern um das Prinzip: Wer definiert medizinische Indikation in einer Welt, in der Klickzahlen stärker wirken als Leitlinien?

Selbst in traditionell gut strukturierten Bereichen wie der Rezeptabrechnung beginnt die Fassade zu bröckeln. Der Fall der KKH zeigt, wie fragil selbst etablierte Mechanismen sind. Ein Schaden von 5,4 Millionen Euro mag bei einer bundesweit agierenden Krankenkasse kein Totalschaden sein – aber ein Alarmsignal ist er allemal. Insbesondere, wenn der Arzneimittelsektor eine wachsende Rolle spielt. Die klassischen Kontrollmechanismen greifen zu spät, das Vertrauen in die Selbstregulierung sinkt, und der mediale Reflex auf einzelne Skandale lässt ganze Berufsgruppen in Misskredit geraten.

Im Kern steht eine Verlagerung der Verantwortungsfrage: Weg von den Versorgern, hin zu Plattformen, Algorithmen und Dienstleistern, die im Zweifel nicht einmal einer medizinischen Kammer zugeordnet sind. Wer heute ein Rezept auf Zuruf vermittelt, ist formal nicht Arzt, Apotheker oder Heilberufler – sondern IT-Unternehmer, Projektverantwortlicher oder Systemanbieter. Damit aber droht die Auflösung der klassischen Versorgungsarchitektur. Und wer das als Fortschritt bezeichnet, verwechselt Digitalisierung mit Deregulierung.

Gleichzeitig zeigen Entwicklungen wie die Einführung des Ozempic-8-Wochen-Pens, wie sehr Industrie, Markt und Regulatorik auf Effizienz getrimmt sind – mit teils gravierenden Folgen für die Versorgungstiefe. Weniger Kontakte bedeuten weniger Kontrollmomente, weniger Nachfragen, weniger Plausibilitätsprüfung. Wenn dann parallel das klassische Modell des pharmazeutischen Beratungsgesprächs unter Druck gerät – etwa durch Lieferverzögerungen, Personalengpässe oder schlichtweg Zeitmangel –, verlieren zentrale Schutzmechanismen ihre Wirksamkeit.

Besonders kritisch ist dies im Hinblick auf neue, wenig erforschte Substanzformen. Die „Fliegenpilz-Gummis“ sind kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines Trends zur psychosubstanziellen Freizeitgestaltung mit vermeintlich harmlosen Produkten. Dass dabei bewusst ein Graubereich zwischen Nahrungsergänzung, Novel Food und Arzneimittel betreten wird, ist Teil des Geschäftsmodells. Die rechtliche Einordnung bleibt diffus, das Verbraucherschutzniveau niedrig – und die Gesundheitsgefahr real. Der Muscimol-Gehalt solcher Produkte kann stark schwanken, Überdosierungen sind schwer kontrollierbar, und Wechselwirkungen mit anderen Substanzen kaum abschätzbar.

In der Bevölkerung wächst indes der Wunsch nach Sicherheit – nach nachvollziehbaren, validierten Strukturen, die Schutz bieten, ohne Innovation zu blockieren. Doch die politische Reaktion ist zumeist verspätet und unpräzise. Die Diskussion über die Cannabisblüten-Versandverbote etwa fokussiert auf Symptome, nicht auf Ursachen. Anstatt einheitliche Qualitäts- und Prüfstandards für Telemedizinformate zu etablieren, wird versucht, einzelne Produkte aus dem Verkehr zu ziehen – mit zweifelhaftem Erfolg. Denn die Plattformen reagieren schnell, verlagern Standorte, ändern Domains, passen Marketingstrategien an. Es ist ein Spiel auf Zeit – und der Gesetzgeber läuft hinterher.

Dass dabei auch die stationären Apotheken unter Druck geraten, ist kein Kollateralschaden, sondern systemische Folge. Wenn Patienten ihre Medikation zunehmend digital organisieren – ohne persönliche Rückfragen, ohne lokale Ansprechpartner – verlieren Apotheken ihre Rolle als Schutzfilter. Gleichzeitig sollen sie aber weiterhin Versorgungslücken schließen, Notdienste leisten, Aufklärungsarbeit übernehmen und digitale Anwendungen mittragen. Dieser Spagat ist auf Dauer nicht durchhaltbar.

Und selbst dort, wo Apotheken innovativ agieren – etwa bei pharmazeutischen Dienstleistungen oder durch Digitalisierung interner Prozesse –, fehlt oft die strukturelle Rückendeckung. Apotheker wie Norbert Peter beklagen, dass Digitalisierung nicht partnerschaftlich gedacht wird, sondern als Instrument der Verlagerung: Die Großhändler sparen sich Logistik, indem sie Datenweiterverarbeitung auf die Apotheken übertragen. Die Einsparungen bleiben bei den Lieferanten – die Belastungen landen beim Betrieb vor Ort.

Noch gravierender ist die Situation bei den Notdiensten. Die Idee, Dienste über KI-Algorithmen gleichmäßiger zu verteilen, klingt auf dem Papier sinnvoll. Doch wenn durch Schließungen ganzer Apotheken die Versorgungsfläche schrumpft, funktioniert die Verteilung schlichtweg nicht mehr. Systeme wie SEDA, die auf bestehenden Netzwerken basieren, geraten dann an ihre Grenzen. Was bleibt, ist Improvisation – und ein wachsendes Gefühl von Kontrollverlust.

In dieser Gemengelage fällt auf, wie sehr sich die gesundheitspolitische Kommunikation auf Nebenschauplätze verlegt. Während Ministerien um Zuständigkeiten bei Plattformkontrollen ringen, gehen fundamentale Fragen unbeantwortet unter: Wie lässt sich medizinische Indikation im digitalen Raum verbindlich definieren? Wer trägt haftungsrechtlich Verantwortung, wenn ein KI-generiertes Rezept auf fehlerhafter Datenbasis erfolgt? Und wie verhindert man, dass telemedizinische Strukturen von marktorientierten Unternehmen als verkaufsfördernde Durchreiche instrumentalisiert werden?

Statt auf diese zentralen Fragen klare Antworten zu liefern, driften Politik, Selbstverwaltung und Versorgungsrealität weiter auseinander. Dabei wäre genau jetzt der Zeitpunkt, Telemedizin durch klare Regelwerke und integrative Schutzsysteme zu legitimieren – nicht, um sie zu bremsen, sondern um ihr Zukunftspotenzial abzusichern. Es geht nicht um ein Entweder-oder zwischen analog und digital, sondern um eine Verschränkung beider Welten. Aber dafür braucht es eine strategische Vision, die bislang fehlt.

Währenddessen zeigen empirische Daten, dass Missbrauchsformen bei Jugendlichen nicht nur häufiger, sondern auch raffinierter werden. In den USA stieg die Zahl absichtlicher Diphenhydramin-Überdosierungen unter Jugendlichen von etwa 1.700 Fällen im Jahr 2012 auf knapp 3.200 im Jahr 2022. Besonders auffällig: Der Missbrauch findet oft unter Gruppendruck statt, motiviert durch virale Trends, bei denen Ohnmachtsanfälle oder Halluzinationen als Mutprobe gelten. Die Substanz, ursprünglich ein rezeptfreies Schlaf- und Allergiemittel, wird so zur Eintrittsdroge in eine gefährliche Challenge-Kultur – ein digital verstärktes Konsummuster, das auch europäische Jugendliche zunehmend beeinflusst.

Hinzu kommt die fehlende Prävention bei neuartigen Produkten wie Fliegenpilz-Gummis. Weder das Lebensmittelrecht noch das Arzneimittelgesetz greifen hier konsequent. Die rechtliche Grauzone ermöglicht Marketingstrategien, die gezielt auf neugierige, risikofreudige Zielgruppen abzielen – insbesondere im Spannungsfeld zwischen Naturprodukt-Romantik und bewusstseinserweiternden Selbstversuchen. Die Giftzentralen schlagen längst Alarm, doch politische Reaktionen bleiben zögerlich.

Diese strukturelle Passivität offenbart sich auch in der mangelhaften Digitalisierungskontrolle. Zwar fordern fast alle politischen Parteien einen „sicheren digitalen Raum für Gesundheitsversorgung“, doch die Umsetzung scheitert an föderalen Flickenteppichen, Budgetverzögerungen und unklaren Verantwortlichkeiten. Die Plattformisierung schreitet trotzdem voran. Und sie geschieht nicht im Sinne der Patienten, sondern im Interesse der Geschäftsmodelle: Rezepte werden zu Klickprodukten, Konsultationen zu Verkaufsimpulsen, Patientenakten zu Monetarisierungsquellen.

Die Folge: ein rapider Vertrauensverlust. Patienten wissen zunehmend nicht mehr, ob ihr Rezept tatsächlich auf einer medizinischen Notwendigkeit basiert oder ob die digitale Anwendung im Hintergrund primär dem Umsatz dient. Für Apotheken stellt sich die Herausforderung doppelt: Sie sollen Rezepturen prüfen, Missbrauchsindikatoren erkennen und gleichzeitig ein Wirtschaftlichkeitsgebot einhalten, das auf Effizienz getrimmt ist – ohne Rücksicht auf psychologische, soziale oder suchtmedizinische Kontexte.

Ein besonders prägnantes Beispiel für die Entwertung medizinischer Legitimation ist der Bereich Cannabis. Die Blütenfreigabe war politisch als Entkriminalisierung gedacht, nicht als Markteintrittskanal für Versorgungsfremde. Doch genau das ist geschehen. Plattformen bewerben Tele-Cannabis wie Fast-Fashion-Produkte. Und weil es formaljuristisch keine exakte Differenzierung zwischen medizinischem und rekreativem Konsum gibt – solange ein Arzt unterschreibt –, zerfällt die Schutzfunktion der ärztlichen Indikation in ihre Einzelteile. Die ärztliche Entscheidung wird zur Dienstleistung, abrufbar wie ein Paketdienst. Der medizinische Ernst geht verloren.

Auch das Tempo, mit dem neue Plattformen entstehen, beunruhigt. Jede Woche registrieren sich neue Anbieter mit Namen, Logos und Werbebotschaften, die Professionalität suggerieren, aber inhaltlich nicht halten. Einige agieren von den Niederlanden aus, andere über verschachtelte Serverstrukturen mit fragwürdigen Datenschutzklauseln. Für die Aufsichtsbehörden ist es kaum mehr möglich, einen systematischen Überblick zu behalten – geschweige denn, wirkungsvoll einzugreifen. Die Realität: Die Regulierung arbeitet analog, die Risiken skalieren digital.

Und dennoch: Die Zukunft ist nicht verloren. Telemedizin kann ein wertvoller Teil des Versorgungssystems sein – wenn sie regulativ durchdacht, ethisch fundiert und strukturell eingebettet wird. Es braucht Leitplanken, keine Schranken. Aber dafür braucht es Mut zur Klarheit. Die Politik muss definieren, was medizinische Versorgung im digitalen Zeitalter bedeutet – und was nicht. Sie muss klären, wer Verantwortung trägt – nicht nur im Schadensfall, sondern im täglichen Prozess. Und sie muss bereit sein, die Grenzen des Marktes dort zu ziehen, wo er beginnt, Gesundheit zur Ware zu machen.

Die Konsequenzen einer halbherzigen Regulierung zeigen sich in drei Dimensionen: medizinisch, gesellschaftlich, systemisch. Medizinisch, weil Indikationsstellungen durch Plattformen zunehmend standardisiert, entpersonalisiert und ökonomisch verzerrt erfolgen. Gesellschaftlich, weil Vertrauen in Gesundheitsakteure schwindet, wenn Beratung durch automatisierte Prozesse ersetzt wird. Und systemisch, weil sich staatliche Institutionen bei der Kontrolle digitaler Gesundheitsanbieter selbst marginalisieren – aus Mangel an Ressourcen, Wissen oder politischem Willen.

Dabei existieren bereits fundierte Vorschläge zur Absicherung von Telemedizin. Der Sachverständigenrat empfiehlt, ärztliche Leistungen in Plattformstrukturen nur zu vergüten, wenn eine nachvollziehbare Dokumentation der medizinischen Notwendigkeit erfolgt. Auch Kammerstrukturen ließen sich digital erweitern, etwa durch verpflichtende Tele-Kammernummern, die jede digitale Konsultation mit einer realen ärztlichen Identität verknüpfen. Was fehlt, ist nicht das Wissen, sondern die Priorisierung. Digitalisierung wird verwaltet, nicht gestaltet.

Diese Haltung gefährdet nicht nur das ärztliche Berufsbild, sondern auch die Rolle der Apotheke als letzte Kontrollinstanz im System. Wenn Rezepte automatisiert generiert und ohne Rückfragen eingelöst werden, verliert die Apotheke nicht nur Handlungsspielraum, sondern auch Verantwortung. Das ist doppelt fatal: Denn bei Plattformrezepten haftet im Ernstfall häufig der letzte Glied in der Kette – also die Apotheke. Und das, obwohl sie keinen Einfluss auf Indikation, Beratung oder Dosierung hatte. Diese asymmetrische Risikoallokation ist nicht tragbar.

Gerade deshalb wäre eine Rückbesinnung auf den Kooperationsgedanken entscheidend: Ärzte und Apotheker als Tandem der Versorgung, digital ergänzt, aber nicht entkoppelt. Telemedizinische Leistungen könnten gezielt eingebunden werden – etwa bei Folgerezepterstellung nach etablierter Therapie, bei Patienten mit bekannter Medikation oder bei eng geführten Chronikern. Wo aber Erstdiagnosen, sensible Substanzen oder missbrauchsanfällige Indikationen im Spiel sind, braucht es persönliche ärztliche Verantwortung – kein Callcenter.

Und die Gesellschaft? Sie steht an einem Scheideweg. Wird Digitalisierung zum Beschleuniger gesundheitlicher Emanzipation – oder zum Brandbeschleuniger eines deregulierten Marktes? Bisher deutet vieles auf Letzteres hin. Der reflexhafte Ruf nach „mehr digital“ ersetzt kein durchdachtes „digital richtig“. Plattformanbieter agieren längst mit der Geschwindigkeit internationaler Finanzmärkte – mit Venture Capital, Performance-Marketing und A/B-getesteten Rezeptstrecken. Die Regulatorik hingegen kommt aus dem Behördenjahr 2002. Das Ergebnis ist ein System mit Software der Zukunft und Aufsicht der Vergangenheit.

Die Antwort auf diese Schieflage ist kein technophober Rückzug, sondern ein gestaltungsstarker Vorstoß. Apotheken, Ärztekammern, Krankenkassen und Politik sollten gemeinsam ein digitales Gesundheitskodex erarbeiten – mit verpflichtenden Standards, transparenter Rezeptnachverfolgbarkeit, haftungssicheren Schnittstellen und unabhängiger Zertifizierung. Nur so kann Telemedizin Vertrauen zurückgewinnen.

Denn Digitalisierung braucht kein „Weniger“. Sie braucht „Besser“. Und dieses Besser beginnt mit Verantwortung – nicht mit Klickrate.

Dies ist kein Schluss, der gelesen werden will – sondern eine Wirkung, die bleibt, wenn das Verstehen längst vorbei ist. Was nicht gesagt wurde, wirkt trotzdem. Nicht für alle. Nur für jene, die hören, was zwischen den Sätzen spricht.

Was wir derzeit erleben, ist keine digitale Transformation, sondern eine strukturelle Transplantation: medizinische Entscheidungen werden aus den Händen derer genommen, die dafür ausgebildet wurden, und jenen übergeben, die gelernt haben, sie technisch zu imitieren. Die Entscheidungskraft wandert – vom ärztlichen Urteil zum Algorithmus, vom individuellen Gespräch zum universellen Formular, vom Fürsorgegedanken zum Geschäftsmodell.

Doch Gesundheitsversorgung ist kein Marktprodukt. Sie ist eine ethische Beziehung – und muss als solche verteidigt werden. Wer Telemedizin retten will, muss sie von ihren falschen Freunden befreien. Es reicht nicht, digitale Angebote zu legalisieren. Sie müssen legitimiert werden – durch Sorgfalt, Transparenz und eine klare Grenze zwischen Heilung und Handel.

Darin liegt die eigentliche Zukunft: Nicht in der Frage, ob Telemedizin bleibt. Sondern, welche Telemedizin bleiben darf.

 

Zurück zur Übersicht

Kontakt
Jetzt Ihr persönliches Angebot anfordern!
Rückrufservice
Gerne rufen wir Sie zurück!
Suche
  • Pharmarisk® OMNI: Die Allrisk-Police zu Fixprämien
    Pharmarisk® OMNI: Die Allrisk-Police zu Fixprämien
    Allgefahrenschutz online berechnen und beantragen

Wir kennen Ihr Geschäft, und das garantiert Ihnen eine individuelle und kompetente Beratung.

Sie haben einen Beruf gewählt, der weit mehr als reine Erwerbstätigkeit ist. Sie verfolgen im Dienste der Bevölkerung hohe ethische Ziele mit Energie, fachlicher Kompetenz und einem hohen Maß an Verantwortung. Um sich voll auf Ihre Aufgabe konzentrieren zu können, erwarten Sie die optimale Absicherung für die Risiken Ihrer Berufsgruppe.

Sie suchen nach Möglichkeiten, Ihre hohen Investitionen zu schützen und streben für sich und Ihre Angehörigen nach einem angemessenen Lebensstandard, auch für die Zukunft.

  • Die PharmaRisk® FLEX
    Die PharmaRisk® FLEX
    Eine flexible Versicherung für alle betrieblichen Gefahren
Nutzen Sie unsere Erfahrung und rufen Sie uns an

Unter der kostenfreien Telefonnummer 0800. 919 0000 oder Sie faxen uns unter 0800. 919 6666, besonders dann, wenn Sie weitere Informationen zu alternativen Versicherern wünschen.

Mit der ApoRisk® FirmenGruppe steht Ihnen ein Partner zur Seite, der bereits viele Apothekerinnen und Apotheker in Deutschland zu seinen Kunden zählen darf. Vergleichen Sie unser Angebot und Sie werden sehen, es lohnt sich, Ihr Vertrauen dem Versicherungsspezialisten für Ihren Berufsstand zu schenken.

  • Die PharmaRisk® CYBER
    Die PharmaRisk® CYBER
    Eine einzige Versicherung für alle Internetrisiken