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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |
Während eine zentral gelegene Straßensanierung die Linden-Apotheke in Dörfles-Esbach wirtschaftlich ins Wanken bringt und das politische System auf infrastrukturell bedingte Betriebsnotlagen keinerlei operative Antwort kennt, zeigt sich in sozialen Medien unter dem Schlagwort „SkinnyTok“ eine zweite, strukturell kaum regulierte Bedrohung: Jugendliche geraten in eine algorithmisch getriebene Spirale aus Essstörungsnormalisierung, Körperbildverzerrung und digitaler Selbstkontrollideologie, ohne dass Schule, Elternhaus oder Versorgungseinrichtungen wirksam intervenieren können – ein kollektives Versagen, das Apotheken zunehmend zu niedrigschwelligen Gesprächsorten und Risikofrühwarnern macht. Gleichzeitig forciert der Gemeinsame Bundesausschuss mit seiner Entscheidung zur frühzeitigen Verordnung lipidsenkender Arzneimittel bei bereits 10 % kardiovaskulärem Ereignisrisiko eine grundlegende Neuorientierung in der Präventionsstrategie: weg von der reinen Schadensbegrenzung, hin zu einer datenbasierten, prädiktiven Versorgungslogik. In dieser Dreifachlage – ökonomische Überforderung durch Baumaßnahmen, psychische Gefährdung durch soziale Medien, medizinische Systemumstellung durch regulatorische Weichenstellung – zeigt sich mit aller Deutlichkeit, wie vielschichtig moderne Versorgungskrisen geworden sind, wie eng digitale, soziale und infrastrukturelle Faktoren heute miteinander verwoben sind und wie zentral die Rolle von Apotheken als stabilisierende, beratende und präventiv handelnde Einheiten künftig gedacht werden muss.
Verkehr sperrt Zugang, Umsatz fällt abrupt, Hilfen bleiben aus
Wie eine Straßensanierung die Linden-Apotheke in Not bringt, Kunden fernbleiben und das System auf stumme Schicksale nicht vorbereitet ist
Als die Bagger anrollten, kam der Stillstand. In Dörfles-Esbach, einer kleinen Gemeinde im oberfränkischen Landkreis Coburg, bedeutet die derzeitige Sanierung der zentralen Verkehrsachse nicht nur Umleitung und Baulärm – sondern existenziellen Stillstand für ein örtliches Gesundheitsangebot. Betroffen ist die Linden-Apotheke, geführt von Katharina Sedlmayer und einer Kollegin, die seit Wochen mit einem dramatischen Rückgang an Laufkundschaft konfrontiert sind. Die Baustelle vor der Tür, die eigentlich der Infrastruktur dienen soll, wird zum Stolperstein für die Zukunft des Betriebs.
Die Vollsperrung der Hauptstraße, die Anfang Mai begann, schneidet die Apotheke faktisch vom Alltagsverkehr ab. Patienten, die auf Mobilität angewiesen sind, drehen ab. Zufallsbesucher bleiben aus. Lieferdienste und Notfallversorgung sind erschwert. „Wir sehen die Entwicklung mit wachsender Sorge“, sagt Sedlmayer. „Es ist nicht so, dass uns die Notwendigkeit der Maßnahme nicht einleuchtet – aber dass eine solch massive Einschränkung ohne strukturelle Begleitmaßnahmen für die örtlichen Betriebe umgesetzt wird, ist für uns eine Katastrophe.“ Die Konsequenz: Kurzarbeit. Arbeitszeitkürzung bei stabilen Fixkosten – ein gefährlicher Hebel für einen kleinen Apothekenbetrieb, dessen Margen ohnehin unter Druck stehen.
Die Geschichte der Linden-Apotheke ist kein Einzelfall. Sie steht exemplarisch für eine Kette von Faktoren, die in Summe zur schleichenden Ausdünnung der Grundversorgung in ländlichen Gebieten führen. Infrastrukturmaßnahmen, die nicht von einem flankierenden Gewerbekonzept begleitet werden, können Betriebe in der Fläche schnell ruinieren – vor allem, wenn die öffentliche Wahrnehmung ausbleibt. „Wir haben uns an die Gemeinde gewandt, auch an das Landratsamt, doch außer allgemeinen Hinweisen zur Baustellenkoordination kam nichts Substanzielles“, erklärt Sedlmayer. Die Apotheke habe von sich aus Kund:innen über alternative Anfahrtswege informiert, Botendienste ausgeweitet und einen eigenen Parkplatzplan skizziert – alles in Eigenregie, ohne institutionelle Unterstützung.
Die Fragen, die sich aus diesem Fall ergeben, sind grundsätzlicher Natur: Welche betriebswirtschaftliche Resilienz dürfen Kommunen bei lokalen Apotheken voraussetzen? Wie viel Risiko tragen Unternehmerinnen im Gesundheitswesen allein? Und was bedeutet es, wenn politische Entscheidungsprozesse lokale Versorgungsakteure übergehen? Dass eine Apothekenschließung nicht nur ein wirtschaftlicher Vorgang ist, sondern auch eine Versorgungslücke schafft, scheint in der aktuellen Baustellenplanung nicht mitgedacht worden zu sein.
Denn Apotheken sind nicht einfach Geschäfte, sie sind Schutzräume – besonders in ländlichen Regionen, in denen Arztpraxen rar und Busverbindungen spärlich sind. Die Linden-Apotheke übernimmt seit Jahren Funktionen, die weit über die reine Arzneimittelabgabe hinausgehen: Medikationsanalysen, Impfberatung, Akutversorgung kleiner Beschwerden, soziale Präsenz. Wird ein solcher Betrieb destabilisiert, gerät mehr als ein Geschäftsmodell ins Wanken – es bricht ein Teil lokaler Gesundheitsinfrastruktur weg.
Dabei hätte es Lösungsansätze gegeben: gezielte finanzielle Kompensationen für betroffene Betriebe während der Baumaßnahme, temporäre Verkehrsfreigaben zu Stoßzeiten, eine öffentlich koordinierte Versorgungskampagne mit Hinweisschildern und Medieninformationen. „Doch nichts davon ist geschehen“, bilanziert Sedlmayer. Man sei allein mit der Situation. Auch die eigenen Mitarbeiter:innen seien durch die Kurzarbeit emotional belastet: „Sie sind loyal, aber natürlich spüren sie die Unsicherheit. Wie lange das durchzuhalten ist, weiß niemand.“
In Bayern gibt es keine systematische Entschädigungsstruktur für Gewerbebetriebe, die durch kommunale Baumaßnahmen Verluste erleiden. In Einzelfällen können Härtefallregelungen greifen, doch diese setzen entweder behördliches Wohlwollen oder juristische Verfahren voraus – beides ist für eine kleine Apotheke keine realistische Option. Während der Gesundheitsminister über Apothekenhonorare und Notdienstpauschalen debattiert, spitzt sich im kommunalen Alltag die Versorgungskrise zu. Die Sanierung in Dörfles-Esbach wird noch Monate dauern – für die Linden-Apotheke könnten diese Monate entscheidend sein.
Der Fall Sedlmayer sollte als Weckruf verstanden werden. Es braucht endlich eine systematische, vorausschauende Absicherung für kritische Versorgungsakteure, die in kommunale Infrastrukturmaßnahmen eingebettet sind. Dazu zählen nicht nur Apotheken, sondern auch ärztliche Praxen, Pflegeeinrichtungen und Heilmittelversorger. Wenn Planung ohne Versorgung gedacht wird, endet Baupolitik im Stillstand – wirtschaftlich, sozial, gesundheitlich.
Investitionen beflügeln Strukturen, Steuerpolitik fördert Stabilität, Apotheken rücken ins Reformzentrum
Wie das Sofortprogramm der Bundesregierung auch pharmazeutische Betriebe stärkt, Steuererleichterungen zur Entlastung beitragen und Strukturpolitik neue Chancen eröffnet
Als die Bundesregierung ihr Sofortprogramm zur wirtschaftlichen Belebung vorlegte, stand der Fokus klar auf einer breiten Wachstumsagenda: Steuererleichterungen, Investitionsimpulse, Digitalisierung und Bürokratieabbau. Doch während sich die öffentliche Diskussion vor allem um Industrie, Bau und Mittelstand drehte, rückte ein Aspekt schnell in den Schatten – die stillen Profiteure im Gesundheitswesen. Apotheken etwa, die im kleinteiligen Versorgungssystem teils unter schwerer wirtschaftlicher Last stehen, könnten durch gezielte Maßnahmen ebenfalls entlastet und gestärkt werden. Eine tiefergehende Analyse zeigt: Das neue Paket birgt nicht nur strukturelle Entlastungspotenziale für pharmazeutische Betriebe, sondern eröffnet auch neue Pfade für Digitalisierung, Investitionsschutz und steuerpolitische Stabilität.
Konkret umfassen die geplanten Entlastungen unter anderem eine Ausweitung der degressiven Abschreibungsmöglichkeiten, Investitionsprämien für kleine und mittlere Unternehmen sowie eine steuerliche Förderung von Digitalisierung und Energieeffizienz. Apotheken, die seit Jahren auf neue IT-Lösungen – etwa für E-Rezepte, Warenwirtschaft und automatisierte Lagerhaltung – angewiesen sind, könnten durch solche steuerlichen Hebel endlich flächendeckend Investitionsspielraum erhalten. Gerade vor dem Hintergrund zunehmender Schließungen kleiner Apothekenbetriebe wäre dies ein überfälliges Signal.
Auch die geplante Anhebung der Sofortabschreibung für geringwertige Wirtschaftsgüter (GWG) dürfte sich im Apothekenkontext bemerkbar machen: Scanner, Tablets, Kühltechnik oder Rezeptdrucksysteme fallen regelmäßig in genau diesen Investitionsbereich – bisher jedoch oft unter der Schwelle des betriebswirtschaftlich Sinnvollen, weil steuerliche Anreize fehlten. Eine Anhebung auf 1.500 Euro je Einzelanschaffung, wie sie derzeit diskutiert wird, würde die finanzielle Hürde für solche Ausstattungen deutlich senken. Zugleich wird die Bürokratiebelastung durch einfachere Dokumentationspflichten reduziert, was Apotheken konkret im Alltag entlastet.
Ein weiterer Schwerpunkt des Programms liegt auf der Verbesserung der Liquiditätslage kleiner Unternehmen. Die geplante Senkung der Stromsteuer für Unternehmen, die Ausweitung von Tilgungspausen bei KfW-Krediten sowie eine verbesserte Verlustverrechnung für 2024 und 2025 könnten für viele Apothekenbetriebe zur kritischen Stütze werden – vor allem in Regionen mit rückläufigem Kundenverkehr und hohem Standortdruck. Bereits jetzt warnen Berufsverbände wie der DAV oder ABDA davor, dass ohne gezielte wirtschaftliche Anreize der Rückgang aktiver Apotheken weiter Fahrt aufnehmen könnte. Das Sofortprogramm greift diesen Punkt indirekt auf, auch wenn pharmazeutische Betriebe nicht explizit genannt sind.
Umso wichtiger wird es nun, dass apothekenrelevante Aspekte bei der Umsetzung mitgedacht werden. Die Digitalprämie, die sich explizit auch auf eHealth-Systeme erstreckt, kann – so richtig angewendet – auch telepharmazeutische Angebote, neue IT-Schnittstellen oder die Integration pharmazeutischer Dienstleistungen stützen. In Kombination mit landesspezifischen Förderprogrammen wie denen aus dem Innovationsfonds oder den Digitalpakt-Gesundheit-Fördertöpfen der Bundesländer entsteht ein Instrumentenmix, der je nach Region und Zielsetzung ganz konkrete Umsetzungsstrategien erlaubt – sofern Apotheken gezielt beraten und informiert werden.
Doch das Programm wirft auch Fragen auf: Was ist mit Betrieben, die sich in schwierigen Übergabeprozessen befinden? Welche Hilfen erhalten Apotheken, die sich strukturell neu aufstellen wollen – etwa durch Filialisierung, Generationenwechsel oder Standortverlagerung? Hier bleibt das Papier der Bundesregierung bislang vage. Es formuliert Steuererleichterungen für Investitionen, aber keine klaren branchenspezifischen Innovationshilfen. Die Gefahr liegt darin, dass viele Apotheken die Chancen mangels Ressourcen gar nicht realisieren können – oder von den eigenen Steuerberatungen nicht auf deren Relevanz aufmerksam gemacht werden.
Entscheidend wird daher, ob Standesvertretungen, Kammern und Verbände die Brücke schlagen zwischen politischer Maßnahme und betrieblicher Realität. In Schulungen, Leitfäden und Steuerbriefings müsste jetzt praxisnah dargelegt werden, welche Punkte aus dem Programm für Apotheken tatsächlich nutzbar sind, welche Fristen gelten, welche Voraussetzungen bestehen. Denn nur wenn Fördermöglichkeiten konkret ankommen, kann das Sofortprogramm als Signal für die Apothekerschaft wirken – und nicht bloß als wirtschaftspolitische Fußnote für andere Branchen.
Zugleich bietet das Paket auch eine politische Botschaft, die weit über das rein Finanzielle hinausgeht: Der Gesundheitssektor wird nicht länger nur als Kostenstelle betrachtet, sondern – zumindest in Nuancen – als Bestandteil wirtschaftlicher Zukunftsfähigkeit. Apotheken rücken dabei implizit in eine neue Rolle: als Dienstleister mit Innovationspotenzial, als digitale Gesundheitsakteure, als resilient aufgestellte Kleinunternehmen. Wer dies klug nutzt, kann nicht nur steuerlich profitieren, sondern die eigene Rolle im Gesundheitswesen neu verorten – strategisch, finanziell, gesellschaftlich.
Dass all dies zur richtigen Zeit kommt, liegt auf der Hand: Zwischen steigenden Betriebskosten, dem Umbruch durch das E-Rezept, der anhaltenden Unsicherheit über Vergütungsregelungen und dem wachsenden politischen Druck auf Versorgungslücken sehen sich Apothekenbetriebe einem Kraftakt gegenüber, den sie allein nicht mehr schultern können. Das Sofortprogramm greift viele dieser Belastungen indirekt auf – jetzt braucht es Klarheit in der Kommunikation, zügige Umsetzungsinstrumente und echte Verlässlichkeit in der Steuerpolitik. Denn Investitionsspielraum ist nur dann wirksam, wenn Vertrauen, Planungssicherheit und betriebliche Anschlussfähigkeit gleichzeitig gegeben sind.
Frühzeitige Weichenstellung, rechtssichere Sanierung, nachhaltige Stabilisierung
Warum Apotheken nicht auf den Absturz warten dürfen, wie der Restrukturierungsrahmen Betriebsstrukturen schützt und welche Verantwortung auf Verbandsebene ignoriert wird
In der öffentlichen Diskussion über die wirtschaftliche Krise im Apothekenwesen dominiert ein gefährliches Missverständnis: Der Niedergang einer Apotheke beginnt nicht mit der Insolvenz – er beginnt mit dem Ausbleiben präventiver Entscheidungen. Während die Schlagzeilen vom „Apothekensterben“ geprägt sind und politische Forderungen nach höheren Honoraren oder Entbürokratisierung den öffentlichen Diskurs bestimmen, bleibt ein entscheidender Aspekt weitgehend unbeachtet: die systematische Sanierungsfähigkeit als Ausdruck unternehmerischer Selbstverantwortung. Die Werkzeuge dafür existieren – doch sie verstauben in der Schublade.
Insbesondere der präventive Restrukturierungsrahmen, eingeführt durch das Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz (StaRUG), bietet einen rechtlich geschützten Raum für Neuausrichtung, bevor die Zahlungsunfähigkeit eintritt. Dieses Verfahren erlaubt es Apotheken, mit Gläubigern außergerichtlich tragfähige Lösungen zu entwickeln, Verbindlichkeiten zu ordnen, betriebliche Strukturen neu zu gestalten – und all das ohne öffentliche Stigmatisierung, ohne Abgabe der Kontrolle und ohne die oft dramatischen Konsequenzen eines Insolvenzverfahrens. Die Geschäftsführung bleibt handlungsfähig, der Betrieb kann unter eigener Leitung stabilisiert werden. Doch der entscheidende Faktor bleibt: das Timing.
Wer erst reagiert, wenn die Liquidität erschöpft ist, hat die Chance auf strukturierende Sanierung oft bereits verspielt. Gerade inhabergeführte Apotheken zögern häufig zu lange, weil Restrukturierung immer noch mit Scheitern assoziiert wird. Diese Scham ist nicht nur betriebswirtschaftlich kontraproduktiv, sondern gefährdet die Versorgungssicherheit – insbesondere in ländlichen Regionen, wo jede Apotheke weniger ein Marktteilnehmer als ein kritischer Versorgungsanker ist. Die Angst vor Reputationsverlust verkennt, dass Handlungsfähigkeit gerade in der Krise der stärkste Ausdruck von Führungsqualität ist.
Dabei liegen die Vorteile auf der Hand: Der präventive Restrukturierungsrahmen eröffnet ein Verfahren, das auf Eigenverantwortung setzt, ohne die rechtliche Absicherung zu verlieren. Voraussetzung ist lediglich die Feststellung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit – eine Schwelle, die deutlich vor dem klassischen Insolvenzgrund liegt – sowie ein schlüssiger Sanierungsplan. Wird dieser professionell begleitet, können operative Prozesse gesichert, Arbeitsplätze erhalten und Gläubigerinteressen ausgeglichen werden. Die Alternative ist häufig das, was derzeit den Apothekenmarkt prägt: ungeplanter Rückzug, abrupte Schließungen, Auflösungsverkäufe.
Doch nicht nur die Apothekeninhaber selbst stehen in der Pflicht. Auch Berufsverbände, Standeskammern und politische Verantwortungsträger versäumen es bislang, über die bloße Krisendiagnostik hinauszugehen. Statt strategische Sanierungskompetenz aktiv zu fördern, wird weiterhin reaktiv auf Symptome reagiert. Die Debatte kreist um Fixumsanpassungen, Lieferengpässe, Bürokratieabbau – und verliert dabei das unternehmerische Substrat aus dem Blick: wirtschaftliche Resilienz durch frühzeitige Restrukturierung. Es fehlt an wirtschaftlicher Aufklärung, an rechtlicher Beratung, an einem strategischen Mindset, das Sanierung nicht als Eingeständnis von Schwäche, sondern als Ausdruck von Verantwortung begreift.
Das Problem ist dabei nicht das Fehlen gesetzlicher Mittel, sondern die Unsichtbarkeit der Optionen. Viele Apothekeninhaber kennen den präventiven Restrukturierungsrahmen nicht oder verbinden ihn mit Gerüchten über Kontrollverlust, Gläubigerdruck oder Imageschaden. Tatsächlich aber bietet das StaRUG einen Weg, genau diese Risiken zu vermeiden. Es schafft einen geschützten Raum, in dem mit Gläubigern verhandelt werden kann, ohne dass der Betrieb medial oder rechtlich in den Insolvenzkontext gezogen wird. Selbst außergerichtliche Sanierungen bleiben möglich – sofern sie professionell begleitet und kommunikativ abgesichert werden.
Entscheidend ist: Ohne eine realistische Einschätzung der wirtschaftlichen Lage bleibt jede Maßnahme bloße Reaktion. Zu viele Apotheken führen ihre Bücher nur pro forma, erkennen Fehlentwicklungen zu spät, unterschätzen den strukturellen Wandel ihres Standorts oder halten an überholten Geschäftsmodellen fest. Die wirtschaftliche Transparenz, die Voraussetzung jeder Sanierung ist, entsteht häufig erst im Krisenmoment – also zu spät. Hier sind nicht nur die Apotheken gefragt, sondern auch die Strukturen um sie herum: Steuerberater, Sanierungsberater, Kammervertreter müssen stärker auf Früherkennung und Interventionsfähigkeit setzen.
Denn wer heute noch glaubt, dass wirtschaftliche Resilienz sich allein durch politische Rahmensetzungen wiederherstellen lässt, verkennt die betriebliche Realität. Apotheken agieren im Wettbewerb – nicht nur mit Versendern, sondern auch mit veränderten Kundenbedürfnissen, mit Lieferkettenproblemen, Personalengpässen und Standortverödung. Wer seine Strukturen nicht anpasst, wird strukturell überholt. Doch das Restrukturierungsrecht zeigt: Selbst in der Krise gibt es Wege zurück zur Stabilität. Wer diese Wege frühzeitig beschreitet, kann nicht nur seine Apotheke retten, sondern auch die pharmazeutische Versorgung vor Ort sichern.
Insofern ist Restrukturierung kein Eingeständnis des Scheiterns, sondern eine Form moderner Unternehmensführung. Sie bedeutet nicht, dass etwas verloren geht – sondern, dass etwas gerettet werden kann. Und sie erfordert einen kulturellen Wandel: weg vom Insolvenz-Tabu, hin zu einer Sanierungskultur, die Eigenverantwortung belohnt, rechtliche Instrumente nutzt und unternehmerische Entscheidungen respektiert. Die Gesetze sind da. Die Strukturen könnten es sein. Es fehlt nur noch eines: die Bereitschaft, zu handeln, bevor es zu spät ist.
Geist, Glaube, Geschäftsmodell
Wie eine Nonne mit Melisse begann, ein Konsul die Marke formte und Klosterfrau heute stiftungsgestützt agiert
Zwei Jahrhunderte nach der Gründung ist Klosterfrau mehr als ein Pharmaklassiker mit Nonnenimage – es ist ein Unternehmen, dessen Ursprung eine Frau in Habit legte, das durch einen Konsul geprägt, durch einen Stiftungsumbau gesichert und bis heute mit einer emotional aufgeladenen Arznei verbunden bleibt: dem Melissengeist. Was 1826 in Köln als klösterlich inspirierte Heilkunst begann, steht 2026 im Zentrum eines marktwirtschaftlich und symbolpolitisch aufgeladenen Jubiläums. Während die Apothekerin und Nonne Maria Clementine Martin mit Kräuterauszügen ein Heilmittel etablierte, das sich über Grenzen hinweg verbreiten sollte, übernahm Jahrzehnte später der Konsul Hermann Kaufmann die strategische und strukturelle Neuausrichtung – ein Wendepunkt, der Klosterfrau zum global tätigen Markenhersteller formte. Heute verwaltet eine Stiftung das Erbe, doch viele wissen kaum, wie viel Kontinuität und Wandel in dieser Geschichte zugleich liegen.
Der Mythos der Ordensfrau, die als Heilkundige auftrat, gründet sich auf belegte Spuren: Maria Clementine Martin, aus Lothringen stammend, war tatsächlich Mitglied der Ursulinen, bevor die Säkularisierung sie zwang, ihren Orden zu verlassen. Ihre Berufung zur Heilkunst überdauerte jedoch – sie begann, das Wissen über klösterliche Rezepturen in marktfähige Produkte zu übertragen. Ihr berühmtestes: der Klosterfrau Melissengeist, ein alkoholischer Kräuterauszug mit 13 Heilpflanzen. In einer Zeit, in der Apothekenrecht, Medizinalverordnungen und geschlechterspezifische Ausschlüsse die berufliche Praxis regulierten, schlug Martin einen eigenwilligen Weg ein: keine approbierte Apothekerin, aber eine umtriebige Heilmittelproduzentin mit Lizenz – und bald auch mit Geschäftssinn.
Dass sie sich „Klosterfrau“ nennen durfte, beruhte auf einem kaiserlichen Privileg. Das Wort selbst wurde zur Marke – ein früher Beleg für die Macht semantischer Symbolik im Arzneimittelmarketing. Nach ihrem Tod 1843 blieb das Unternehmen bestehen, doch die entscheidende Neupositionierung erfolgte erst Ende des 19. Jahrhunderts, als der Berliner Konsul Hermann Kaufmann in das Unternehmen eintrat. Er war kein Apotheker, sondern Unternehmer mit Gespür für Markenbildung, Qualitätssicherung und internationale Expansion. Unter seiner Leitung wurde Klosterfrau zum industriellen Arzneimittelhersteller, der zugleich seine Herkunft nicht verleugnete, sondern zur Marke stilisierte. In einer Zeit wachsenden Vertrauens in Markenprodukte bei gleichzeitigem Rückgang traditioneller Arzneikundiger wirkte das Konzept doppelt: vertraut und modern.
Kaufmanns Nachkommen führten das Unternehmen bis ins 21. Jahrhundert, ehe es in eine Stiftung überführt wurde – ein Schritt, der weniger mit klösterlicher Nächstenliebe als mit strategischer Eigentumssicherung zu tun hatte. Heute gehört Klosterfrau zur Klosterfrau Healthcare Group, einer Stiftung bürgerlichen Rechts, deren Konstruktion zwar gemeinnützig wirkt, aber klar auf unternehmerische Handlungsfähigkeit ausgelegt ist. Diese Struktur schützt das Unternehmen vor Übernahmen, sichert Arbeitsplätze langfristig und erlaubt zugleich eine flexiblere Reinvestition von Gewinnen. Damit wurde Klosterfrau nicht etwa zum wohltätigen Restposten einer untergegangenen Heiltradition, sondern zu einem professionell aufgestellten Pharmabetrieb mit ikonischem Hauptprodukt.
Und doch bleibt der Melissengeist das emotionale Herz der Marke. In zahllosen deutschen Badezimmern steht er neben Erkältungsbalsam, Teebaumöl oder Eukalyptussalbe – oft generationsübergreifend tradiert, mit einem Duft, der Kindheit, Pflege und Fürsorge zugleich evoziert. Die Marke lebt vom Vertrauen, das über Jahrzehnte aufgebaut wurde, von der Vorstellung heilender Pflanzenkraft und nicht zuletzt von einem ikonografisch besetzten Markenbild: der Nonne auf dem Etikett. Dass der Alkoholgehalt bei 79 Volumenprozent liegt und das Produkt apothekenfrei verkauft werden darf, ist ein Widerspruch, der eher Fragen an Regulierung und Verbraucherverständnis stellt als an das Produkt selbst. Die Rezeptur ist längst ein Klassiker, doch die rechtliche Einstufung schwankt bis heute zwischen Arzneimittel, Hausmittel und Ritualobjekt.
Im Jubiläumsjahr 2026 will Klosterfrau diese Geschichte bewusst betonen – mit einer Statue der Gründerin, die bereits jetzt am Unternehmenssitz in Köln errichtet wurde, aber auch mit neuen Kommunikationsstrategien, die Vergangenheit und Zukunft verbinden sollen. Dabei geht es nicht nur um Vermarktung, sondern auch um die Positionierung im sich wandelnden Gesundheitsmarkt: Wo einst Hausmittel regierten, herrscht heute Regulierung. Wo früher Vertrauenswerbung genügte, braucht es heute Wirkungsbelege. Und wo eine einzelne Frau einst mit Melisse und Mut ein Unternehmen gründete, agiert heute ein diversifiziertes Stiftungsunternehmen mit Millionenumsätzen.
Diese Entwicklung spiegelt nicht nur den Wandel eines Unternehmens, sondern auch den der pharmazeutischen Gesellschaft selbst. Der Weg von der Ordensfrau zum Stiftungskonzern ist kein Bruch, sondern ein Spiegelbild gesellschaftlicher und marktwirtschaftlicher Entwicklung: Die Aneignung religiöser Symbolik, die Institutionalisierung von Wissen, die Integration emotionaler Markensprache und die rechtliche Neustrukturierung in eine Stiftung – all das zeigt, wie ein ursprünglich weiblich-konnotiertes, kleinteiliges Heilmittelimperium in eine dauerhafte, marktfähige Form überführt wurde, ohne seinen historischen Kern ganz zu verlieren. Gerade deshalb bleibt Klosterfrau ein Sonderfall im Pharmamarkt: spirituell aufgeladen, aber kapitalstark, symbolträchtig, aber handlungsfähig, traditionsverwurzelt, aber marketinggewieft.
Erfundene Studien, verdrehte Daten, ignorierte Verantwortung
Wie der MAHA-Report des US-Gesundheitsministeriums mit Fake-Zitaten arbeitet, politische Narrative bedient und das Vertrauen in die Wissenschaft gefährdet
Es war als Aufbruch ins postfaktische Gesundheitszeitalter gedacht: Der MAHA-Bericht der US-Regierung unter dem Banner „Make Our Children Healthy Again“ wollte eine neue gesundheitspolitische Vision für Amerikas Kinder liefern – stattdessen steht er jetzt im Zentrum eines handfesten Wissenschaftsskandals. Denn wie Recherchen des Online-Magazins Notus belegen, basiert das White-Paper des Gesundheitsministeriums nicht nur auf wackeligen Annahmen, sondern auch auf offensichtlichen Fälschungen, erfundenen Autoren, nicht existenten Studien und methodisch entstellten Interpretationen. Der Anspruch einer „transformativen Neubewertung“ der Kindergesundheit mündet damit in eine offene Konfrontation zwischen Regierung und Wissenschaft – mit weitreichenden Folgen für politische Glaubwürdigkeit, öffentliche Debatten und die epistemische Integrität politischer Entscheidungsprozesse.
Was zunächst wie ein ambitioniertes Public-Health-Programm daherkam, entwickelt sich in der Rückschau zur Projektionsfläche einer gesundheitsideologischen Agenda, die sich selektiv auf Pseudo-Evidenz stützt und gezielt mit emotional aufgeladenen Narrativen operiert. In einer Zeit, in der das Vertrauen in wissenschaftliche Institutionen bereits durch Populismus, Desinformation und Social-Media-Kampagnen unter Druck steht, wirkt der MAHA-Report wie ein Katalysator für Misstrauen. Insbesondere die Rolle des US-Gesundheitsministers Robert F. Kennedy Jr. – ohnehin umstritten durch seine impfkritischen Positionen – gerät damit ins Zentrum einer Debatte, die die Grenze zwischen Politik, Pseudowissenschaft und gezielter Manipulation auslotet.
Denn was die Journalistinnen von Notus zutage gefördert haben, lässt sich nicht mit Schlampigkeit oder „Zitationsfehlern“ abtun. So taucht im offiziellen Report etwa eine Studie zur Angstentwicklung bei Jugendlichen auf, die angeblich von der Epidemiologin Katherine Keyes verfasst wurde – nur existiert diese Studie gar nicht. Keyes selbst zeigte sich auf Anfrage überrascht und erklärte, sie habe niemals an der genannten Untersuchung gearbeitet. Auch die Virginia Commonwealth University dementierte, dass ihr Professor Robert L. Findling jemals eine im Report zitierte Untersuchung zu Werbung für psychoaktive Substanzen bei Jugendlichen durchgeführt habe. Noch absurder wird es bei einem angeblichen ADHS-Forscher „Shah, M.B.“ – ein Name, der in keinem wissenschaftlichen Verzeichnis auffindbar ist.
Diese Fälle sind keine Einzelfälle. Laut Notus enthält der Bericht mindestens sieben nicht auffindbare Quellen, rund 20 weitere werden aus dem Zusammenhang gerissen oder falsch dargestellt. Fachzeitschriften wie Jama Pediatrics werden instrumentalisiert, ihre Reputationen genutzt, um Positionen zu stützen, die in der Originalforschung gar nicht existieren. Links ins Leere, doppelt erfasste Autoren, manipulativ verkürzte Studienergebnisse – das Arsenal der Irreführung ist breit. Die „New York Times“ bestätigte in einer eigenen Recherche weitere Diskrepanzen. Und dennoch versuchte das Weiße Haus zunächst, all dies auf „Formatierungsfragen“ und „redaktionelle Flüchtigkeitsfehler“ zu reduzieren.
Diese Reaktion ist in ihrer Leichtfertigkeit ein Teil des Problems. Denn was der MAHA-Bericht produziert, ist keine gewöhnliche Fehlleistung, sondern ein dokumentiertes Beispiel für die bewusste Umcodierung wissenschaftlicher Standards in ein politisches Instrument. Dass das Gesundheitsministerium inzwischen eine überarbeitete Version ohne die sieben erfundenen Quellen veröffentlicht hat, ist kein Eingeständnis, sondern ein strategischer Schadensbegrenzungsversuch – der vor allem signalisiert: Man hält an der inhaltlichen Aussage fest, auch wenn die Fundamente bröckeln. Diese Behauptung ist brisant. Denn sie impliziert, dass eine „historische Neubewertung“ der Kindergesundheit auch dann ihre Gültigkeit behalten soll, wenn ihre wissenschaftliche Legitimationsbasis nachweislich gefälscht ist.
Die Reaktionen aus der Wissenschaft sind entsprechend eindeutig. Margaret Manto, eine der für die Enthüllung verantwortlichen Journalistinnen, erklärte gegenüber dem Spiegel: „Der Report würde in keinem Peer-Review durchkommen.“ Damit rührt sie an das Herz des wissenschaftlichen Diskurses: Peer-Review ist kein Formalismus, sondern das Schutzsystem gegen genau jene Verzerrungen, die nun den MAHA-Bericht entwerten. Ohne Überprüfung durch Fachkollegen, ohne Transparenz über Datenbasis und Methodik, verliert jede Aussage ihren Anspruch auf Wahrheit. Der Bericht operiert aber nicht in einem luftleeren Raum, sondern ist Teil einer politischen Kommunikationsstrategie – mit direkter Anschlussfähigkeit an konservative, paternalistische und gesundheitsmoralische Diskurse.
Es ist diese strategische Aufladung, die die Debatte eskaliert. Denn wer vorgibt, Kindern helfen zu wollen, kann sich der emotionalen Zustimmung sicher sein. Der Schutz von Kindern ist eines der wenigen Themen, die über politische Lager hinweg Zustimmung finden. Gerade deshalb wird er häufig missbraucht – sei es in Impfdebatten, Ernährungspolitik oder mental-health-Kampagnen. Der MAHA-Report schließt an diese Linie an, indem er ein dramatisiertes Bild chronischer Erkrankungen zeichnet, Ursachen simplifiziert, medizinische Kausalitäten politisiert – und wissenschaftliche Unsicherheiten in moralische Klarheiten überführt. Die wissenschaftliche Integrität bleibt dabei auf der Strecke, ebenso wie die eigentliche Zielgruppe des Berichts: die Kinder.
Der Vorgang erinnert an andere Fälle staatlicher Informationspolitik, bei denen Evidenz selektiv eingesetzt wurde, um bestimmte Botschaften zu stützen – etwa während der COVID-19-Pandemie oder in der Debatte um schulische Maskenpflicht. Doch der MAHA-Report geht einen Schritt weiter: Er konstruiert Realität aus Fiktion. Das ist kein bloßer Vorwurf an einzelne Autoren oder Zuarbeiter, sondern Ausdruck eines institutionellen Versagens, das systemische Konsequenzen hat. Wenn eine Regierung in ihrer offiziellen Kommunikation bewusst gefälschte oder erfundene Studien einsetzt, stellt sich nicht nur die Frage nach Rücktritten – sondern auch nach den Kontrollmechanismen, die solche Täuschungen hätten verhindern müssen.
Dass die Affäre nicht bloß ein PR-Debakel ist, zeigt sich daran, dass die Aufarbeitung längst die US-Medienlandschaft durchzieht. Neben Notus und New York Times haben auch Sender wie MSNBC, Fachportale wie STAT und internationale Medien begonnen, die Vorgänge zu analysieren. Für Robert F. Kennedy Jr., der ohnehin als Außenseiter mit wissenschaftsskeptischem Profil agiert, dürfte die Causa MAHA zum Lackmustest seiner ministeriellen Glaubwürdigkeit werden. Denn wer der Wissenschaft öffentlich widerspricht, muss zumindest auf einer eigenen Wahrheit bestehen können – nicht auf einer erfundenen.
Dokumentation schützt Versorgung, Umwidmung braucht Sorgfalt, Equidenstatus ist Pflicht
Warum Apotheken bei Tierarzneimitteln genau hinsehen müssen, wie Humanpräparate korrekt umgewidmet werden und was der Equidenpass im System regelt
Die Verordnung, Abgabe und Dokumentation von Arzneimitteln zur Anwendung bei Tieren ist kein Randthema mehr, sondern längst ein komplexer Versorgungsbereich, der Apotheken in juristischer, organisatorischer und betriebswirtschaftlicher Hinsicht fordert. Besonders im Fall von Equiden, also Pferden und Eseln, treten Anforderungen hinzu, die nicht nur die Arzneimittelabgabe betreffen, sondern auch spezifische Dokumentationspflichten nach sich ziehen – vom Equidenpass über die Schlachtbestimmung bis hin zur lebenslangen Wirksamkeit rechtlicher Festlegungen. Damit wird der Umgang mit Tierarzneimitteln zu einem Prüfstein für die ordnungsgemäße Führung und Beratungskompetenz öffentlicher Apotheken.
In der Praxis sind es immer wieder drei Konstellationen, die besonders hohe Sorgfalt erfordern: die Verordnung eines verschreibungspflichtigen Tierarzneimittels, die Umwidmung eines Humanarzneimittels zur tiermedizinischen Anwendung und die Herstellung oder Abgabe einer Rezeptur. Unabhängig davon, ob es sich um ein Schlachttier, ein Haustier oder ein therapeutisch eingesetztes Tier handelt, gelten für Apotheken klare gesetzliche Pflichten – insbesondere seit Inkrafttreten der Verordnung (EU) 2019/6 über Tierarzneimittel, die europaweit einheitliche Anforderungen an Verschreibung, Abgabe, Aufbewahrung und Kontrolle regelt. Die Verordnung ersetzt frühere Richtlinien und hat das Ziel, Tiergesundheit, Lebensmittelsicherheit und Verbraucherschutz durch standardisierte Vorgaben für den Arzneimittelverkehr zu stärken.
Apotheken müssen bei jeder Abgabe von Tierarzneimitteln nachweislich dokumentieren, wer Empfänger der Abgabe ist, welches Tier betroffen ist, welche Arzneimittel mit welchen Wirkstoffen, Dosierungen und Packungsgrößen verwendet werden und welche Chargen ausgeliefert wurden. Zudem muss der verschreibende Tierarzt mit Name, Anschrift und gegebenenfalls Signatur erfasst werden – idealerweise mitsamt einer Kopie des Rezepts. Die Pflicht zur vollständigen Aufbewahrung dieser Angaben für mindestens fünf Jahre, wobei die Frist nicht vor Ablauf des Verfallsdatums enden darf, ergibt sich unmittelbar aus Artikel 103 der Verordnung. Verstöße gegen diese Aufbewahrungspflicht können als Ordnungswidrigkeit gewertet und mit empfindlichen Bußgeldern geahndet werden.
Besonderes Augenmerk gilt dem Einsatz von Humanarzneimitteln bei Tieren – ein Prozess, der im Tierarzneimittelrecht unter dem Begriff der „Umwidmung“ bekannt ist. Eine Umwidmung darf nur erfolgen, wenn kein geeignetes zugelassenes Tierarzneimittel zur Verfügung steht, und muss explizit durch den behandelnden Tierarzt begründet und auf dem Rezept kenntlich gemacht werden. In diesen Fällen gelten für Apotheken eigene Preisbildungsregeln: Der Abgabepreis darf nicht nach dem regulären Apothekenverkaufspreis bemessen werden, sondern muss gemäß § 3 der Arzneimittelpreisverordnung kalkuliert werden – also auf Basis des Apothekeneinkaufspreises zuzüglich 3 % Aufschlag, einer Pauschale von 8,10 Euro sowie der gesetzlichen Mehrwertsteuer von 19 %. Zuschläge für Notdienstfonds oder pharmazeutische Dienstleistungen dürfen nicht aufgeschlagen werden, weil es sich juristisch nicht um Human-, sondern um Tierarzneimittel handelt.
Ein weiteres sensibles Thema stellt die Abgabe von Arzneimitteln an Pferde dar. Nach EU-Recht gelten Equiden grundsätzlich als lebensmittelliefernde Tiere, was bedeutet, dass sie wie Rinder, Schweine oder Geflügel behandelt werden – selbst dann, wenn sie faktisch nie zur Schlachtung bestimmt sind. Der Status als „nicht zur Schlachtung für den menschlichen Verzehr bestimmt“ kann nur über einen offiziellen Eintrag im sogenannten Equidenpass festgelegt werden. Dieses Dokument ist bei allen in der EU gehaltenen Pferden und Eseln, die nach dem 1. Juli 2009 geboren wurden, verpflichtend. Ist der Status einmal als „nicht lebensmittelliefernd“ eingetragen, gilt dies dauerhaft – auch bei einem Besitzerwechsel. Aus diesem Grund ist es geboten, bei jeder Abgabe von Tierarzneimitteln für Pferde den Equidenpass vorlegen zu lassen, den Status zu überprüfen und diese Kontrolle zu dokumentieren. Die bloße mündliche Zusicherung eines Besitzers reicht nicht aus.
Ein kritischer Punkt ist die Frist bei der Verordnung antimikrobiell wirksamer Tierarzneimittel. Hier schreibt Artikel 105 Absatz 6 der EU-Verordnung eine maximale Gültigkeitsdauer von fünf Tagen ab Ausstellung des Rezepts vor. Danach verliert das Rezept seine rechtliche Wirksamkeit. Der Grund: Der gezielte und zurückhaltende Einsatz von Antibiotika in der Tiermedizin soll resistenzfördernde Fehlanwendungen vermeiden. Apotheker:innen sind daher verpflichtet, das Datum der Rezeptausstellung und das Arzneimittelprofil kritisch zu prüfen – nicht nur zur juristischen Absicherung, sondern auch im Sinne der Tiergesundheit und des öffentlichen Gesundheitsschutzes.
Die Anforderungen an das Rezept selbst sind umfangreich: Identität des behandelten Tieres, vollständiger Name und Kontaktangaben von Besitzer oder Halter, Daten und Signatur des verschreibenden Tierarztes, genaue Bezeichnung des Arzneimittels inklusive Wirkstoff, Dosierung, Packungsgröße, sowie – bei lebensmittelliefernden Tieren – eine exakte Angabe der Wartezeit bis zur Schlachtung oder Milchabgabe. Werden diese Angaben nicht erfüllt, darf das Rezept nicht beliefert werden. Auch eine Rücksprache mit dem Tierarzt und entsprechende Korrektur sollten dokumentiert werden – idealerweise in der Apothekensoftware oder manuell mit Zeitstempel.
Für Apotheken ergibt sich aus alledem eine doppelte Verantwortung: Sie sind einerseits Partner in der tierärztlich kontrollierten Arzneimittelversorgung, andererseits gesetzlich verpflichtet, jeden Schritt exakt zu dokumentieren, rechtlich korrekt zu kalkulieren und bei Bedarf auch Nachweise für behördliche Kontrollen vorzuhalten. Die rechtssichere Abwicklung ist deshalb keine Option, sondern Pflicht. Fehlerhafte Umwidmungen, unvollständige Rezeptangaben oder eine lückenhafte Buchführung können nicht nur zu Bußgeldern, sondern auch zu Problemen im Haftungsfall führen – etwa wenn ein Tier auf ein Arzneimittel reagiert oder Lebensmittelrückstände gefunden werden.
Daher gilt für Apothekenteams: Wer Arzneimittel für Tiere abgibt, muss nicht nur die Pharmakologie beherrschen, sondern auch Verwaltungsrecht, Abgaberecht und Preisbildung kennen. Eine Schulung des Personals, idealerweise mit Fokus auf Umwidmungspraxis, Rezepturregelungen und Equidenstatus, sollte als integraler Bestandteil der internen Fortbildung betrachtet werden. Nur so lassen sich Risiken minimieren, Abläufe standardisieren und der dokumentierte Überblick bewahren – denn im Zweifel zählt nicht nur, was gegeben wurde, sondern vor allem, was dokumentiert ist.
Impfstoffmangel belastet Grundversorgung, verzögert Reiseprophylaxe, zwingt zu Alternativen
Wie Engpässe bei Infanrix und Twinrix das Impfsystem herausfordern, welche Optionen verfügbar bleiben und warum strukturelle Ursachen erneut sichtbar werden
Es ist ein kritisches Signal an die öffentliche Gesundheitsstruktur, wenn Basisimpfstoffe zur Grundimmunisierung und zentral empfohlene Vakzine zur Reiseprophylaxe gleichzeitig ausfallen: Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) hat in dieser Woche vor anhaltenden Lieferengpässen bei mehreren Humanimpfstoffen gewarnt – mit weitreichenden Folgen für Praxen, Apotheken und Impforganisationen. Besonders betroffen sind dabei die Präparate Infanrix und Twinrix des Herstellers GlaxoSmithKline (GSK), die in vielen kinderärztlichen und reisemedizinischen Programmen eine Schlüsselrolle spielen. Die Engpässe werden nicht kurzfristig behoben sein: Während die Verfügbarkeit von Twinrix-Kinderdosen erst ab Mitte Juli 2025 erwartet wird, rechnet das PEI für Infanrix überhaupt erst zum 30. April 2026 mit einer Rückkehr zur Normalversorgung – ein Zeitraum, der weit über das medizinisch Zumutbare hinausgeht und erneut Fragen zur strukturellen Resilienz des Impfstoffmarktes aufwirft.
Infanrix ist ein seit Jahrzehnten etablierter Kombinationsimpfstoff zur aktiven Immunisierung gegen Diphtherie, Tetanus und Keuchhusten. Eingesetzt wird er im Rahmen der STIKO-Grundimmunisierung ab dem zweiten Lebensmonat bis zum sechsten Lebensjahr. Mit dem Ausfall des Präparats in sämtlichen Varianten – inklusive Infanrix hexa und Infanrix-IPV-Hib – entsteht nicht nur ein logistisches Problem, sondern auch eine Unsicherheit für Eltern, Ärzt:innen und Apotheken, die auf abgestimmte Impfschemata angewiesen sind. Die Ständige Impfkommission hat in einer Zwischenbewertung geraten, auf verfügbare Tdap-IPV-Kombinationsimpfstoffe auszuweichen – doch deren Verfügbarkeit ist regional unterschiedlich, und die notwendige Anpassung der Impfabschnitte birgt zusätzlichen Schulungs- und Beratungsbedarf in der Fläche. Besonders für kinderärztliche Praxen bedeutet die Situation eine organisatorische Herausforderung, die auch auf die pharmazeutische Beratung in Apotheken übergreift.
Bei Twinrix, das für Kinder ab einem Jahr zur gleichzeitigen Impfung gegen Hepatitis A und B zugelassen ist, stellt sich das Problem aus einer anderen Richtung. Der Impfstoff, der nicht nur für Urlaubsreisen, sondern auch für Indikationsimpfungen bei vulnerablen Gruppen eingesetzt wird, ist laut PEI ebenfalls bis auf Weiteres nicht verfügbar. Als Ausweichoption sollen getrennte Impfstoffe für Hepatitis A und B verwendet werden – eine Maßnahme, die medizinisch sinnvoll, organisatorisch aber aufwendiger ist. Gerade im reisemedizinischen Setting, wo Impfzeitpunkte knapp getaktet sind und Kombinationsimpfstoffe eine zentrale Rolle für die Planung spielen, wirkt sich diese Verfügbarkeitslücke spürbar aus. Eltern, die mit ihren Kindern Sommerreisen in Regionen mit erhöhtem Hepatitisrisiko planen, geraten damit in ein Zeitproblem – insbesondere, wenn Grundimmunisierungen noch nicht abgeschlossen sind.
Hinzu kommen Engpässe bei spezifischen Abpackungen anderer Vakzine, etwa Bexsero zur Meningokokken-B-Prophylaxe (PZN 09461122) sowie bei einer Kombinationsdosis von Infanrix-IPV-Hib (PZN 08627715). Das PEI weist zwar auf alternative Packungsgrößen und Präparate hin, doch wie stabil deren Verfügbarkeit bleibt, ist unklar – insbesondere angesichts der global vernetzten und fragil gewordenen Produktionsketten. Auch wenn für die meisten Standardimpfstoffe nach PEI-Angaben derzeit keine flächendeckenden Engpässe bestehen, bleibt der Blick auf die mittelfristige Entwicklung angespannt: Immer häufiger zeigt sich, dass einzelne Lieferprobleme über Monate anhalten und dabei das ganze System destabilisieren können – nicht nur in der Versorgung, sondern auch im Vertrauen der Bevölkerung.
Die Ursachen der aktuellen Engpässe bleiben von GSK bislang unkonkret. Branchenintern wird über Produktionsumstellungen, Priorisierungen bei Exportlieferungen und regulatorische Nachjustierungen spekuliert, doch gesicherte Informationen liegen nicht vor. In der Vergangenheit hatten bereits technische Umstellungen, Reinraumsanierungen oder Chargenprobleme zu langen Ausfällen geführt. Was jedoch auffällt, ist das wiederkehrende Muster: Zentrale Impfstoffe für vulnerable Gruppen – Kleinkinder, Reisende, immunschwache Patient:innen – sind offenbar besonders häufig betroffen. Das wirft grundlegende Fragen zur Versorgungssicherheit auf, insbesondere wenn strategisch wichtige Vakzine nicht durch generische oder parallel produzierte Varianten substituierbar sind.
Die politisch-administrative Reaktion bleibt bislang verhalten. Zwar listet das PEI alle Engpässe transparent auf, doch weitergehende Maßnahmen – etwa nationale Bevorratungsstrategien oder EU-weit koordinierte Produktionsreserven – sind nicht in Sicht. Die Folge: Apotheken und Praxen bleiben erneut allein mit der Aufgabe, individuelle Lösungen zu finden, Eltern zu beruhigen, Beratung anzupassen und Versorgungslücken zu überbrücken. Dass dies auf Dauer das Vertrauen in das Impfangebot schwächt, liegt auf der Hand.
Nicht zuletzt hat die wiederholte Engpasslage auch juristische und haftungsrechtliche Implikationen. Wenn empfohlene Impfstoffe nicht verfügbar sind und Infektionen auftreten, könnten ärztliche und pharmazeutische Fachkräfte in Erklärungsnot geraten – trotz objektiver Nichterfüllbarkeit. Gerade im Kontext von Reiseimpfungen, deren Beratungsprozesse immer auch mit Aufklärungspflichten verknüpft sind, sollte die gesundheitspolitische Dimension nicht unterschätzt werden.
Keine Einigung, kein Hilfsmittel, kein Ausweg
Warum Apotheken ab Juli IKK-classic-Versicherte ausschließen, was wirtschaftlich nicht mehr tragbar ist und wie sich Versorgung und Vertragspolitik verzahnen
Am 1. Juli 2025 endet ein Stück gelebter Versorgungspraxis – still, aber folgenreich. Die bundesweite Vereinbarung zwischen dem Deutschen Apothekerverband (DAV) und der IKK classic zur Hilfsmittelversorgung läuft aus, ohne dass ein Anschlussvertrag gefunden wurde. Stattdessen tritt ein Versorgungsstopp in Kraft, der rund 2,5 Millionen Versicherte und Tausende Apotheken unmittelbar betrifft. Der Grund liegt nicht in technischen Hürden, nicht in vertraglichem Versäumnis, sondern in ökonomischen Realitäten, die sich nicht länger ignorieren lassen: Der Vertragspartner IKK classic hat aus Sicht der Apothekerschaft Bedingungen vorgelegt, die als betriebswirtschaftlich untragbar gelten. Und genau darin liegt der Kern eines Konflikts, der über die Frage der Hilfsmittel hinausweist – auf die strukturelle Zerreißprobe zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern im Gesundheitswesen.
Formal ist der Fall schnell erzählt. Der bestehende Vertrag wurde von der IKK classic fristgerecht zum 30. Juni 2025 gekündigt. Die Verhandlungen zur Weiterführung scheiterten – trotz intensiver Gespräche auf Bundesebene, trotz regionaler Vermittlungsversuche etwa durch den Apothekerverband Nordrhein. Wie dieser in einem Rundschreiben mitteilt, habe die IKK classic auf wirtschaftlichen Konditionen bestanden, die weder die tatsächlichen Beschaffungs- noch die Abgabekosten decken. In der Folge werde ein „Lieferausschluss“ zum 1. Juli 2025 in den Apothekensystemen aktiviert. Damit ist klar: Ab diesem Datum dürfen Apotheken keine Hilfsmittel mehr zulasten der IKK classic abgeben, es sei denn, sie schließen Einzelverträge – was die Verbände mit Nachdruck als Fehler darstellen.
Denn das zweite Narrativ dieser Entwicklung ist ein brancheninterner Appell zur Standhaftigkeit. Einzelverträge zwischen Apotheken und IKK classic wären zwar rechtlich möglich – sie könnten formal den Status quo fortsetzen –, doch wirtschaftlich seien sie nicht haltbar. Zu diesem Schluss kommt der AVNR nach eingehender Prüfung, bei der auch günstige Einkaufspreise berücksichtigt wurden. Im Klartext: Die von der IKK classic gebotenen Konditionen unterschreiten die Schmerzgrenze dessen, was eine Apotheke verantworten kann. Der Verband rät daher dringend von der Unterzeichnung solcher Einzelvereinbarungen ab – ein deutliches Signal, das nicht nur ökonomisch, sondern auch standespolitisch gemeint ist.
In der Tiefe dieses Konflikts zeigt sich ein Prinzipienstreit mit systemischer Relevanz. Während Kassen verstärkt versuchen, ihre Ausgaben über selektiv verhandelte Verträge zu senken, geraten Leistungserbringer in eine gefährliche Zange aus Inflation, Personalengpässen und Fixkostendruck. Die Apotheken sollen in diesem Spagat zwischen Versorgungspflicht und Wirtschaftlichkeit weiterhin liefern – aber zu Bedingungen, die ihre eigene Existenz bedrohen können. Dass dieser Widerspruch immer öfter eskaliert, ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines an Grenzen stoßenden Systems: Je stärker die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen unter Druck gerät, desto härter werden die Konditionen für die Vertragspartner. Was als betriebswirtschaftliche Notwendigkeit argumentiert wird, entwickelt sich in der Praxis zur Abwärtsspirale – auch im Hinblick auf Versorgungssicherheit, Qualität und Flächenabdeckung.
Besonders betroffen ist Nordrhein-Westfalen, wo die IKK classic überdurchschnittlich viele Versicherte hat. Dort versuchte der AVNR, trotz des Berliner Scheiterns eine regionale Lösung zu erzielen – doch auch diese Gespräche verliefen im Sand. Der Verband betont zwar seine Gesprächsbereitschaft und signalisiert, dass eine Rückkehr an den Verhandlungstisch möglich sei – allerdings nur, wenn die IKK classic ebenfalls bereit ist, von ihren Maximalforderungen abzurücken. Bis dahin bleibt es bei der Versorgungslücke. Lediglich ein Vertrag – jener über aufsaugende Inkontinenzhilfen – bleibt bestehen. Für alle anderen Hilfsmittel gilt ab 1. Juli ein faktisches Apothekenverbot auf Kassenkosten.
Die Konsequenzen reichen weit. Patienten, insbesondere pflegebedürftige oder mobilitätseingeschränkte Versicherte, müssen sich künftig direkt an spezialisierte Leistungserbringer oder Versandhändler wenden – eine Zumutung für viele, eine Entlastung für niemanden. Apotheken wiederum verlieren nicht nur einen Marktanteil, sondern auch ein wichtiges Element ihrer Versorgungskompetenz, das in der Kundenbindung und wohnortnahen Hilfe eine Schlüsselrolle spielt. Was bleibt, ist ein Flickenteppich aus lokalen Notlösungen, individuellen Verträgen und Versorgungslücken – ein Risiko für alle Beteiligten.
Dabei geht es längst nicht mehr nur um Rollatoren, Blutdruckmessgeräte oder Kompressionsstrümpfe. Der Konflikt zwischen DAV und IKK classic steht exemplarisch für einen Gesundheitsmarkt, der sich neu sortiert. Apotheken müssen sich immer häufiger gegen ökonomischen Druck behaupten, der nicht betriebsbedingt, sondern systeminduziert ist. In diesem Kontext ist der Fall IKK classic nicht bloß eine Vertragskündigung, sondern eine Warnung. Denn wenn sich wirtschaftliche Zumutungen dauerhaft gegen medizinische Logik durchsetzen, droht der Verlust dessen, was das deutsche Versorgungssystem einmal ausgezeichnet hat: der Gleichklang von Nähe, Qualität und Verlässlichkeit.
Wenn Algorithmen abnehmen, Schweigen krank macht, und Apotheken die Sprache finden
Wie SkinnyTok Essstörungen normalisiert, Betroffene in soziale Isolation treibt und pharmazeutische Beratung neue Gesprächsräume schafft
Es beginnt harmlos. Ein Clip auf TikTok, kaum zehn Sekunden lang, untermalt von einem angesagten Sound. Eine schlanke junge Frau filmt ihren „What I eat in a day“-Alltag: schwarzer Kaffee zum Frühstück – sonst nichts. Dazu Hashtags wie #SkinnyTok, #AnaTips oder #Thinspiration. Millionenfache Aufrufe, Likes, algorithmisch getriebene Reichweite. Der vermeintliche Lifestyle wird zur toxischen Normalität, verpackt in Pastellfarben und Filterästhetik. Für Jugendliche und junge Erwachsene bedeutet dies nicht bloß Unterhaltung oder Identifikation – sondern eine Eintrittskarte in die stille Spirale einer Essstörung, in der Hunger zur Tugend, Gewicht zur Obsession und Selbstkontrolle zur Ersatzreligion wird.
Was in dieser digitalen Parallelwelt geschieht, ist keine Randerscheinung mehr. Studien des Bundesinstituts für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) belegen, dass Social-Media-Plattformen wie TikTok, Instagram und Pinterest erheblich zur Herausbildung gestörter Essmuster beitragen. Dabei geht es nicht allein um die extreme Magersucht vom Typ Anorexia nervosa oder die klassisch beschriebene Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa), sondern auch um subtilere, kaum sichtbare Verlaufsformen – etwa die Binge-Eating-Störung, atypische Mischformen oder das sogenannte orthorektische Verhalten, bei dem die Fixierung auf „gesundes“ Essen selbst zur psychischen Belastung wird.
Die Dynamik hinter SkinnyTok ist dabei weniger eine bewusste Programmierung durch die Plattformbetreiber als vielmehr ein algorithmisches Verstärkungsphänomen: Wer nach Ernährung sucht, bekommt Tipps zum Fasten. Wer nach Fasten fragt, wird in die Welt der Kalorienzähler, Water-Only-Days und toxischen Selbstbilder hineingezogen. Was als Neugier beginnt, wird zur inneren Stimme: „Dünnsein ist Kontrolle“, „Erbrechen ist Stärke“, „Frühstück ist Schwäche“. Dass diese Sätze ursprünglich aus der Szene der sogenannten Pro-Ana-Foren stammen, die bereits vor 20 Jahren unter Beobachtung standen, ist vielen Nutzer:innen nicht bekannt – und den meisten egal. Die Sprache wirkt, nicht das Herkunftsetikett.
Für Angehörige, insbesondere Eltern, ist das Erkennen solcher Entwicklungen eine Herausforderung. Essstörungen kommen nicht mit Warnschildern, sondern mit leisen Verhaltensänderungen: plötzliches Desinteresse am gemeinsamen Essen, auffälliges Körpervermeiden, ständiges Wiegen, Rückzug aus sozialen Kontakten. Oft sind es genau jene subtilen Signale, auf die das Apothekenteam sensibilisiert reagieren kann – wenn es denn vorbereitet ist. Die Apotheke vor Ort wird damit zum Ort der leisen Beobachtung, der aufmerksamen Zwischenfrage, des ungeplanten Gesprächs. Nicht als Ersatz für ärztliche Diagnostik oder Therapie, sondern als niederschwellige, entstigmatisierende Anlaufstelle. Denn viele Jugendliche oder junge Erwachsene, die noch keine offizielle Diagnose tragen, suchen nicht die Praxis – sondern die Möglichkeit, sich selbst vorsichtig zu prüfen.
In der Beratungspraxis wird dies zur hochsensiblen Schnittstelle: Ein jugendlicher Kunde fragt auffällig oft nach kalorienarmen Nahrungsergänzungsmitteln. Eine Mutter will „etwas gegen Übelkeit nach dem Essen“ für ihre Tochter. Eine Betroffene kauft regelmäßig Abführmittel – aber nie rezeptfrei empfohlene Dosen. Es sind keine klaren Diagnosen, keine harten Verdachtsmomente. Aber es sind Hinweise. Hinweise, bei denen Aufklärung beginnen kann – vorsichtig, empathisch, professionell. Die Rolle der Apotheke besteht dabei weniger in der Diagnose, sondern in der Ermutigung zur Selbstbeobachtung, zum Gespräch mit Vertrauenspersonen, zur Inanspruchnahme weiterführender Hilfe.
Das BIÖG hat hierfür ein umfassendes Informationspaket bereitgestellt: Printmaterialien, Aufklärungsvideos, interaktive Plattformangebote. Die Apothekenlandschaft ist ausdrücklich Teil dieser Aufklärungsstrategie – nicht als rein pharmazeutisches Bollwerk, sondern als öffentlicher Raum mit gesundheitskommunikativer Kompetenz. Materialien sollen nicht nur hinter dem HV-Tisch versteckt liegen, sondern sichtbar ausgelegt sein – auf dem Weg zur Sichtwahl, am Beratungsplatz für Familien, im Bereich der Kosmetik oder Nahrungsergänzung. Entscheidend ist die Sichtbarkeit, nicht die Verdachtsdiagnose.
Zudem braucht es ein klares Signal der Verantwortlichen in der Apotheke: Das Team ist vorbereitet. Nicht auf Therapie – sondern auf Zuhören, auf Erkennen, auf Weiterleiten. Schulungen zur Gesprächsführung bei sensiblen Themen, Fortbildungen über Körpersprache und Sprachgebrauch, aber auch ein fundiertes Verständnis für die psychodynamischen Hintergründe essgestörter Verhaltensweisen gehören zur Basisausstattung eines modernen Gesundheitsdienstleisters. Denn jede Eskalation beginnt mit einem verpassten Anfang.
Der Einfluss der sozialen Medien ist nicht rückgängig zu machen – aber er ist kontextualisierbar. Die Gegenbewegung beginnt dort, wo reale Gespräche Raum bekommen. In Schulen, Familien, ärztlichen Praxen. Und in Apotheken, die mehr sehen wollen als Symptome. Es geht nicht um eine Pathologisierung jugendlicher Körperbilder – sondern um ein professionelles Verständnis für die Bruchlinien zwischen Lifestyle und Leid, zwischen Diät und Diagnose, zwischen Kontrolle und Kontrollverlust.
Essstörungen entstehen nicht durch TikTok – aber TikTok ist längst Teil der Störung. Deshalb braucht es Orte, die dieses System nicht reproduzieren, sondern hinterfragen. Die Apotheke kann ein solcher Ort sein. Nicht durch moralische Bewertung, sondern durch sprachliche Öffnung. Nicht durch erhobene Zeigefinger, sondern durch das stille Bereitliegen eines Flyers, das freundliche Angebot eines Gesprächs, den Hinweis auf eine Website, die mehr weiß.
Der Satz „Skinny Girls don’t eat breakfast“ gehört nicht in Kinderköpfe. Aber er ist da. Die Frage ist, wer den zweiten Satz sagt.
Disziplin wird zur Falle, TikTok zur Bühne, Normalität zur Gefahr
Wie SkinnyTok alte Essstörungsmythen in Lifestyle-Sprache tarnt, Jugendliche unter Druck setzt und politische Schutzmechanismen überfordert
Der Körper als Projekt, das Leben als Diät, die Plattform als Spiegel – unter dem Hashtag „SkinnyTok“ entfaltet sich auf TikTok ein besorgniserregender Trend, der nicht nur Schönheitsideale, sondern ganze Lebensrealitäten prägt. Was auf den ersten Blick wie harmlose Fitnessmotivation oder gesundes Lifestyle-Coaching erscheint, ist in Wahrheit eine modernisierte Fortsetzung tiefgreifender Essstörungsideologien. Die Videos zeigen schlanke Silhouetten, minimalistische Teller, vermeintlich disziplinierte Routinen und ästhetisch inszenierte Kalorientabellen – und erzählen doch immer die gleiche Geschichte: Wer weniger isst, lebt besser. Der Algorithmus tut sein Übriges: Wer einmal solche Inhalte liked oder ansieht, wird zum Dauerkonsumenten gemacht. Die Spirale aus Selbstoptimierung, Körperverachtung und digitaler Daueransprache lässt kaum Raum zur Reflexion – besonders nicht für Jugendliche.
Während Pro-Ana-Communities in den 2000er-Jahren noch in düsteren Foren agierten und sich offen als Verherrlichung von Magersucht positionierten, verschleiert SkinnyTok seine Ideologie durch moderne Sprache, geschmeidige Ästhetik und emotional aufgeladene Bilder. Die einst offen destruktiven Imperative wie „hungern macht stark“ oder „Erbrechen ist Kontrolle“ sind verschwunden – doch die Message bleibt dieselbe. Heute heißt es: „Disziplin ist Selbstliebe“, „Skinny Girls skippen Frühstück“, „Stay in control“. Die Formulierungen wirken smart, progressiv und motivational – doch ihre Wirkung ist toxisch. Das Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit (BIÖG) warnt vor der Normalisierung gefährlicher Denk- und Verhaltensmuster, die unter dem Deckmantel von Mindset-Coaching oder Lebensstilverbesserung verbreitet werden. Dabei findet kein Austausch statt, keine kritische Auseinandersetzung – nur algorithmisch verstärkte Selbstvergleiche und stille Vereinzelung.
Besonders gefährdet sind junge Nutzerinnen, bei denen sich die soziale Vergleichsdynamik mit dem Wunsch nach Kontrolle über den eigenen Körper überschneidet. Die permanente Präsenz digitaler Vorbilder mit unrealistisch niedrigen Körperfettwerten und penibel kuratierten Alltagsroutinen führt nicht selten dazu, dass reale Bedürfnisse – wie Hunger, Freude an Bewegung oder Essenslust – als Schwäche empfunden werden. „SkinnyTok ist kein Subtrend, sondern ein Systemrisiko für die psychische Gesundheit Jugendlicher“, so das BIÖG. Die aktuelle Popularität von Hashtags wie #caloriedeficit, #skinnycheck oder #whatIeatinaday, oft kombiniert mit Triggerwarnungen, zeige vor allem eines: Der Algorithmus erkennt keine Krankheit – er erkennt nur Engagement.
Diese strukturelle Blindheit algorithmischer Logik stellt auch die Plattformbetreiber vor eine ethische Herausforderung. TikTok hat wiederholt betont, dass gesundheitsgefährdende Inhalte gelöscht und Warnhinweise platziert würden. Doch die Realität ist anders: Viele Clips bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone, umgehen automatisierte Filter durch vermeintlich unverfängliche Begriffe oder benutzen Slangcodes, die nur Eingeweihten verständlich sind. Die Inhalte werden dadurch nicht ungefährlicher – nur schwerer zu kontrollieren. Anders als bei klassischen Medien wirkt hier kein Redaktionsteam, keine journalistische Prüfung, kein Korrektiv. Der Feed reagiert nicht auf Wahrheitsgehalt, sondern auf Klickwahrscheinlichkeit.
In diesem Vakuum aus Kontrolle und Verantwortung verschieben sich auch gesellschaftliche Diskurse. Bewegungen wie Body Positivity oder Health at Every Size, die in den vergangenen Jahren mehr Diversität in Schönheitsfragen gefordert hatten, werden durch SkinnyTok wieder marginalisiert. Die Ästhetik des Dünnseins rückt erneut ins Zentrum – nicht als Nebeneffekt von Werbung oder Mode, sondern als direktes Ziel. „Skinny“ wird zum Lebensziel, zur Haltung, zur Leistung. Diese Verschiebung ist nicht nur ein Rückschritt in der Emanzipation körperlicher Vielfalt, sondern eine direkte Gefahr für psychische und physische Gesundheit – mit zunehmender Entgrenzung. Denn wer ist schon dünn genug? Und wann ist „Disziplin“ wirklich gesund?
Auch politisch ist das Thema bisher unterbelichtet. In Deutschland gelten zwar allgemeine Jugendschutzgesetze, doch fehlen spezifische Regelungen, um digital verbreitete Essstörungsinhalte systematisch zu kennzeichnen, einzuschränken oder zu analysieren. TikTok unterliegt in der EU dem Digital Services Act (DSA), der Plattformen mit systemischem Einfluss zu Risikoprüfungen und Schutzmaßnahmen verpflichtet. Doch wie diese umgesetzt werden, ist bislang kaum überprüfbar. Frankreich und Belgien fordern eine klare Einordnung von SkinnyTok-Inhalten als gesundheitliches Risiko – auch auf Grundlage der gestiegenen Beratungs- und Therapieanfragen bei Jugendlichen. Die Europäische Kommission prüft derzeit, ob TikTok gegen die Transparenz- und Sicherheitsanforderungen des DSA verstößt.
Im deutschen Kontext mahnt das BIÖG eine aktivere Rolle der Bildungs-, Jugend- und Gesundheitspolitik an. Es brauche mehr Aufklärung über subtile Formen digitaler Ideologie, bessere Medienbildung in Schulen und niedrigschwellige Gesprächsangebote in Gesundheitseinrichtungen – auch in Apotheken, wo oft erste Signale einer gestörten Esswahrnehmung auffallen. „Wir müssen lernen, diese Inhalte nicht nur zu verbieten, sondern zu verstehen“, heißt es aus dem Institut. Denn nur so könne man Jugendlichen Orientierung geben, bevor sie in einer digitalen Normalität aufwachen, in der Verzicht zur Tugend, Essen zur Schwäche und der eigene Körper zum Gegner wird.
Lipid-Ziele neu denken, Risikobewertung konsequent anwenden, Therapie gezielt steuern
Warum LDL-Cholesterin differenziert betrachtet werden muss, wie SCORE2 das kardiale Risiko kalkuliert und was die neue Richtlinie wirklich verändert
Mit der zum Jahresbeginn in Kraft getretenen Änderung der Arzneimittel-Richtlinie hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ein deutliches Zeichen gesetzt: Patienten mit einem geschätzten Risiko von mindestens 10 Prozent, innerhalb der nächsten zehn Jahre einen Myokardinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, sollen Anspruch auf lipidsenkende Arzneimittel erhalten. Diese Schwelle ist keineswegs willkürlich gewählt – sie basiert auf europäischen Leitlinienempfehlungen und der inzwischen etablierten Risikoabschätzung mithilfe von Tools wie SCORE2. Doch was bedeutet das konkret für die Praxis, wie genau wird dieses Risiko berechnet, und wo liegen die aktuellen Zielwerte für LDL-Cholesterin und Co.? Die Diskussion um Prävention, Grenzwerte und Therapiekontrolle ist dabei alles andere als akademisch: Es geht um frühzeitige Intervention, Kosten-Nutzen-Abwägungen und ein systemisches Umdenken in der kardiovaskulären Präventionsstrategie.
Die neue Schwelle von 10 Prozent ist ein Paradigmenwechsel. Bislang galt ein derart niedriger Risikowert meist als Ausgangspunkt für Lebensstilinterventionen, nicht jedoch als zwingende Indikation für eine medikamentöse Therapie. Dass diese Schwelle nun auch als Verordnungsgrundlage für Arzneimittel herangezogen wird, bedeutet eine Ausweitung der Zielgruppe. Im Klartext: Menschen, die weder Vorerkrankungen noch manifeste Atherosklerose haben, aber beispielsweise Raucher sind, über 60 Jahre alt oder an Hypertonie leiden, könnten künftig Statine oder andere Lipidsenker verordnet bekommen – vorausgesetzt, ihr errechnetes Risiko übersteigt die 10-Prozent-Grenze. Hier rückt der Risikokalkulator SCORE2 in den Vordergrund: Er ersetzt die ältere SCORE-Methode und erlaubt eine feinere Differenzierung nach Altersgruppen, Regionen und Risikoprofilen.
SCORE2 – die European Society of Cardiology (ESC) hat diesen Algorithmus in ihre aktuellen Leitlinien übernommen – erfasst das Risiko für kardiovaskulär bedingten Tod UND nicht-tödliche Ereignisse wie Herzinfarkt oder Schlaganfall. Im Vergleich zum Vorgängermodell berücksichtigt SCORE2 zusätzlich Diabetes, LDL-Werte, systolischen Blutdruck, Raucherstatus sowie das Geschlecht. Die Kalkulation erfolgt alters- und länderspezifisch – mit klaren Schwellenwerten, ab denen eine medikamentöse Intervention empfohlen wird. Die neue Richtlinie des G-BA orientiert sich hier explizit an diesen Vorgaben. Für Deutschland liegt die Risikoschwelle, ab der eine Statintherapie als gerechtfertigt gilt, nun bei eben jenen 10 Prozent.
In der Praxis bedeutet das eine komplexere, aber auch gezieltere Versorgung. Hausärztinnen und Hausärzte sind nun angehalten, das kardiovaskuläre Gesamtrisiko strukturiert zu erheben und die Lipidtherapie daran auszurichten – nicht mehr allein am absoluten LDL-Wert. Dennoch bleibt das LDL-Cholesterin ein zentraler Marker, denn es gilt: Je höher das Risiko, desto niedriger sollten die LDL-Zielwerte ausfallen. Die ESC-Leitlinien geben hier eine klare Staffelung vor: Bei niedrigem Risiko <115 mg/dl, bei moderatem Risiko <100 mg/dl, bei hohem Risiko <70 mg/dl und bei sehr hohem Risiko <55 mg/dl. Zudem soll bei Hochrisikopatienten eine Reduktion um mindestens 50 Prozent des Ausgangswerts angestrebt werden.
Besondere Bedeutung kommt auch den Kombinationspräparaten zu. Während Statine weiterhin die erste Wahl sind, empfehlen die Leitlinien bei unzureichender Zielwerterreichung eine Ergänzung mit Ezetimib oder – bei sehr hohem Risiko – mit PCSK9-Inhibitoren. Letztere sind in der Praxis jedoch aufgrund ihrer Kosten und der stringenten Zulassungskriterien nur in Ausnahmefällen realistisch. Dennoch: Die Erkenntnis, dass eine konsequente Senkung von LDL signifikant zur Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse beiträgt, ist inzwischen gut belegt. Auch der Stellenwert anderer Lipidfraktionen wie HDL oder Triglyzeride wird weiterhin diskutiert – ihre therapeutische Bedeutung bleibt jedoch begrenzt, solange keine spezifische Intervention deren Anhebung oder Senkung mit klinischem Nutzen belegen kann.
Ein wichtiger Aspekt ist die Rolle der Apotheken. In der Patientenberatung kommt ihnen zunehmend die Aufgabe zu, über Risiken und Zielwerte aufzuklären – vor allem bei solchen Patienten, die bereits Statine einnehmen, aber deren Adhärenz unsicher ist. Studien zeigen, dass etwa jeder zweite Patient eine Lipidtherapie innerhalb des ersten Jahres abbricht – häufig aus Unkenntnis über den Nutzen oder wegen vermeintlicher Nebenwirkungen. Hier sind einfache Erklärungen gefragt: etwa, dass Cholesterin selbst keine Krankheit ist, sondern in der richtigen Konzentration lebensnotwendig, aber in der falschen Menge gefährlich.
Der neue G-BA-Beschluss hat darüber hinaus eine gesundheitspolitische Dimension. Kritiker werfen ihm vor, durch die Ausweitung der medikamentösen Primärprävention ein Feld zu öffnen, das pharmakologisch überversorgt und ökonomisch belastet wird – ohne klaren Nachweis eines verbesserten Outcomes in der Breite. Befürworter hingegen sehen darin einen notwendigen Schritt, um präventive Versorgung flächendeckend umzusetzen und Risikopatienten frühzeitig zu erkennen. Die Debatte zeigt: Es geht längst nicht nur um Cholesterinwerte, sondern um ein systemisches Verständnis von Prävention, Risikoabwägung und Versorgungspflicht. In diesem Kontext ist auch die Frage zu stellen, wie häufig die Risikorechnung aktualisiert werden sollte – und wie sich Lebensstilveränderungen auf das Risikoprofil auswirken.
Was bleibt, ist ein Regelwerk, das mehr verlangt als die bloße Verordnung eines Medikaments. Es erfordert eine strukturierte Anamnese, eine individualisierte Risikoanalyse und eine verständliche Kommunikation mit den Patienten. Die neuen LDL-Ziele sind dabei kein starres Korsett, sondern ein dynamischer Orientierungsrahmen. Entscheidend ist die Einbettung in ein Gesamtkonzept, das ärztliches Urteil, Patientenwille und präventive Evidenz in Einklang bringt – und in dem Apotheken, Praxen und Präventionsinstitutionen koordiniert zusammenwirken. Erst dann wird aus einer neuen Richtlinie echte Präventionspolitik.
Lipid-Werte früh senken, therapeutische Fenster nutzen, kardiovaskuläre Risiken vermeiden
Wie das G-BA-Votum zur Sekundärprävention neue Behandlungslogik einleitet, warum Statine nicht mehr ausreichen und welche Strategien die Primärversorgung neu formen
In der kardiovaskulären Medizin beginnt sich eine tektonische Verschiebung abzuzeichnen: Weg von der reaktiven Schadensbegrenzung, hin zu einer aktiven Vermeidung von Ereignissen – insbesondere in der Lipidtherapie. Mit dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), lipidsenkende Arzneimittel künftig auch bereits bei einem Risiko von ≥ 10 % für Herzinfarkt oder Schlaganfall innerhalb der nächsten zehn Jahre verordnungsfähig zu machen, wurde ein Systemwechsel eingeläutet, der präventives Handeln zur normativen Leitlinie macht. Damit reagiert der G-BA nicht nur auf epidemiologische Realitäten, sondern auf ein wachsendes Verständnis für die Pathophysiologie atherosklerotischer Erkrankungen. Die Botschaft: LDL-Cholesterin ist kein nachrangiger Laborwert, sondern ein kausaler Risikofaktor, der möglichst früh und nachhaltig abgesenkt werden muss.
Lange galt in Deutschland die Maßgabe, dass lipidsenkende Therapien vor allem in der Sekundärprävention – also nach einem ersten kardiovaskulären Ereignis – zur Anwendung kommen sollten. Diese Logik hat viele Menschen in die vermeidbare Situation gebracht, zunächst einen Infarkt erleiden zu müssen, bevor präventive Strategien greifen durften. Der G-BA-Beschluss bricht mit dieser rückwärtsgewandten Reparaturlogik und bringt die Primärversorgung auf das Niveau moderner kardiovaskulärer Leitlinien, wie sie international längst praktiziert werden. Der neue Grenzwert von 10 % Zehnjahresrisiko orientiert sich dabei am ESC-SCORE2-Modell, das auch Alter, Geschlecht, Blutdruck, Raucherstatus und Gesamtcholesterin einbezieht – und das Risiko evidenzbasiert quantifiziert.
Für die Praxis bedeutet das: Risikorechner und Scoring-Modelle werden künftig zum festen Bestandteil ärztlicher Entscheidungspfade, und Apotheken werden verstärkt mit Fragen zu lipidsenkenden Wirkstoffen, Zielwerten und Wechselwirkungen konfrontiert. Die Zielwerte selbst orientieren sich zunehmend an einem aggressiven Risikoreduktionsansatz: LDL unter 70 mg/dl bei moderatem Risiko, unter 55 mg/dl bei hohem Risiko und unter 40 mg/dl bei sehr hohem Risiko. In manchen Studien wurde sogar ein Zielbereich unter 25 mg/dl diskutiert – ohne Hinweise auf nachteilige Effekte. Das Paradigma: Je niedriger, desto besser – solange die Senkung sicher erreicht werden kann.
Pharmakologisch gesehen bleiben Statine die First-Line-Therapie – aber längst nicht die einzige. Ezetimib wird zur frühzeitigen Kombinationstherapie, PCSK9-Inhibitoren wie Alirocumab und Evolocumab kommen vermehrt bei Hochrisikopatienten zum Einsatz, und mit Inclisiran steht eine neue Substanzklasse mit RNA-Interferenz-Mechanismus zur Verfügung, die durch halbjährliche Injektionen eine besonders hohe Adhärenz ermöglicht. In der Pipeline befinden sich zudem Wirkstoffe wie Bempedoinsäure, die über neue Mechanismen wirken und insbesondere für Patienten mit Statinintoleranz neue Perspektiven eröffnen.
Für Prof. Dr. Ulrich Laufs, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kardiologie am Universitätsklinikum Leipzig, markiert der G-BA-Beschluss nicht nur ein medizinisches Umdenken, sondern auch ein ethisches Signal: „Wir nehmen das Risiko endlich ernst – bevor der Patient zum Notfall wird.“ Der klassische Einwand, Lipidtherapie sei nur etwas für Menschen mit bestehenden Erkrankungen, sei medizinisch nicht mehr haltbar. Vielmehr sei sie Bestandteil einer breiten Risikoabwehr, vergleichbar mit Impfungen oder Bluthochdrucktherapie.
Laufs plädiert deshalb für eine Reform der Versorgungsrealität: Hausärzt:innen müssten frühzeitig Scoring-Modelle einsetzen und Therapien nicht erst dann beginnen, wenn bereits Plaques im Gefäßsystem nachweisbar sind. Der Präventionsgedanke müsse auch bei jungen Menschen mit familiärer Hypercholesterinämie oder metabolischem Syndrom ansetzen – und dürfe sich nicht auf ältere Hochrisikopatienten beschränken. Dazu brauche es klare Vergütungsmodelle, Weiterbildung und digitale Tools. Vor allem aber: eine kulturverändernde Haltung in der ärztlichen und pharmazeutischen Praxis.
Zudem ist die Lipidtherapie ein Paradebeispiel für den Mehrwert langfristiger Investitionen: Studien zeigen, dass eine konsequente LDL-Senkung nicht nur Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindert, sondern auch Demenzrisiken senkt, Nierenfunktion schützt und systemische Entzündungsprozesse reduziert. Der volkswirtschaftliche Nutzen liegt dabei nicht nur im Gesundheitsgewinn, sondern auch in der Entlastung der Versorgungssysteme durch weniger Notfalleingriffe und Krankenhausaufenthalte.
Auch Apotheken gewinnen neue Rollen in dieser Transformationsbewegung: Die Beratung zu Adhärenz, Wechselwirkungen und Lebensstilinterventionen wird zur zentralen Schnittstelle zwischen ärztlicher Verordnung und erfolgreicher Umsetzung. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach präventivem Lipidmonitoring – etwa durch Point-of-Care-Tests, regelmäßige Kontrollgespräche und Medikationsanalysen. Die pharmazeutische Dienstleistung wird damit konkret erlebbar – und greift direkt in den individuellen Risikopfad ein.
Der Wandel von der Reaktion zur Prävention ist damit nicht nur ein technischer, sondern ein kultureller Schritt. Er verlangt, das Denken in Grenzwerten durch ein Denken in Wahrscheinlichkeiten zu ersetzen, das Paradigma der maximal tolerierten Dosis durch jenes der maximal wirksamen Reduktion abzulösen – und die Behandlungsverantwortung zeitlich vorzuziehen: nicht erst wenn Symptome entstehen, sondern wenn Risiken sichtbar werden. Prävention bedeutet in diesem Sinne nicht nur medizinischen Fortschritt, sondern eine ethische Rückgewinnung verlorener Zeit.
Nahrungsergänzung wird Normalität, Regulierung bleibt Ausnahme, Beratung übernimmt Verantwortung
Warum sich fast jeder Zweite regelmäßig Präparate kauft, wie gefährliche Fehleinschätzungen entstehen – und welche Rolle Apotheken jetzt einnehmen müssen
Die Grenze zwischen Ernährung und Arznei verschwimmt – nicht in der juristischen Realität, wohl aber in den Köpfen der Konsumenten. Über 50 Prozent der Menschen in Deutschland greifen regelmäßig zu Nahrungsergänzungsmitteln, wie die aktuelle Studie des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv) belegt. Doch während der Konsum zur Normalität geworden ist, bleibt das regulatorische Umfeld lückenhaft, die Wahrnehmung verzerrt, die Preisakzeptanz niedrig – und die Verantwortung verlagert sich stillschweigend auf diejenigen, die Vertrauen genießen: Apotheken. Inmitten eines boomenden Markts mit dünner Aufsicht entstehen so neue Aufgaben, aber auch neue Risiken für die Beratung vor Ort.
Die Befragung von über 2.000 Personen liefert ein aufschlussreiches Stimmungsbild. Knapp jeder fünfte Deutsche hält Nahrungsergänzungsmittel für einen festen Bestandteil gesunder Ernährung, mehr als die Hälfte konsumiert sie mindestens einmal pro Woche. Die Motivlage ist dabei alles andere als irrational: Wer Vitamine, Mineralstoffe oder Pflanzenextrakte kauft, will damit gezielt Versorgungslücken schließen, das Immunsystem stärken oder die Folgen eingeschränkter Ernährungsformen abfedern. Auffällig ist jedoch, dass viele der Konsumierenden nicht zwischen Nahrung und Medikament unterscheiden – oder bewusst die Grauzone nutzen. Fast ein Viertel hält die Präparate für „eine Art natürliche Arzneimittel“, 17 Prozent glauben fälschlich an eine Kontrolle durch das Arzneimittelgesetz.
Diese Irrtümer sind keineswegs zufällig, sondern Resultat einer massiven Werbepräsenz, mangelnder Aufklärung und systemischer Unschärfen in der Regulierung. Zwar unterliegen Nahrungsergänzungsmittel formal dem Lebensmittelrecht, doch die praktische Kontrolle ist begrenzt: Kein Zulassungsverfahren, keine Pflicht zur Unbedenklichkeitsprüfung, keine Höchstmengenverordnung, keine verlässliche Mengenstabilität. Dass Abweichungen von bis zu 50 Prozent zur Deklaration legal sind, ist 43 Prozent der Befragten unbekannt. Ebenso unklar bleibt, dass die Hersteller für den Nachweis ihrer Versprechen oft keine klinischen Studien vorlegen müssen – solange die Claims formal korrekt sind.
Die Verbraucherzentrale fordert deshalb eine umfassende Reform: klare Obergrenzen, ein einheitliches europäisches Sicherheitskonzept, Werbebeschränkungen für soziale Medien und eine Positivliste gesundheitlicher Aussagen. Doch ob es dazu kommt, ist offen. Bisher dominieren Marktinteressen – allein 2023 wurden in Deutschland mehr als zwei Milliarden Euro mit Nahrungsergänzungsmitteln umgesetzt. Der Handel profitiert, der Gesetzgeber zögert, und die Verantwortung landet zunehmend bei den Apothekenteams, die als einzige vertrauenswürdige Instanz zwischen Produkt, Werbeversprechen und individueller Gesundheitssorge stehen.
Gerade weil Apotheken die Unsicherheiten auf Kundenseite unmittelbar erleben, braucht es jetzt klare Strategien: eine evidenzbasierte Beratung, eine Schulung zur Abgrenzung gegenüber Arzneimitteln, eine Dokumentation risikobehafteter Kombinationen und eine offensive Ansprache bei kritischen Präparaten, etwa im Zusammenhang mit Blutverdünnern, Schilddrüsenmitteln oder Schwangerschaft. Die Kompetenz der pharmazeutischen Beratung ist gefragt – nicht als Verkaufsargument, sondern als regulatorische Notlösung im Dienst der öffentlichen Gesundheit.
Denn längst ist klar: Der Konsum wird nicht zurückgehen, selbst wenn Regulierung kommt. Nahrungsergänzungsmittel sind tief im Alltag verankert, von TikTok-Hypes über Fitnessforen bis hin zu selbst diagnostizierten Lebensstilen. Umso wichtiger ist es, dass Apotheken sich nicht instrumentalisieren lassen – weder als Verkaufsplattform noch als passive Regulierungsreserve. Wer Vertrauen trägt, trägt auch Verantwortung – aber nicht allein. Die politische Aufgabe, Klarheit zu schaffen, bleibt bestehen. Dass fast die Hälfte der Bevölkerung grundlegende Fehleinschätzungen über Inhalt, Wirkung und Sicherheit hat, ist kein individuelles Versäumnis, sondern ein strukturelles Problem.
Wenn Beratung zur letzten Barriere vor gesundheitsgefährdendem Irrtum wird, dann muss sie aktiv gestärkt, systematisch unterstützt und politisch eingebettet sein. Ansonsten gilt: Wer Klarheit fordert, muss Gesetz schaffen – nicht nur Aufklärung delegieren.
Von Engin Günder, Fachjournalist
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