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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |
Apotheken-News von heute –
Apotheken geraten am 23. Juni 2025 in ein strategisches Spannungsfeld, das weit über einzelne Reformbaustellen hinausweist: Geschäftsmodelle müssen neu gedacht, Kundenbeziehungen individueller gestaltet und Versicherungskonzepte der digitalen Gegenwart angepasst werden, während zugleich gerichtliche Korrekturen, Versorgungsrisiken und Präventionsdefizite Druck erzeugen. Dass die Apothekerkammer Nordrhein zur Rückzahlung überhöhter Rücklagen verpflichtet wird, zeigt eine tiefgreifende Vertrauenskrise der Standesvertretung, die sich von der ökonomischen Realität ihrer Mitglieder entfernt hat. Gleichzeitig markiert ein BGH-Beschluss zu Off-Label-Zwangsmedikation die juristische Grenzziehung ärztlicher Eingriffe, während ein Teaser-Ereignis aus der Schmerzforschung dokumentiert, wie stark Bildschirmzeit, Klimareize und soziale Dauerbelastung heute Kopfschmerzsymptome verstärken. Dass Generikahersteller unter diesem Marktdruck ihre Versorgungsfunktion kaum noch aufrechterhalten können, wird durch neue Umweltauflagen weiter verschärft – was politisches Handeln erzwingt. Der OTC-Switch von Naloxon, das 125-jährige Noventi-Jubiläum und die Debatte um richtige Wundversorgung runden einen Tag ab, der nicht bloß Reformnot zeigt, sondern Richtungsfragen stellt.
Strategie braucht Weitsicht, Kundenbindung braucht Anpassung, Sicherheit braucht Absicherung
Warum Apotheken neue Geschäftsmodelle wagen müssen, Kunden individuell ansprechen sollten und der Versicherungsschutz im digitalen Wandel neu gedacht werden muss
Wer heute eine Apotheke führt, kann sich nicht mehr auf das traditionelle Kerngeschäft mit Rezeptpflichtigem und OTC-Produkten verlassen – zu sehr hat sich das Marktumfeld gewandelt, zu tief sind die Spuren regulatorischer Eingriffe, und zu präsent ist die digitale Konkurrenz. Apotheken sind längst keine reinen Arzneimittelabgabestellen mehr, sondern Dienstleistungs- und Kommunikationszentren im Spannungsfeld zwischen Gesundheitsversorgung, Kundenbeziehung und digitalem Wandel. Dass der Veränderungsdruck nicht nur theoretisch besteht, sondern existenziell ist, zeigt sich an den strategischen Herausforderungen, mit denen sich Apotheken täglich konfrontiert sehen – von E-Rezept-Komplexität über Preisverwerfungen bis zur Fragmentierung des Kundenkontakts. Für Dirk Opel, langjähriger Berater für Digitalisierung und E-Commerce im Apothekenbereich, steht deshalb fest: Wer bestehen will, muss diversifizieren – ökonomisch, kommunikativ und technisch.
Dass es dabei keine Schablonenlösung für alle geben kann, liegt auf der Hand. Ein Stadtteil mit wohlhabender Klientel verlangt andere Schwerpunkte als ein ländlicher Versorgungsstützpunkt mit demografischen Herausforderungen. Statt in standardisierten Kategorien zu denken, rät Opel zu einer präzisen Umfeldanalyse: Welche Kundengruppen dominieren? Welche Gesundheitsfragen bewegen das Viertel? Welche Services werden woanders vermisst? Auf dieser Grundlage lassen sich gezielte Angebote entwickeln – von exklusiver Apothekenkosmetik über Mutter-Kind-Spezialisierungen bis zu themenbezogenen Beratungsschwerpunkten wie orthomolekularer Medizin oder Ernährungscoaching. Wichtig ist nur, dass die Apotheke aufhört, alles für alle sein zu wollen – und stattdessen konsequent die Rolle einnimmt, die ihr Standort und ihre Kundschaft von ihr erwarten.
Die digitale Sichtbarkeit ist dabei kein Bonus, sondern Grundbedingung. Noch immer unterschätzen viele Apotheken, wie stark sich die Medikamentenrecherche in den digitalen Raum verlagert hat – und wie schnell sich Kundenbindung in Klickverhalten übersetzt. Wer bei einer Google-Suche nach „Gingko-Präparat“ oder „Allergiemittel“ nicht erscheint, hat keine Chance auf Conversion – auch wenn er zwei Straßen weiter besser, schneller und menschlicher beraten würde als jeder Versandhändler. Deshalb braucht es nicht nur eine gepflegte Website, sondern ein digitales Schaufenster, das Sortiment, Service und Bestelloptionen sichtbar macht. Kombiniert mit lokal fokussierter Preisstrategie, intelligenter Lagerhaltung und Abholsystemen lassen sich auf diese Weise digitale Reichweite und stationäre Stärke miteinander verbinden. Und das wird bald nicht nur Kür, sondern Pflicht: Mit dem Inkrafttreten des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) am 28. Juni 2025 müssen auch Apothekenwebsites barrierefrei gestaltet sein – andernfalls drohen Abmahnungen oder Reputationsschäden.
Neben der Sichtbarkeit entscheidet vor allem eines über den wirtschaftlichen Erfolg: die strategische Preishoheit. Während Apotheken lange darauf setzten, sich über Beratungskompetenz zu profilieren, ohne in Preisdebatten einzusteigen, hat sich das Kundenverhalten verändert. Vergleichsportale, Rabattmechanismen und automatisierte Bestelloptionen setzen neue Standards, an denen sich auch Vor-Ort-Apotheken orientieren müssen. Das bedeutet nicht, in ruinösen Preiskampf einzutreten – wohl aber, strategische Preisspielräume gezielt zu nutzen. Mithilfe intelligenter Pricing-Module lassen sich Produkte dynamisch bepreisen – angepasst an Nachfrage, Saison, Konkurrenzniveau oder individuelle Kundenfrequenz. So könnte etwa eine Stammkundin mit wiederkehrendem Bedarf an bestimmten Präparaten gezielt mit Vorteilspreisen gebunden werden, ohne das gesamte Sortiment zu entwerten.
Diese Bindung entsteht jedoch nicht allein durch Zahlen, sondern durch das Zusammenspiel von Erreichbarkeit, Vertrauen und technischer Bequemlichkeit. Apotheken, die heute liefern, noch am selben Tag ein benötigtes Medikament bereitstellen, oder per App eine Nachbestellung ermöglichen, binden ihre Kundschaft langfristig – gerade in Zeiten, in denen Convenience zur Währung geworden ist. Digitale Kundenkarten, Themensortimente, Videoberatung, Click-and-Collect-Modelle und automatisierte Kommunikation per Push-Nachricht oder E-Mail-Reminder schaffen ein Ökosystem, das sich von reiner Produktlogik abhebt. Das Ziel ist klar: Die Apotheke vor Ort muss nicht nur fachlich exzellent, sondern systemisch attraktiv sein – als Ort der Orientierung, des schnellen Zugriffs und der echten Zugewandtheit.
Doch mit jedem neuen Geschäftsmodell, jedem digitalen Angebot, jeder preislichen Flexibilisierung entstehen auch neue Risiken. Wer eine Online-Bestelloption bietet, braucht Datenschutzvorkehrungen, Versandregelungen und Schutzmechanismen für Zahlungsverkehr. Wer Same-Day-Delivery nutzt, muss sich gegen Transportschäden, Lieferausfälle und Haftungsansprüche absichern. Wer mit digitalen Kundenkarten arbeitet, trägt Verantwortung für personenbezogene Gesundheitsdaten. Und wer das Apothekenteam in neue Services einbindet, muss Arbeitszeiten, Haftungsgrenzen und Fortbildungspflichten neu organisieren. Deshalb ist strategische Diversifikation ohne professionelle Absicherung ein Spiel mit hohem Risiko. Klassische Betriebshaftpflicht, Inhaltsversicherung und Rechtsschutz genügen dabei längst nicht mehr – es braucht branchenspezifisch zugeschnittene Versicherungsmodelle, die Offline- wie Online-Szenarien abdecken, von der Cyberversicherung über Dienstreise-Kaskoschutz bis zur Produkthaftung für Nahrungsergänzungsmittel oder kosmetische Eigenmarken. Wer hier spart, spart am Fundament.
Für Apothekenleiterinnen und -leiter bedeutet das: Zukunftssicherung ist kein Zustand, sondern ein Prozess – ein Prozess aus Neudenken, Anpassen, Absichern und Umsetzen. Die größte Gefahr liegt dabei nicht im Wettbewerb, sondern im Stillstand. Denn nur wer strategisch beweglich bleibt, kundenzentriert handelt und risikobewusst agiert, wird auch in einem Umfeld bestehen, das sich nicht an Gesetze, sondern an Bedürfnisse anpasst – schneller als viele Apotheken es gewohnt sind.
Beitragspflicht braucht Maß, Rücklagen brauchen Legitimität, Vertretung braucht Vertrauen
Wie ein Düsseldorfer Urteil Kammerfinanzen infrage stellt, das Machtverständnis der Standesvertretung erschüttert und neue Maßstäbe für Gremienkultur in der Selbstverwaltung setzt
Was lange unter der Oberfläche gärte, ist nun höchstrichterlich bestätigt: Die Apothekerkammer Nordrhein (AKNR) muss Beiträge zurückzahlen, weil sie es mit der Ansammlung von Rücklagen übertrieben hat. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf, rechtskräftig und unmissverständlich, greift dabei nicht nur in die Finanzen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ein, sondern in ein ganzes Systemstandbild – jenes der Standesvertretung, die sich zunehmend von der Lebenswirklichkeit ihrer Mitglieder entfernt hat. Apotheken kämpfen um wirtschaftliches Überleben, während ihre Kammern munter Rücklagen aufbauen, Beitragsbescheide verschicken, Projekte anschieben, die kaum ein Mitglied versteht – geschweige denn als relevant empfindet. Dieses Auseinanderdriften ist mehr als nur ein Verwaltungskonflikt. Es ist ein Lackmustest für die Glaubwürdigkeit berufsständischer Selbstverwaltung.
Dabei ist die Botschaft des Düsseldorfer Urteils klar: Es genügt nicht, Beiträge formell korrekt zu erheben. Sie müssen auch sachlich begründbar, wirtschaftlich angemessen und in der Höhe vertretbar sein. Der Kammerhaushalt darf kein Selbstzweck sein, keine schwarze Kasse für ambitionierte Gremienideen oder repräsentative Symbolpolitik. Vielmehr verpflichtet das Gemeinwohlprinzip zur Transparenz, zur Zurückhaltung, zur ständigen Rechtfertigung gegenüber jenen, die das System tragen – den Apothekerinnen und Apothekern, die täglich mit Margendruck, Personalmangel, Lieferengpässen und Bürokratie überlastet sind. Ihnen weiter steigende Beiträge abzuverlangen, während gleichzeitig Rücklagen wuchern, ist nicht nur politisch dumm, sondern rechtlich unzulässig.
Die Entscheidung des Gerichts könnte dabei Signalwirkung weit über Nordrhein hinaus entfalten. Denn was in Düsseldorf verhandelt wurde, betrifft alle Kammern. Die Neigung zur institutionellen Aufblähung, zur Etablierung eines beratungsintensiven, aber praxisfernen Apparats ist kein nordrheinisches Alleinstellungsmerkmal. Über Jahre hinweg haben sich auch andere Landesvertretungen, darunter in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg, immer größere Haushaltsvolumina gegönnt, dabei oft ohne ernsthafte Mitgliederbeteiligung. Beschlüsse fallen in Gremien, deren Legitimation auf veralteten Wahlverfahren basiert, in denen der Einfluss engagierter Basisapothekerinnen gegen Null tendiert. Die Kluft zwischen Verantwortung auf dem Papier und Verantwortung im Alltag wird größer – und die Geduld der Mitglieder kleiner.
Vor diesem Hintergrund ist der Fall AKNR ein Wendepunkt. Nicht nur, weil nun Gelder zurückfließen müssen – was formal als Teilerfolg für die Kläger gilt. Sondern weil ein Gericht die logische Verbindung zwischen Beitragserhebung, Rücklagenhöhe und haushälterischer Mäßigung explizit herstellt. Die Richter erteilten der Vorstellung, man könne sich auf Dauer durch systematische Beitragsüberdeckung finanzielle Spielräume für eigene Projekte schaffen, eine Absage. Vielmehr formulierten sie: Rücklagen sind keine Vorratskammern für Ideen, sondern ein letzter Puffer zur Systemstabilisierung – und müssen regelmäßig, transparent und in Relation zur Mitgliedsstruktur evaluiert werden.
Die Reaktionen auf das Urteil reichen dabei von verhaltenem Beifall bis zu offener Empörung. Während Kritiker der Kammerführung eine notwendige Kurskorrektur feiern, warnen Funktionäre vor einem „Angriff auf die Autonomie der Selbstverwaltung“. Diese Reflexe offenbaren ein Grundproblem: die Immunisierung vieler Gremien gegen externe Kritik. Anstatt das Urteil als konstruktive Mahnung zu mehr Augenmaß und Mitgliederbindung zu verstehen, wird es als Angriff auf Strukturen geframet, die sich längst selbst entkoppelt haben – strukturell wie kulturell. Gerade in Zeiten, in denen Apotheken schließen, Fachkräfte fehlen und öffentliche Anerkennung schwindet, wirkt diese Selbstbezogenheit wie ein toxisches Missverständnis des Mandats.
Denn was bleibt vom Anspruch der Vertretung, wenn sie nicht mehr vertreten, sondern verwalten will? Wenn ihre Budgets wachsen, während die Zahl der beitragszahlenden Mitglieder schrumpft? Wenn Sitzungen über Stunden debattieren, wie man sich kommunikativ besser darstellt – aber nicht, wie man reale Probleme des Alltags löst? Der Fall AKNR ist deshalb kein isolierter Verwaltungsvorfall, sondern Symptom eines tief sitzenden Vertrauensverlusts, der in vielen Regionen längst in innerverbandliche Resignation umgeschlagen ist. Kaum ein Thema ruft auf Apothekertagen derzeit so viel Skepsis hervor wie die Haushalts- und Beitragspolitik der Kammern.
Dabei gäbe es Wege zurück zu einer solidarisch legitimierten Vertretung. Etwa durch verbindliche Rücklagenobergrenzen, durch regelmäßige Mitgliedsbefragungen, durch eine digitale Echtzeit-Offenlegung sämtlicher Haushaltspositionen. Auch die Einführung einer unabhängigen Haushaltsaufsicht durch externe Prüfgremien könnte helfen, die Selbstverwaltung nicht als Selbstbedienung zu erleben, sondern als dienendes System – wie es ursprünglich intendiert war. Doch dafür braucht es den Willen zur strukturellen Revision. Und den Mut, eigene Posten, Projekte und Privilegien infrage zu stellen.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom Juni 2025 – und das ist seine eigentliche Bedeutung – zwingt diesen Prozess nun an den Tisch. Es entzieht der standespolitischen Verdrängung das Fundament, mit dem man sich bisher durchlavierte: das Schweigen der Basis und die juristische Nebelwand vermeintlich unantastbarer Kammerhoheit. Beides ist passé. Was folgt, ist ein neuer Legitimationsdruck, den nicht alle Strukturen überstehen werden. Denn wer heute Beiträge rechtfertigen muss, muss morgen auch erklären, wem er eigentlich dient.
Zwang braucht Maß, Off-Label braucht Konsens, Gericht braucht Substanz
Wie der BGH ärztliche Eingriffe an Grenzen bindet, Leitlinien zur Pflicht macht und Betreuer unter Entscheidungsdruck stellt
Eine medizinische Maßnahme gegen den erklärten Willen eines Menschen ist immer ein Bruch mit der Autonomie – und genau deshalb in Deutschland nur in äußersten Ausnahmefällen zulässig. Wenn diese Maßnahme dann auch noch ein Arzneimittel betrifft, das gar nicht für genau diesen Fall zugelassen ist, liegt der Konflikt nicht nur auf ethischer Ebene, sondern mitten im juristischen Brennpunkt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem aktuellen Beschluss unmissverständlich klargestellt, dass eine Zwangsbehandlung im sogenannten Off-Label-Use nur dann rechtmäßig ist, wenn sie auf einer klar anerkannten medizinisch-wissenschaftlichen Grundlage basiert – und diese Grundlage muss nicht nur objektiv bestehen, sondern im konkreten Fall auch nachweislich berücksichtigt worden sein. Der Fall, der dieser wegweisenden Entscheidung zugrunde liegt, mag auf den ersten Blick unspektakulär erscheinen: Eine psychisch erkrankte Frau, eine betreuende Person, ein Antrag auf intramuskuläre Verabreichung eines Antipsychotikums – oral verweigert, parenteral beantragt. Doch der Wirkstoff war für diese Form der Anwendung nicht zugelassen. Das Landgericht Berlin hatte den Antrag abgelehnt – der BGH bestätigte nun diese Entscheidung und machte dabei deutlich, dass Zwang kein Feld für Improvisation sein darf, schon gar nicht bei Off-Label-Verwendungen.
Die Maßstäbe, die der BGH hier formuliert, reichen tief in die Praxis psychiatrischer Behandlung hinein. Künftig müssen Ärztinnen und Ärzte – ebenso wie die betreuenden Instanzen – nicht nur nach medizinischer Indikation handeln, sondern auch den rechtlichen Rahmen exakt einhalten. Eine Zwangsmaßnahme ohne explizite Zulassung des Arzneimittels für die vorgesehene Applikationsform ist nur dann denkbar, wenn sich die Anwendung auf eine „medizinisch-wissenschaftlich konsentierte Grundlage“ stützt. Damit ist ein individuelles Ermessen ebenso ausgeschlossen wie die bloße Berufung auf Einzelfallerfahrungen oder internes Klinikvotum. Der BGH betont ausdrücklich, dass eine solche Grundlage durch Empfehlungen maßgeblicher nationaler oder internationaler medizinischer Fachgesellschaften bestehen kann – idealerweise gestützt durch Leitlinien, Konsensuspapiere oder allgemein anerkannte Stellungnahmen. Anders formuliert: Wo keine systematische Empfehlung, da kein rechtlich zulässiger Zwang.
Für die Praxis bedeutet das eine doppelte Absicherungspflicht: Ärztliche Zwangsmaßnahmen im psychiatrischen Bereich müssen einerseits den medizinischen Erfordernissen im konkreten Einzelfall genügen – und andererseits auch formalen Kriterien der Zulässigkeit entsprechen. Die Betreuerin im entschiedenen Fall hatte offenbar gehofft, durch den Verweis auf das psychotische Zustandsbild und die orale Medikamentenverweigerung ein Durchgriffsrecht zu erhalten. Doch der BGH stellte klar, dass eine intramuskuläre Anwendung ohne Zulassung nur dann zulässig wäre, wenn diese Form der Gabe dem Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht – und dieser Stand muss sich aus objektiv nachprüfbaren Quellen ableiten lassen, nicht aus subjektivem Behandlungswunsch oder Fürsorgeabsicht.
Bemerkenswert ist zudem, dass der BGH nicht nur den Antrag zurückwies, sondern auch eine normative Schwelle formulierte: Die Entscheidung über eine solche Zwangsmaßnahme dürfe nicht einseitig durch die Betreuerin getroffen werden, sondern setze eine einvernehmliche ärztliche Entscheidung voraus, die sich auf die wissenschaftlich fundierte Einschätzung stützt. Damit schützt das Gericht nicht nur die Patientin vor unrechtmäßiger Medikation, sondern auch das ärztliche Personal vor juristischen Fallstricken. Denn ohne diese doppelte Legitimation – medizinisch durch Leitlinie, rechtlich durch Konsens – wäre jede Anwendung rechtswidrig. Off-Label-Use im Zwangsrahmen wird so zum schärfst kontrollierten Ausnahmefall.
Die Grundbotschaft dieser Entscheidung geht jedoch über das unmittelbare Verfahren hinaus. Sie betrifft den systemischen Umgang mit psychisch erkrankten Menschen, die ihre Krankheit nicht erkennen oder nicht entsprechend handeln können. Dass eine Behandlung gegen ihren erklärten Willen nur als „Ultima Ratio“ zulässig ist, ist längst festgeschrieben. Doch mit der hier vorgenommenen Präzisierung schärft der BGH das Verständnis dieser Ultima Ratio: Nicht das subjektive Gefühl einer Dringlichkeit genügt, sondern die objektiv belegbare Übereinstimmung mit medizinischer Fachwelt. Wer Zwang legitimieren will, braucht mehr als gute Absichten – er braucht wissenschaftliche Rückendeckung.
Gerade in psychiatrischen Krisenlagen ist diese Klarstellung ein doppeltes Schutzsignal. Zum einen für Betroffene, deren Grundrechte in solchen Situationen schnell unter Druck geraten. Zum anderen für die professionell Handelnden, die nun wissen, dass auch die beste Absicht nicht vor juristischer Verantwortung schützt, wenn die Zulassungsfrage ungeklärt oder der Konsens nicht dokumentiert ist. Der Beschluss des BGH dürfte in vielen Einrichtungen zu neuer Sensibilität führen – und das ist gut so. Denn medizinische Autorität lebt nicht von Durchsetzungskraft, sondern von Transparenz, Wissenschaftlichkeit und klaren Grenzen.
Bildschirmzeit erzeugt Schmerz, Klima verstärkt Beschwerden, Prävention braucht Struktur
Wie digitale Reizüberflutung Kopfschmerzepisoden triggert, junge Menschen sensibler auf Wetterextreme reagieren und Lebensstilveränderungen den Ausweg eröffnen
Kopfschmerzen beginnen früher, dauern länger, treffen härter – und sie entstehen zunehmend im digitalen Schatten unserer Gegenwart. Der 23. Juni 2025 markiert nicht nur ein Datum für neue Forschungsergebnisse, sondern auch einen Wendepunkt im kollektiven Gesundheitsverständnis: Eine aktuelle Umfrage unter über 3.000 Betroffenen zeigt, wie sich klassische Kopfschmerztrigger wie Schlafmangel, Stress und Ernährung verschieben – hin zu einem neuen Risikofeld, das sich aus permanenter Mediennutzung, Bildschirmarbeit und Klimadynamik speist. Der Zusammenhang ist dabei keineswegs spekulativ, sondern inzwischen empirisch belastbar: Allein die Inzidenz von Kopfschmerzfällen ist weltweit seit 1992 um 35 Prozent gestiegen, die Prävalenz nahm um 39 Prozent zu, und die Zahl belasteter Lebensjahre durch Kopfschmerz stieg laut Schmerzexperten wie Dr. Jan-Peter Jansen gar um 41 Prozent. Besonders drastisch ist die Entwicklung bei jungen Erwachsenen zwischen 21 und 29 Jahren – der sogenannten Generation Bildschirm. In dieser Gruppe verdichten sich die Einflüsse zu einem gesundheitlichen Drucksystem, dessen Auslöser, Verstärker und Folgen in einem engen Rückkopplungskreis zirkulieren. Wer über zwölf Monate im digitalen Distanzunterricht war, entwickelte laut Erhebung in 86 Prozent der Fälle Kopfschmerzen oder Migräne – eine Rate, die für sich spricht.
Dabei ist es nicht nur die schiere Bildschirmzeit, die belastet, sondern auch deren Multiplizierung: Beruflich dominieren Laptop und Tablet, privat übernehmen Smartphone und Fernseher die visuelle Dauerversorgung. In der Alterskohorte der unter 30-Jährigen ist die Gerätedichte am höchsten, und fast zwei Drittel (64 Prozent) der Befragten in dieser Gruppe sind überzeugt, dass ihre Beschwerden medieninduziert sind. Zugleich belasten das visuelle System und die Nackenmuskulatur durch starre Körperhaltungen und Überanstrengung der Augen. Hinzu kommt die psychische Komponente: Dauerstress, Informationsflut und alarmierende Nachrichten wirken wie ein neurokognitiver Verstärker. Jansen bringt es auf den Punkt: „Wir sind einem Dauerbeschuss ausgesetzt – das macht krank.“ Die gesundheitlichen Folgen zeigen sich nicht nur in pulsierenden Schläfen, sondern in einem diffusen, aber massiven Rückzug aus dem sozialen, kognitiven und körperlichen Alltag. Konzentration, Leistungsfähigkeit, Schlafqualität und psychische Belastbarkeit sinken messbar – fast die Hälfte aller Befragten fühlt sich dadurch in sozialen Kontakten und Aktivitäten eingeschränkt.
Ein zweiter Risikokomplex tritt parallel in den Vordergrund: der Klimawandel als neurologischer Stressor. Die junge Generation meldet dabei mit hoher Präzision, was sie körperlich spürt. 39 Prozent der 18- bis 29-Jährigen berichten von temperaturabhängigen Kopfschmerzverschlechterungen – deutlich mehr als in der Altersgruppe 40 bis 49 (27 Prozent) oder bei den über 70-Jährigen (19 Prozent). Studien bestätigen diese Beobachtung: Wetterwechsel, Hitzephasen und Luftverschmutzung gehören längst zu den anerkannten Triggern. Der Körper scheint das veränderte Klima auf der Schmerzachse zu registrieren – ein Signal, das nicht überhört werden sollte.
Wie lässt sich darauf reagieren, ohne in Ohnmacht oder Medikamentenflucht zu verfallen? Die Antwort lautet: individuell, strukturiert, konsequent. Der Report empfiehlt mit Nachdruck sogenannte Basiselemente zur Prävention: Schlafqualität sichern, Mahlzeiten strukturieren, Flüssigkeitszufuhr erhöhen, Bewegung in den Tagesplan integrieren. Mehr als die Hälfte der Betroffenen nutzt diese Mittel, und nahezu alle berichten von positiven Effekten – auch wenn sie nicht immer zur vollständigen Schmerzfreiheit führen. Die zentrale Botschaft lautet: Aktivität ist besser als Passivität, Struktur besser als Zufall. Unterstützend wirken niedrigschwellige Werkzeuge wie der Kopfschmerzkalender – eine einfache, aber effektive Möglichkeit, eigene Trigger zu erkennen und therapeutisch zu bearbeiten. Benjamin Schäfer, leitender Physiotherapeut an der Migräneklinik Königstein, sieht in Bewegung und Biofeedback zusätzliche Hebel. Vor allem moderat-intensiver Ausdauersport mit gezielter Herzfrequenzsteuerung (64–76 Prozent der Maximalfrequenz) zeigt laut Studienlage die beste Wirkung. Für Patienten mit muskulärer Komorbidität – etwa Nacken- oder Kieferverspannungen – sind manuelle Techniken und physiotherapeutische Übungen erste Wahl. Medikamente haben ihren Platz, aber nicht als Dauerlösung: Kombinationspräparate mit Koffein, die einen sogenannten überadditiven Effekt erzielen, helfen schnell und zuverlässig – bei reduzierter Dosis und guter Verträglichkeit. Doch entscheidend bleibt, wie frühzeitig und strukturiert Patienten Einfluss auf ihre Lebensweise nehmen. In dieser Frage entscheidet sich nicht nur, wie sehr der Schmerz den Alltag dominiert, sondern ob das eigene Gesundheitssystem resilient bleibt – auch unter den Bedingungen von Digitalisierung und Klimawandel.
Generika stemmen die Versorgung, Hersteller stemmen die Verluste, Politik schweigt weiter
Wie der Preisdruck auf Generika die Stabilität des Arzneimittelmarkts untergräbt, ökonomische Signale in regulatorischer Starre verpuffen und Versorgungsrisiken politisch ignoriert bleiben
Rund 80 Prozent aller Arzneimittel, die Patientinnen und Patienten in Deutschland 2024 erhalten haben, basierten auf generischen Wirkstoffen – auf Präparaten also, deren Patentschutz längst abgelaufen ist, deren therapeutischer Nutzen unstrittig ist, deren Preise aber inzwischen so tief gefallen sind, dass sich ihre Produktion in vielen Fällen kaum noch rechnet. Die neue Analyse „Generika in Zahlen 2024“ des Branchenverbands Pro Generika macht die strukturelle Schieflage nun präzise sichtbar: Mit nur 6,9 Prozent Anteil an den GKV-Arzneimittelausgaben tragen Generika die Hauptlast der Versorgung – und sind dabei chronisch unterfinanziert. Das System basiert auf einer doppelt asymmetrischen Logik: Während Hersteller unter Rabattverträgen und Festbeträgen mit geringsten Margen arbeiten, steigen die Risiken bei Versorgungsausfällen und Lieferengpässen. Dass diese Realität inzwischen auch in Apotheken mit dramatischen Engpässen spürbar wird, ist kein Betriebsunfall, sondern Resultat eines regulatorischen Mechanismus, der Investitionen systematisch verhindert.
Im Zentrum des Problems stehen drei politische Konstruktionsfehler, die in ihrer Kombination toxisch wirken: Das Preismoratorium zwingt Hersteller, ihre Preise über Jahre konstant zu halten – auch bei steigenden Produktionskosten. Die Festbetragsregelung deckelt den Erstattungspreis der Kassen unabhängig von der tatsächlichen Marktlage. Und Rabattverträge führen zu künstlichen Wettbewerbspreisen, die nicht nur Gewinnmargen vernichten, sondern auch Produktionsverlagerungen nach Fernost befördern. Dass rund 75 Prozent aller Generika im Jahr 2024 unter Rabattvertrag abgegeben wurden, mag kurzfristig Kosten sparen – langfristig aber gefährdet es die Angebotsbreite, senkt die Resilienz und erhöht die Abhängigkeit von Drittländern wie China oder Indien. Für Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika, ist diese Schieflage nicht mehr nur wirtschaftlich, sondern gesundheitspolitisch bedrohlich: „Wenn sich die Rahmenbedingungen nicht ändern, werden weitere Hersteller aussteigen – mit dramatischen Folgen für die Versorgung.“ Schon jetzt warnen zahlreiche Apothekenverbände vor neuen Lieferausfällen, und einzelne Krankenkassen sprechen hinter vorgehaltener Hand von „nicht mehr steuerbaren Risiken“.
Besonders brisant ist der Befund, dass sich der volkswirtschaftliche Nutzen von Generika in keiner Weise in der Investitionslogik niederschlägt. Würde man die 80-prozentige Versorgungslast von Generika auf patentgeschützte Medikamente übertragen, kämen auf die GKV laut Pro Generika Mehrkosten von über 16 Milliarden Euro zu – pro Jahr. Doch statt diesen ökonomischen Hebel durch Förderung, Resilienzprämien oder Preisreformen zu sichern, bleibt das politische System starr in seiner Kontrolllogik verhaftet. Nicht der Markt soll sich bewegen, sondern der Preis. Nicht Qualität und Versorgungssicherheit stehen im Zentrum, sondern Einsparziele in der Arzneimittelausgabenstatistik. Damit aber geraten nicht nur einzelne Unternehmen in Schieflage, sondern der gesamte Generikamarkt wird in eine Zwangsstruktur gedrängt, die Wachstum, Innovationsfähigkeit und Standortbindung systematisch blockiert.
Der angekündigte Pharmadialog, so Pro Generika, müsse deshalb mehr sein als ein Termin im Kalender. Er müsse ein systemischer Wendepunkt werden – mit klarer Anerkennung der Rolle von Generika als Rückgrat der Versorgung, mit neuen Spielräumen für wirtschaftlich tragfähige Produktion und mit gezielter Entkopplung von regulatorischer Überkontrolle und betrieblicher Wirklichkeit. Die Alternative sei nicht etwa ein teureres System mit denselben Wirkstoffen, sondern ein lückenhafteres System mit höherem Risiko. Denn wenn Hersteller aussteigen, fehlen Alternativen – und mit jeder fehlenden Charge wächst das Versorgungsproblem, das sich nicht mehr durch Umlenkung lösen lässt. Schon heute erleben Apotheken, wie instabil Rabattverträge im Krisenmodus sind – und wie groß die Lücke ist, wenn eine Charge nicht kommt und keine gleichwertige Alternative verfügbar ist.
Doch trotz aller Warnungen scheint die politische Reaktion ausbleibend. Statt resiliente Produktionskapazitäten zu sichern, wird weiter auf Druckmechanismen gesetzt. Statt einer strukturierten Debatte über europäische Lieferketten, Steuerungsprämien und Preisgestaltung im Langfristinteresse, bleibt die Kommunikation vage. Die Hoffnung auf eine Kurskorrektur liegt nun auf dem Pharmadialog – doch auch dieser steht unter Zeitdruck. Denn jedes verlorene Generika-Unternehmen, jeder Produktionsstopp, jede weitere Marktverengung wirkt sich sofort auf die Lieferfähigkeit aus. Und wer heute noch günstige Versorgung durch Generika genießt, könnte morgen vor leeren Regalen stehen – nicht, weil es am Willen fehlt, sondern weil sich die Versorgung schlicht nicht mehr rechnet.
Leere Schübe, neue Pflichten, wachsender Druck
Wie Umweltauflagen die Arzneiproduktion belasten, Lieferketten destabilisieren und die Politik in Zugzwang bringen
Die Arzneimittelversorgung in Europa steht erneut unter Druck – diesmal nicht durch globale Krisen, Pandemien oder geopolitische Verwerfungen, sondern durch eine neue Welle regulatorischer Umweltvorgaben, die an einem empfindlichen Punkt ansetzen: der Produktion selbst. Seit Inkrafttreten der neuen Kommunalabwasserrichtlinie KARL zum Jahreswechsel geraten pharmazeutische Hersteller europaweit in Zugzwang. Die Richtlinie verlangt, dass bestimmte Arzneistoffrückstände künftig durch technische Maßnahmen an der Quelle zurückgehalten werden – also nicht erst in Kläranlagen, sondern schon bei der Herstellung. Für die Unternehmen bedeutet das millionenschwere Investitionen in Filtertechnologien, Prozessumstellungen und Nachweisverfahren. Die Industrie warnt nun eindringlich: Die Versorgungssicherheit mit essenziellen Medikamenten, insbesondere Generika und Basistherapeutika, sei ernsthaft gefährdet.
Die Brisanz liegt dabei nicht nur in der technischen Umsetzbarkeit, sondern im Zeithorizont. Viele kleinere und mittlere Produktionsstandorte – gerade im Generikasektor – seien auf die Schnelle weder finanziell noch infrastrukturell in der Lage, die geforderten Maßnahmen zu realisieren. Die Folge könnte ein flächendeckender Produktionsrückzug aus Europa sein – und damit eine weitere Verlagerung der Fertigung in Drittstaaten, wo weder Umwelt- noch Produktionsstandards auf EU-Niveau sind. Dass ausgerechnet ein Umweltgesetz zur weiteren Schwächung der europäischen Arzneimittelautarkie führen könnte, ist dabei kein Konstrukt, sondern inzwischen realpolitisches Risiko. Schon jetzt mehren sich Hinweise aus der Industrie, dass bestimmte Produktlinien eingestellt oder nicht verlängert werden, weil die regulatorische Nachrüstung nicht tragfähig sei.
Doch auch aufseiten der Politik wächst der Druck. In Brüssel und Berlin wird zunehmend erkannt, dass die ambitionierten Umweltziele, die mit der KARL-Richtlinie verbunden sind, in einem Zielkonflikt mit der Arzneimittelsicherheit stehen. Während das eine Ressort auf die Einhaltung ökologischer Standards pocht, warnen andere vor Engpässen bei Schmerzmitteln, Antibiotika und Krebstherapeutika. Besonders heikel ist der Umstand, dass die Richtlinie in ihrer jetzigen Form kaum Ausnahmen für lebenswichtige Produktionslinien vorsieht. Selbst hochspezialisierte Hersteller von Notfallmedikamenten oder Onkologiepräparaten sehen sich nun gezwungen, Investitionsentscheidungen zu überdenken oder ganze Fertigungslinien zu evaluieren.
Die Debatte spiegelt dabei einen tiefer liegenden Zielkonflikt wider: die Frage, ob und wie sich ökologischer Umbau und strategische Versorgungssicherheit in der Pharmaproduktion überhaupt miteinander vereinbaren lassen. Während Umweltverbände die neue Richtlinie als notwendigen Schritt zu mehr Nachhaltigkeit feiern, argumentieren Pharmaverbände mit Verweis auf Versorgungsketten, Lagerreserven und globale Wettbewerbsfähigkeit. Tatsächlich droht der EU-Standort an Attraktivität einzubüßen – gerade gegenüber Ländern wie Indien oder China, in denen weder der Emissionsschutz noch der regulatorische Aufwand vergleichbar sind. Die Folge wäre ein weiterer Rückbau der Wirkstoffsouveränität – ein Rückschritt, der dem politischen Versprechen, die Arzneimittelproduktion nach Europa zurückzuholen, diametral entgegensteht.
Brisant ist auch, dass die Diskussion über die Umweltrichtlinie in eine Phase fällt, in der die Lieferketten ohnehin stark beansprucht sind. Mehrere Grundstoffe – darunter Paracetamol, Amoxicillin oder Metformin – stehen seit Monaten auf den Mangelmeldelisten. Viele Apotheken berichten von leeren Schüben, verärgerten Patienten und wachsendem Beratungsdruck. Wenn nun zusätzliche Produktionslinien ins Wanken geraten oder gar abgeschaltet werden, könnte sich die Versorgungslage weiter zuspitzen. Schon jetzt kursieren Szenarien, wonach die Kombination aus Preisdruck, Umweltauflagen und unflexiblen Lieferverträgen die Existenz ganzer Produktionscluster bedroht – vor allem dort, wo ohnehin schon mit minimaler Marge produziert wird.
Ein systemisches Risiko entsteht dabei durch das Wechselspiel mehrerer Faktoren: Auf der einen Seite der regulatorische Zwang zur Umstellung, auf der anderen Seite die chronisch unterfinanzierte Produktionsrealität vieler Generikahersteller – ergänzt durch eine Politik, die bislang auf temporäre Notfallmaßnahmen setzte, statt strukturelle Resilienz zu fördern. Die Industrie fordert nun, dass es zügig Ausnahmeregelungen für essenzielle Arzneimittel geben müsse – zumindest übergangsweise. Andernfalls sei nicht auszuschließen, dass sich die Versorgungslücken in kritischen Bereichen dauerhaft verfestigen.
Doch auch die Versorgungslogistik rückt ins Zentrum der Debatte. Denn selbst wenn Produktionsstandorte erhalten blieben, reichten Filteranlagen allein nicht aus, um die geforderten Nachweise zu erbringen. Viele Unternehmen berichten von fehlender Technologieverfügbarkeit, Genehmigungsstaus und widersprüchlichen Vorgaben zwischen Umwelt- und Gesundheitsbehörden. Der Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH) spricht bereits von einem „nicht mehr beherrschbaren regulatorischen Druck“. Selbst innovationsstarke mittelständische Unternehmen, die bereit wären, in neue Verfahren zu investieren, sehen sich aktuell mit einem Genehmigungsaufwand konfrontiert, der faktisch zur Investitionsblockade wird. Die Folge: Produktionsverzögerungen, Zulassungslücken, Rückzugsszenarien.
Parallel dazu geraten auch die Apotheken zunehmend in eine unlösbare Position. Sie sind es, die täglich mit den Auswirkungen regulatorischer und produktionstechnischer Defizite konfrontiert werden – und oft ohne Antwort vor Patienten stehen. Der Ruf nach struktureller Neuausrichtung wird lauter: Gefordert wird nicht nur eine politische Ausnahmeregelung für kritische Arzneimittelbereiche, sondern auch eine grundsätzliche Neubewertung der Balance zwischen Umweltambition und Gesundheitsrealität. Denn während sich politische Zielsetzungen oft in Jahrzehnten messen, entscheidet sich die Versorgungslage für viele Patienten im Tagesrhythmus – an der Ladentheke, beim Arzttermin, im Notfall.
Ob die KARL-Richtlinie damit ein Rückgrat für mehr Nachhaltigkeit wird oder ein Stolperstein für die Arzneimittelsicherheit, hängt letztlich von der Fähigkeit der politischen Akteure ab, Interdependenzen zu erkennen – und zu handeln, bevor der nächste große Engpass zur Realität wird.
Eigentum stiftet Vertrauen, Mitsprache schafft Resilienz, Erfahrung verpflichtet zur Zukunft
Wie Noventi das 125. Jubiläum als Neustart nutzt, Apotheker zum strategischen Rückgrat erklärt und ein genossenschaftliches Modell neue Stärke entfaltet
125 Jahre Unternehmensgeschichte lassen sich nicht einfach feiern, sie müssen getragen werden. In einer Zeit, in der selbst traditionsreiche Organisationen unter Digitaldruck, Marktverwerfungen und politischem Strukturstress zerbrechen, wirkt ein Jubiläum wie das der Noventi Group fast wie ein Gegenmodell: nicht als Selbstdarstellung, sondern als kollektives Aufatmen. Denn was hier überdauert hat, ist nicht bloß eine Marke, sondern eine Struktur, die in ihrer Eigentumslogik Stabilität verspricht – getragen von jenen, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft als stille Mitläufer gelten: den Apothekern. Doch im Falle der Noventi waren es eben jene Apotheker, die das Unternehmen nicht nur gegründet, sondern – im wohl kritischsten Moment seiner Geschichte – auch vor dem Absturz bewahrt haben. Dass sich diese Solidarität nicht nur in Lippenbekenntnissen erschöpft, sondern operative Realität wurde, erklären FSA-Vorstand Andreas Buck und Noventi-Vorstand Mark Böhm in bemerkenswerter Offenheit. Ihre Botschaft: Wer mitredet, muss auch mittragen. Und wer Verantwortung teilt, bleibt auch im Sturm steuerbar.
Diese Steuerbarkeit war notwendig. Denn die Krise, in der sich Noventi zwischen 2021 und 2023 befand, war kein Schönwetterproblem. Strategische Fehlentscheidungen, unklare Digitalisierungsprojekte, ein diffuses Führungsbild – all das hätte reichen können, um die Existenz zu gefährden. Doch statt stiller Abwicklung oder externer Übernahme folgte ein strukturelles Innehalten, das seinesgleichen sucht: Die Eigentümerstruktur wurde geschärft, die Kommunikation mit der Basis radikal geöffnet, der Vorstand personell neu aufgestellt – und das Vertrauen in die eigene DNA neu aktiviert. Dass dieser Wandel möglich war, liegt am einzigartigen Konstrukt des FSA, des FünfteSozialAbteilung e.V., über den die Apothekerschaft ihre Mitsprache organisiert. Nicht als Feigenblatt, sondern als Kontrollinstanz, als Resonanzraum, als Gestaltungszentrum.
„Es ist nicht anstrengend, dass Apotheker mitreden“, sagt Mark Böhm, als müsse er mit diesem Satz ein Missverständnis ausräumen, das in anderen Gesundheitskonzernen längst zur Ausrede geworden ist. Denn dort, wo Kapitalmärkte und Renditeziele dominieren, gelten Beteiligungsmodelle oft als Bremsklötze – zu träge, zu kompliziert, zu emotional. Bei Noventi ist es genau diese Emotionalität, die den Ausschlag gegeben hat. Sie erlaubt, was vielen fehlt: Geduld im Umbau, Respekt im Streit, und ein Sinn für die Bedeutung von Besitz. Denn Eigentum in den Händen der eigenen Klientel bedeutet auch: Risikoteilung ohne Entfremdung. Es ist dieses Prinzip, das im Jahr 2025 als stille Antwort auf jene Geschäftswelt wirkt, in der Purpose längst zur Marketingfloskel verkommen ist.
Was Noventi nun daraus macht, ist mehr als Reorganisation. Es ist strategischer Anspruch. Die Neupositionierung der Digitalangebote, die konsequente Integration von Apothekeninteressen in unternehmerische Entscheidungen, der Ausbau datenbasierter Dienstleistungen, die Stärkung der Finanzierungslogik für inhabergeführte Apotheken – all das geschieht nicht aus modischer Innovationstreue, sondern aus Notwendigkeit. Denn der Markt wandelt sich. Amazon, Redcare, gesund.de – sie alle agieren mit Plattformlogik, Datentiefe und aggressivem Kapital. Wenn genossenschaftlich organisierte Strukturen in diesem Spiel bestehen wollen, müssen sie nicht alles imitieren, aber vieles verstehen. Und sie müssen eines unbedingt: ihre eigene Position klären. Wer ist man für die Apotheken? Dienstleister, Finanzier, Technologiepartner – oder Eigentümerinteresse in Systemform?
Andreas Buck beantwortet diese Frage mit einem Rückgriff auf den Ausnahmezustand: „Wir haben gelernt, dass man sich in der Krise nicht an abstrakte Geschäftspläne klammert, sondern an Haltung.“ Diese Haltung bestand im Wesentlichen darin, nicht die schnellste, sondern die verantwortbarste Lösung zu suchen. Statt sich unter Investorenlogik neu zu erfinden, wurde das Vertrauen der Mitglieder zum Ausgangspunkt erklärt. Das ist unbequem, aber nachhaltig. Die Abkehr von Einzelinteressen, die Bereitschaft zur Rechenschaft, die Einführung kontrollierter Wachstumsformate – das alles hat Noventi stabilisiert, wo andere zerfallen wären.
Heute, im Juni 2025, steht das Unternehmen nicht einfach besser da. Es steht anders da: kontrollierter, verankerter, anspruchsvoller. Der Jubiläumsrahmen wird deshalb nicht mit PR-Feuerwerk, sondern mit strategischer Konsolidierung gefüllt. Man will nicht glänzen, sondern halten. Nicht protzen, sondern erklären. Nicht expandieren, sondern verbinden. Das zeigt sich in kleinen Details: Schulungsformate für Apothekenmitarbeiter werden ausgebaut, das Schnittstellenmanagement zur Telematik verbessert, das Thema Resilienz systematisch in der Digitalstrategie verankert. Es sind keine Schlagzeilen, aber es ist Fortschritt.
Und dieser Fortschritt lebt von Beteiligung. Der FSA bleibt dabei nicht Beiwerk, sondern systemisch relevant. Er ist Kontrollorgan, Vertrauensanker und Gremienmacht zugleich – eine Konstellation, die in einer Branche mit chronischer Repräsentationskrise fast utopisch anmutet. Doch genau darin liegt die Stärke: Apotheker, die nicht nur Kunden sind, sondern Eigentümer. Nicht nur Nutzer, sondern Strategen. Nicht nur Reformer, sondern Bewahrer.
Dass sich das auch betriebswirtschaftlich lohnt, zeigen aktuelle Zahlen: Die Eigenkapitalquote ist gestiegen, die Liquiditätsreserven wurden gezielt verstärkt, neue Dienstleistungsbereiche werfen Gewinne ab, ohne sich vom Kern der Apothekerorientierung zu entfernen. Es entsteht kein Gesundheitskonzern nach Lehrbuch – sondern ein Verbund, der seine Mitglieder nicht bevormundet, sondern aktiviert. Ein Unternehmen, das nicht auf Exit-Optionen setzt, sondern auf Rückhalt. Und eine Kultur, in der Mitbestimmung nicht zur Belastung, sondern zur Grundlage wird.
125 Jahre sind dafür kein Ziel, sondern ein Prüfstein. Wer so lange besteht, muss mehr können als sich behaupten. Er muss sich erklären können – und erklären wollen. Genau das tut Noventi gerade. Leise, aber deutlich. Und das ist vielleicht die lauteste Botschaft dieses Jubiläums.
Zugang muss Leben retten, Regelwerk darf nicht blockieren, Praxis braucht Präzision
Wie der OTC-Switch für Naloxon vorankommt, welche Regeln für Polizei und Hilfsdienste greifen sollen und warum neue AMVV-Pläne Präzedenzwirkung haben
Die Dynamik auf dem internationalen Drogenmarkt macht auch vor Deutschland nicht Halt – insbesondere der zunehmende Eintrag synthetischer Opioide wie Fentanyl stellt eine akute Bedrohung für die öffentliche Gesundheit dar. Das Bundesgesundheitsministerium reagiert nun mit einem gezielten Eingriff ins Arzneimittelrecht und will den Zugang zum lebensrettenden Antidot Naloxon erleichtern. Der vorgelegte Referentenentwurf zur 23. Verordnung zur Änderung der Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) sieht vor, das Naloxon-Nasenspray für die Notfalltherapie aus der Verschreibungspflicht zu lösen – zumindest in jenen Fällen, in denen es durch Laien, Einsatzkräfte oder Hilfseinrichtungen im Fall einer bekannten oder vermuteten Opioid-Überdosierung verabreicht werden soll. Der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht hatte sich im Januar bereits klar für einen sogenannten OTC-Switch ausgesprochen, also für eine Freigabe ohne ärztliche Verordnung. Die Umsetzung dieser Empfehlung bedeutet einen Paradigmenwechsel im Arzneimittelrecht – mit konkreten Folgen für Apotheken, Behörden, Fachkräfte und vor allem Betroffene, bei denen jede Minute über Leben und Tod entscheiden kann.
Der Entwurf des Bundesgesundheitsministeriums geht jedoch weiter als nur eine Umstufung einzelner Arzneiformen. Die geplante Regelung konkretisiert, unter welchen Umständen Naloxon zur nasalen Anwendung künftig rezeptfrei abgegeben werden darf. In Anlage 1 der AMVV soll bei der Position „Naloxon“ ergänzt werden, dass Arzneimittel zur nasalen Anwendung bei bekannter oder vermuteter Opioid-Überdosierung ausgenommen sind – mit der Einschränkung, dass dies nur gilt, sofern das jeweilige Produkt nicht durch EU-Zulassung weiterhin als verschreibungspflichtig definiert ist. Damit entsteht eine hybride Rechtslage: Manche Nasensprays wie das bislang verfügbare Nyxoid könnten aufgrund ihres Zulassungsstatus weiter ein Rezept erfordern, andere jedoch wären künftig direkt zugänglich. Für Apotheken bedeutet dies eine neue Verantwortung bei der Prüfung der Zulassung sowie bei der Beratung und Abgabe.
Zugleich wird die Reichweite der Verschreibungsbefugnis für verschreibungspflichtige Naloxon-Präparate erweitert. Vorgesehen ist ein neuer Absatz 2a im § 2 AMVV, der ausdrücklich auch Einrichtungen der Obdachlosenhilfe, Suchthilfe, Justizvollzugsanstalten, Zoll- und Ordnungskräfte sowie Bundes- und Landespolizeibehörden zur Verschreibung berechtigt. Voraussetzung ist ein entsprechender Vermerk, der die Zuordnung der Abgabe dokumentiert. Damit wird die strukturelle Lücke geschlossen, die bislang die Versorgung über das normale Gesundheitswesen hinaus erschwert hat – etwa bei Polizei-Einsätzen, in Notunterkünften oder bei Hilfsorganisationen. Im Ernstfall zählt nur die Verfügbarkeit vor Ort – und hier war Deutschland bisher hinter vergleichbaren Staaten wie Kanada oder den USA zurückgeblieben.
Dass Naloxon nicht nur medizinisch, sondern auch politisch als systemrelevant gilt, zeigt seine Position auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der WHO. Die Aufnahme in diese Liste bedeutet nicht nur eine internationale Anerkennung der Wirksamkeit, sondern verpflichtet die Mitgliedstaaten zur Förderung der Verfügbarkeit. Der aktuelle Referentenentwurf kann daher auch als Zeichen gelesen werden, dass Deutschland auf diese Verpflichtung reagiert – spät, aber entschlossen. Die neue Regelung hätte zudem eine Signalwirkung über den engeren Bereich der Drogenhilfe hinaus: Die Einbindung öffentlicher Institutionen in die Arzneimittelversorgung wirft grundsätzliche Fragen auf über die Verknüpfung von Gesundheitspolitik, Sicherheit und sozialer Infrastruktur.
Neben Naloxon bezieht sich der Entwurf auch auf einen weiteren OTC-Switch, der im Januar vom Sachverständigenausschuss befürwortet wurde: Zubereitungen mit Prednisolon und Salicylsäure zur Anwendung auf der Kopfhaut. Dabei handelt es sich um niedrig dosierte Kombinationspräparate zur Behandlung gering ausgeprägter entzündlicher Erkrankungen der Kopfhaut bei Erwachsenen. Die geplante Änderung erlaubt in Zukunft die rezeptfreie Abgabe von Produkten mit 0,2 % Prednisolon und 0,4 % Salicylsäure in Packungsgrößen bis 50 ml, sofern die maximale Anwendungsdauer von drei Wochen nicht überschritten wird. Auch hier ist der Grundgedanke derselbe wie bei Naloxon: Bagatellfälle sollen den ärztlichen Versorgungsweg nicht unnötig blockieren, Apotheken sollen stärker als niederschwellige Erstversorger eingebunden werden, und die Patientensouveränität soll gestärkt werden.
Die AMVV erfährt darüber hinaus eine strukturelle Erweiterung: Zwölf weitere Positionen sollen in die Anlage der verschreibungspflichtigen Stoffe aufgenommen werden – welche genau, ist aus dem Entwurf bislang nicht vollständig veröffentlicht. Klar ist jedoch, dass die Anpassung nicht isoliert zu verstehen ist, sondern Teil einer umfassenderen Bewegung hin zu einer moderneren, differenzierteren Verschreibungssystematik. Der klassische Dualismus aus rezeptpflichtig versus frei verkäuflich wird zunehmend von Kontexten, Indikationen und Anwendungsmodalitäten überlagert. Der Gesetzgeber reagiert damit auf die Vielschichtigkeit heutiger Versorgungssituationen – auch unter dem Druck wachsender Anforderungen an Prävention, Schadensminimierung und flexible Notfallstrategien.
Mit dem Referentenentwurf setzt das Bundesgesundheitsministerium ein Signal, das über die fachliche Relevanz hinaus politisch aufgeladen ist. Die Opioidkrise ist kein theoretisches Zukunftsszenario mehr, sondern durch internationale Dynamiken auch in Deutschland angekommen. Das geltende Regelwerk darf daher nicht länger der Grund sein, warum ein verfügbarer, sicherer und wirksamer Antagonist wie Naloxon in der entscheidenden Minute nicht zur Verfügung steht. Der OTC-Switch allein wird keine Krise lösen – aber er kann den Unterschied machen zwischen einem Hilferuf mit Ausgang und einem Notfall ohne Überlebenschance.
Heilung braucht Klarheit, Versorgung braucht Evidenz, Aufklärung braucht Präzision
Warum Lufttrocknung oft überschätzt, Verbandtherapie differenziert betrachtet und Apothekenberatung zur Wundversorgung unverzichtbar wird
„Lass das ruhig an der Luft, das heilt besser“ – was im Kundengespräch häufig als Alltagsweisheit geäußert wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als unzureichende Pauschalantwort. Die Versorgung von Wunden ist kein intuitiver Vorgang, sondern ein differenziertes Zusammenspiel aus hygienischer Reinigung, mikroklimatischer Steuerung und indikationsbezogener Abdeckung. Insbesondere Apothekenteams stehen dabei vor der Aufgabe, nicht nur Empfehlungen auszusprechen, sondern verbreitete Irrtümer zu korrigieren, die dem Heilungsverlauf abträglich sind. Der entscheidende Unterschied liegt oft im Detail: Wundtyp, Verschmutzungsgrad, Exsudation und Lokalisation müssen zusammen betrachtet werden, bevor die Frage „offen oder abgedeckt?“ sinnvoll beantwortet werden kann. Zunächst gilt jedoch: Ohne sorgfältige Reinigung geht gar nichts. Sterile Wundspüllösungen oder alkoholfreie Antiseptika sind der Standard – nicht Leitungswasser, das mit Mikroorganismen und Mineralien wie Kalk kontaminiert sein kann und dadurch das empfindliche Gewebemilieu stört. In der pharmazeutischen Praxis muss die hygienische Erstversorgung deshalb immer professionell vermittelt werden – auch als Abgrenzung zur laienhaften Selbstbehandlung.
Der Reflex, Wunden „atmen“ zu lassen, basiert auf einem Missverständnis: Zwar beschleunigt Luft die Krustenbildung, doch genau darin liegt das Problem. Der entstehende Schorf hemmt die Migration von Epithelzellen, kann das Einwachsen neuer Gefäße erschweren und verursacht unter Umständen stärkere Narbenbildung. Bereits George D. Winter legte 1962 mit seinen Tierstudien den Grundstein für das Prinzip der feuchten Wundheilung – ein Ansatz, der seither mehrfach bestätigt wurde. Moderne Studien, darunter systematische Übersichtsarbeiten aus Texas und Südafrika, belegen, dass feuchte Wundauflagen ein stabileres Heilungsmilieu erzeugen: Sie reduzieren Zellnekrosen, fördern Angiogenese, wirken schmerzlindernd und schützen die Wunde zugleich vor exogenen Reizen. Dass feuchte Heilung schneller, sicherer und ästhetisch günstiger ist, gilt mittlerweile als evidenzbasierter Standard, nicht als optionales Zusatzwissen. Für Apotheken bedeutet das: Die Beratung zur Auswahl geeigneter Wundauflagen – von hydroaktiven Pflastern bis hin zu Okklusivverbänden – ist ein zentraler Bestandteil pharmazeutischer Kompetenz.
Gleichzeitig darf die Evidenzlage nicht simplifiziert werden, denn pauschale Empfehlungen ignorieren die Differenzierung, die klinisch nötig ist. Eine Meta-Analyse der Sun Yat-sen Universität in Guangzhou kommt zu einem überraschend differenzierten Ergebnis: Bei primär verschlossenen, sauberen Operationswunden zeigten sich zwischen Luft-Exposition und Verbandbehandlung keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Infektionsraten. Rund elf Prozent der Wunden infizierten sich – unabhängig von der gewählten Methode. Entscheidend war nicht die Art des Schutzes, sondern dessen Indikation. Für die Apothekenberatung ergibt sich daraus eine doppelte Verantwortung: Einerseits müssen nicht-medizinische Interpretationen wie „Luft heilt besser“ korrigiert werden, andererseits dürfen auch keine Automatismen entstehen, die jede Wunde reflexhaft mit einem Pflaster versehen wollen. Für chirurgisch geschlossene, nicht exsudierende Wunden kann es medizinisch sogar angezeigt sein, frühzeitig auf einen Verband zu verzichten – sofern die hygienischen Voraussetzungen stimmen und mechanische Belastungen vermieden werden.
Der Therapieerfolg hängt nicht allein von der Technik ab, sondern von der Anpassung an die jeweilige Situation. Besonders vulnerable Gruppen – Kinder, chronisch Kranke, Menschen mit eingeschränkter Wundheilung – benötigen eine individuelle Betrachtung. Gleiches gilt für die Nachbeobachtung: Auch wenn laut Meta-Analyse der Verbandszeitraum keinen signifikanten Einfluss auf die Infektionsrate hatte, empfehlen die Studienautor:innen eine Überwachung über mindestens 30 Tage – ein Punkt, der in der Beratung häufig übersehen wird. Wichtig ist außerdem die Differenzierung nach Wundtyp: Während Schürfwunden bei ausreichender Hygiene offen behandelt werden können, sind tiefere Schnitt-, Stich- oder Platzwunden grundsätzlich abdeckpflichtig – am besten mit feuchtigkeitsregulierenden Systemen, die nicht mit der Wunde verkleben.
Ein weiterer Aspekt, der in der Praxis oft zu kurz kommt, ist die subjektive Wahrnehmung der Patient:innen: Studien zeigen, dass Schmerzen unter feuchten Wundauflagen geringer sind – ein Detail mit hoher Relevanz für Compliance und Heilungsverlauf. Filmverbände und hydroaktive Pflaster verbessern nicht nur die physikalischen Heilungsbedingungen, sondern auch das kosmetische Ergebnis. In der Kundenkommunikation kann das ein entscheidender Motivator sein – etwa bei Jugendlichen oder bei Wunden im Gesicht. Die ökonomische Seite wird ebenfalls adressiert: Lufttrocknung ist zwar billiger, aber die Gesamtfolgekosten durch verlängerte Heilzeiten, Infektionsrisiken oder Narbenkorrekturen relativieren den kurzfristigen Spareffekt. Das Apothekenpersonal ist damit nicht nur medizinisch, sondern auch ökonomisch beratend gefordert.
Im Zentrum steht dabei eine Haltung, die das Thema Wundversorgung nicht bagatellisiert, sondern als pharmazeutischen Beratungsanlass ernst nimmt. Nicht jede Wunde ist gleich, nicht jede Situation erlaubt Standardlösungen, und nicht jede Studienlage ist widerspruchsfrei. Doch wer das differenzierte Wissen über feuchte Heilung, infektiologische Risiken, Verbandstypen und psychosoziale Heilungsfaktoren als Einheit begreift, kann Patient:innen nicht nur versorgen, sondern auch aufklären. Die alte Vorstellung vom „an der Luft Heilen“ wird damit nicht einfach verdrängt, sondern eingeordnet – als Teil einer medizinischen Vergangenheit, deren Revision kein Dogma, sondern ein Fortschritt ist. Für Apotheken ist das nicht weniger als eine alltägliche Chance zur Präventionsberatung auf höchstem Niveau.
Glosse: Apotheken atmen anders, Pflegekassen zittern still, Pflaster sprechen mit Nebenwirkung
Warum Cannabisräume zur Oase werden, Milliardenforderungen Politik provozieren und ein Werbedruck im Probemäppchen für Irritation sorgt
Henrik Falkenberg-Zumsand war nie ein Freund halber Sachen. Schon gar nicht, wenn es um seine Apotheke geht. Und erst recht nicht, wenn das Bundesgesundheitsministerium die Spielregeln für Medizinalcannabis neu schreibt. Als die Gesundheitsministerkonferenz beschloss, dass künftig nur noch nach persönlichem Erstkontakt mit einem Arzt Cannabis verordnet werden darf, gab es zwei Sorten Apotheker: die einen stöhnten, die anderen strickten neue Konzepte. Falkenberg-Zumsand gehörte zu Letzteren.
Innerhalb weniger Wochen verwandelte er seine "Zumsand-Apotheke" in eine Art grüne Oase mit therapeutischem Chillfaktor. Statt Flurmusik dudelt nun Vinyl aus den 1970ern, Lavendel mischt sich mit Terpenen in der Raumluft, und der Beratungstresen erinnert mehr an eine Mischung aus Altar und Teeküche als an einen Ort pharmazeutischer Aufklärung. Die übliche Zweiteilung von Verkauf und Backoffice wich einer Dreifaltigkeit: Kasse, Kompressionsware, Kontemplation.
Der Star der neuen Aufstellung ist die sogenannte "Philosophenschlange". Sie beginnt morgens noch gemächlich mit einzelnen Gestalten, die sich schulterklopfend begrüßen. Doch gegen Mittag entwickelt sie eine Dynamik, die irgendwo zwischen Pilgerweg und Street-Festival liegt. Man wartet, man spricht, man tauscht: Sortenempfehlungen, Podcasts, Hanfbutterrezepte. Zwischen Platz 4 und 9 gibt es einen inoffiziellen Tauschkosmos für vegane Riegel, kleine Notizhefte, Halbedelsteine. Bei Platz 10 sitzt ein Mann mit Didgeridoo. Kein Scherz.
"Die Leute wollen nicht einfach nur Medizin – sie wollen ein Ritual", sagt Falkenberg-Zumsand, während er seinen Hanfblütentee umrührt. Im umgestalteten Beratungsraum, hinter einem Fadenvorhang in Regenbogenfarben, empfängt die PTA mit sanfter Stimme, dampfender Teetasse und einer bedächtigen Frage: "Wie fühlen Sie sich heute mit Ihrer Dosis?" Die Patienten danken es ihr. Mit Geduld. Mit Fragen. Mit einer nie gekannten Entspannung. Man bleibt länger, man spricht mehr. Man konsumiert achtsamer.
Der Umbau hat sich gelohnt. Nicht nur wirtschaftlich. "Wir arbeiten ganz anders. Wir reden über Sinn und Wirkung, über Lebensweise, über Achtsamkeit. Und wir haben endlich Zeit dafür." Inzwischen kooperiert die Apotheke mit dem Bio-Bäcker, der auf Kassenbons Croissants ausgibt, mit dem Yogastudio, das Rabatt für Patienten gewährt, und mit der Tankstelle, die an die Nebenwirkung Appetit glaubt. "Da geht richtig was."
Doch der regulatorische Hintergrund ist alles andere als romantisch. Grund für die Neuerung ist der florierende Missbrauch über Online-Plattformen. Schnellrezepte ohne jede Beratung, Algorithmen statt Anamnese. Die Bundesapothekerkammer warnte, die Politik reagierte. Selbst Dr. Cannova, einst Vorreiter im digitalen Verschreibungswesen, zieht inzwischen gegen dubiose Mitbewerber vor Gericht. Aus Wildwest wird Rechtsstaat. Aus Fernversorgung wird Nahbetreuung. Und aus Cannabis wird eine Art Prüfstein für die Rolle der Vor-Ort-Apotheke.
Parallel fliegen die Fetzen an anderer Stelle: Die DAK fordert Corona-Zuschüsse zurück – ganze 5,2 Milliarden Euro, die aus der Pflegekasse abgeflossen sein sollen. Rechtswidrig, so die Kasse. Rückzahlung jetzt oder Beitragserhöhung bald. Und da stellt sich die Frage: Wo bleibt eigentlich die Achtsamkeit beim Haushaltsvollzug? Während die Apotheke auf Atmung setzt, atmet die Finanzlage der Pflegeversicherung schwer. Ob da ein bisschen Hanftee helfen würde?
Derweil bemüht sich ein MS-Patient aus München um seine eigene Form der Selbstoptimierung: Er reichte laut Gericht Quittungen für nie abgeholte Privatrezepte ein – 25-mal. Schaden: 150.000 Euro. Strafmaß: Bewährung. Und eine Pflastermarke aus Niederbayern hat ihren eigenen Aufreger zu verdauen: Die Proben enthielten einen diskreten, aber gut sichtbaren Werbeslogan: "Jetzt bei Dropla". Nicht in einem Beipackzettel, sondern direkt im Pflastermäppchen. Die Sonnenwinkel-Apotheke reagierte mit Humor, der Hersteller Medisano Labs mit Erklärung: Verwechslung.
Wer bei all dem auf Bodenhaftung hofft, muss nach Nordhafen blicken. Die Prisma-Apotheke zeigt Flagge. Im Pride Month gibt es hier nicht nur Regenbogen-Aufsteller, sondern auch Beratung für alle Lebenslagen – queerfreundlich, offen, unaufgeregt. Doch nicht jeder teilt die Freude: Im Netz hagelt es Kritik. Sichtbarkeit ist keine Einbahnstraße. Auch das ist Teil des Alltags, den eine Apotheke heute mitverhandelt. Zwischen Kompressionsstrumpf und Cannabiskeks, zwischen Impfstoff und Identität.
Und irgendwo in diesem Kaleidoskop aus Vorschrift und Vertrauen, Missbrauch und Musik, Pflaster und Positionierung zeigt sich, was Apotheke eben auch sein kann: Ein Ort, der Veränderung zulässt, weil er sich selbst verändert. Nicht als Pose, sondern als Haltung. Nicht nur bei Nebel aus Hanfdampf, sondern auch in klarer Luft.
Und sollte man glauben, das sei ein rein urbanes Phänomen, irrt man gewaltig. Denn längst sind auch kleinere Orte auf den Geschmack gekommen. In Bad Bergfeld etwa wurde das Konzept der Cannabis-Lounge-Apotheke mit regionaler Prägung kombiniert: Hier trifft Schwarzwälder Kirsch auf Cannabis-Kirschblüte, und die Beratung erfolgt mit Blick auf Streuobstwiesen. Mancherorts gibt es inzwischen Wartelisten für Gesprächssitzungen mit der "grünen Theke".
Selbst Fortbildungen tragen inzwischen Titel wie "Terpene & Temperamente" oder "Patientengespräche im Aroma-Flow". Die Berufsverbände reagieren verhalten optimistisch. "Die Entwicklungen sind interessant und zeigen, wie wandelbar unsere Branche ist", sagt eine Sprecherin des Bundesverbandes der Beratenden Pharmazeutinnen. Auch die Nachfrage nach Zusatzqualifikationen im Bereich Phytotherapie und Cannabinoid-Kompetenz hat sprunghaft zugenommen.
Und ganz leise, aber deutlich, meldet sich ein neuer Typ Apotheke zu Wort: einer, der nicht nur ausliefert, sondern einlädt. Der nicht abschottet, sondern aufmacht. Der nicht vorgibt, sondern zuhört. Der Hanf nicht als Ausrede sieht, sondern als Anstoß. Zu Gesprächen, zu Beratung, zur Selbstvergewisserung. Vielleicht ist diese grüne Welle mehr als ein Trend. Vielleicht ist sie der Anfang einer neuen Beratungskultur. Mit oder ohne Didgeridoo.
Von Engin Günder, Fachjournalist
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