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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |
Die Forderung nach 2.000 Euro pro geleistetem Apothekennotdienst wirft ein grelles Licht auf ein Versorgungssystem, das jahrzehntelang von stillem Pflichtbewusstsein und finanzieller Unterkompensation getragen wurde – und dabei an seine Grenzen stößt, wenn betriebswirtschaftliche Realität und politische Verantwortung auseinanderdriften. Während Hoffnungssignale im Koalitionsvertrag für strukturelle Entlastung sorgen könnten, bleibt die Umsetzung fragil, der Reformwille ausgebremst und das Vertrauen vieler Apotheken in die Steuerbarkeit politischer Prozesse erschüttert. Parallel steigen die wirtschaftlichen Schwellenwerte für stabile Betriebsergebnisse, Entlastung durch Standortschließungen erscheint zynisch als Wachstumsfaktor, und neue Führungsanforderungen machen professionelle Personalstrategien unverzichtbar. Förderpolitik im Wohnungsbau, Rentenbesteuerung ohne Vorläufigkeit und eine GKV-Bilanz mit strukturellen Mängeln ergänzen das Bild eines Systems, das überall von seiner Formal- zur Systemgrenze gelangt. Doch es gibt kreative Auswege: Crowdfunding ersetzt Bankkredite, Anerkennung internationaler Fachkräfte wirkt integrativ, und selbst Ernährung wird zur therapeutischen Stellschraube – in einer Landschaft, die Klarheit, Mut und strategische Führung dringender denn je braucht.
Strukturen geraten unter Druck, Zuschussmodelle kollidieren, Systemgrenzen zeigen Alternativen
Warum der Ruf nach 2.000 € Notdiensthonorar zur Belastungsprobe für das ganze Versorgungssystem wird – und welche Szenarien realistisch sind
Mit der Forderung nach 2.000 Euro Honorar für einen regulären Apothekennotdienst hat die Apothekerkammer Baden-Württemberg nicht nur ein Rechenmodell geliefert, sondern ein politisches Fanal gesetzt. Es geht um mehr als um Geld – es geht um Sichtbarkeit, um Anerkennung und letztlich um die strukturelle Zukunft einer Berufsgruppe, die zwischen Versorgungspflicht, ökonomischer Ausblutung und politischem Desinteresse zerrieben zu werden droht. Dass die Kammer ihre Forderung mit einer detaillierten Excel-Kalkulation unterlegt hat, mag auf den ersten Blick pragmatisch erscheinen. Doch bei genauer Betrachtung entfaltet die Zahl eine systemische Sprengkraft: 2.000 Euro pro Notdienst, netto wohlgemerkt, multipliziert mit rund 350.000 Diensten pro Jahr, ergäben ein Fördervolumen von etwa 700 Millionen Euro jährlich – mehr als das Doppelte der bisherigen Zuschüsse aus dem Nacht- und Notdienstfonds. Schon allein dieser Betrag stellt eine Provokation dar, nicht weil er sachlich unhaltbar wäre, sondern weil er einen stillschweigend akzeptierten Versorgungsmechanismus in Frage stellt: dass die Nachtarbeit in Apotheken als ehrenvolle, unterkompensierte Pflichtleistung zu gelten habe.
Doch die politische und finanzielle Realität lässt sich nicht mit Wunschzahlen überschreiben. Denn selbst bei einer zusätzlichen Kundenzahlung von 15 Euro, die wohl kaum gesellschaftlichen Konsens fände, würden nur etwa 100 Millionen Euro zusätzlicher Deckung generiert – nicht einmal ein Sechstel des rechnerischen Bedarfs. Der Rest müsste über den Nacht- und Notdienstfonds kompensiert werden, was wiederum eine massive Erhöhung des derzeitigen Zuschlags auf jede abgegebene Rx-Packung erforderlich machen würde: von aktuell 0,21 Euro auf schätzungsweise 0,75 Euro. In einer Zeit, in der jeder Cent an den gesetzlichen Krankenkassen hart verhandelt wird, wirkt diese Forderung wie aus der Zeit gefallen – oder wie ein taktisch kalkulierter Testballon.
Noch kritischer wird es, wenn man die reale Inanspruchnahme betrachtet. Laut ABDA lag die Zahl der Notdienstkontakte 2023 bei etwa sieben bis acht Millionen. Eine detaillierte Aufschlüsselung, wie viele davon medizinisch zwingend notwendig waren, fehlt – doch viele Apotheken berichten regelmäßig von „Kundenfällen“, die eher in die Kategorie Bequemlichkeit als in die eines Notfalls fallen. Das wirft eine unangenehme Frage auf: Wie viel kollektiver Zuschuss ist für eine Leistung gerechtfertigt, deren medizinische Notwendigkeit nicht immer gegeben ist? Der Vergleich mit der ärztlichen Notfallversorgung macht dies deutlich: In Bayern gibt man laut offiziellen Angaben rund 7,60 Euro pro Einwohner und Jahr für die ärztliche Notfallbereitschaft aus – das entspricht bundesweit etwa 650 Millionen Euro. Der geforderte Apothekenbetrag würde diesen Etat nicht nur einholen, sondern tendenziell übertreffen – bei deutlich geringerer Versorgungstiefe.
Gleichzeitig darf man die ökonomische Lage der Apotheken nicht relativieren. Bereits heute sind viele Notdienste defizitär. Personal muss mit Zuschlägen gebunden werden, Betriebskosten laufen weiter, der Ertrag aus verkauften Arzneimitteln reicht bei Weitem nicht zur Deckung der Schichtkosten – erst recht nicht in strukturschwachen Regionen. Und selbst mit dem aktuellen Zuschuss von rund 500 Euro pro Dienst ist keine echte Kompensation möglich, insbesondere dann nicht, wenn es sich um schwach frequentierte Nachtdienste handelt. Hier tritt ein Systemfehler zutage: Die Versorgungsgleichheit wird aufrechterhalten, aber nicht finanziell abgebildet. Und das rächt sich spätestens dann, wenn sich junge Apothekerinnen und Apotheker gegen eine selbstständige Niederlassung entscheiden – weil sie keine Lust haben, Nächte auf Bereitschaft zu verbringen, die wirtschaftlich ruinös sind.
Gleichwohl bleibt die Forderung nach 2.000 Euro angreifbar – und das nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus gesundheitspolitischen Gründen. Denn jedes System, das sich mit Forderungen konfrontiert sieht, die nicht flächendeckend finanzierbar sind, beginnt unweigerlich, Alternativen zu erwägen. Und die liegen auf dem Tisch: begrenzte Dispensierrechte für Ärztinnen und Ärzte, medizinisch validierte Lieferdienste für Notfallmedikation, regionale Dispensierautomaten mit telepharmazeutischer Anbindung. Was heute als technokratische Fantasie gilt, wird morgen als Sparmodell getestet. Denn eines ist sicher: Leistungen, die zu teuer werden, werden ersetzt – oder gestrichen. Das gilt für Rezepturen ebenso wie für Nacht- und Notdienste. Und wer den Preis überdreht, läuft Gefahr, sich selbst aus dem Spiel zu nehmen.
Hinzu kommt ein zweiter, nicht minder brisanter Aspekt: Der Vorschlag aus Stuttgart könnte einen ungewollten Sogeffekt auf andere Honorarelemente auslösen. Wenn der Notdienst 2.000 Euro kosten soll, was ist dann ein Rezepturvorgang wert? Schon heute rechnet kaum ein Apotheker eine magistrale Rezeptur unter 40 Euro Ertrag als betriebswirtschaftlich tragfähig. Doch dieser Betrag würde bei einer realistischen Betrachtung der Kostenstruktur eher auf 60 Euro steigen müssen – was wiederum zur Folge hätte, dass Ärzte Rezepturen seltener verordnen und Apotheken sie kaum noch annehmen. Die Folge wäre eine massive Einschränkung der individuellen Arzneimittelherstellung – und eine weitere Schwächung der pharmazeutischen Kernkompetenz.
Nicht anders verhält es sich mit dem Rx-Fixum. Das seit Jahrzehnten geltende Festhonorar von 8,35 Euro pro rezeptpflichtiger Packung wirkt im Vergleich zu den genannten 2.000 Euro wie ein Anachronismus. Würde man die Forderungslogik konsequent zu Ende denken, müsste auch das Fixum auf ein neues Niveau gehoben werden – verbunden mit der Umstellung auf ein modularisiertes Einzelleistungsvergütungssystem, wie es im berüchtigten 2hm-Gutachten skizziert wurde. Doch auch hier gilt: Was differenziert vergütet wird, kann gezielter reduziert oder durch Automaten, Versandstrukturen oder ärztliche Alternativen ersetzt werden. Wer mehr verlangt, riskiert, weniger zu behalten.
Am Ende steht die bittere Erkenntnis, dass es keine rein betriebswirtschaftliche Lösung für den Apothekennotdienst geben wird. Selbst wenn alle Zahlen stimmen, alle Kalkulationen aufgehen und alle Forderungen berechtigt erscheinen – das System muss sie tragen können. Und derzeit deutet nichts darauf hin, dass dies politisch, finanziell oder strukturell möglich ist. Vielmehr wächst mit jeder zusätzlichen Honorarforderung der Druck auf die Politik, „leistungsfreie“ Alternativen zu fördern – ob mit oder ohne Apotheke. Was bleibt, ist die stille Hoffnung, dass aus einer provokanten Zahl zumindest ein konstruktiver Impuls erwächst: für neue Vergütungsmodelle, für eine gerechtere Verteilung der Bereitschaftslasten und für ein realistisches Verständnis davon, was Versorgung im Jahr 2025 wirklich leisten kann – und was nicht.
Koalitionsziele bringen Hoffnung, Mehrerträge versprechen Impulse, Umsetzung bleibt Risiko
Wie das Rx-Fixum, die Skontifrage und politische Klarheit die Zukunft der Apotheken bestimmen
Nachdem der erste Teil des Betriebsvergleichs die nackten Zahlen der Apothekenrealität offenbarte – rückläufige Renditen, strukturelle Schieflagen, finanzielle Anspannung bei gleichzeitiger Leistungsverdichtung – richtet sich der Blick nun auf die Zukunft. Und die könnte, sofern politische Versprechen in praktische Maßnahmen übergehen, eine signifikante Wende bringen. Inmitten der ernüchternden Statusanalyse sorgt vor allem der Koalitionsvertrag für einen Hoffnungsschimmer. Darin sind gleich mehrere Maßnahmen enthalten, die – bei tatsächlicher Umsetzung – die wirtschaftliche Substanz der Apotheken substanziell stärken könnten.
Zentraler Baustein der angekündigten Neuausrichtung ist die längst überfällige Erhöhung des festen Honoraranteils bei der Abgabe verschreibungspflichtiger Arzneimittel. Die bisherige Pauschale von 8,35 Euro pro Rx-Packung hat sich in einer dekadenlangen Erstarrung nicht nur vom realen Aufwand, sondern auch von der inflationsbedingten Kostenentwicklung entkoppelt. Eine Erhöhung des Fixums – derzeit im politischen Raum mit rund einem Euro veranschlagt – könnte allein schon eine unmittelbare Entlastung und Ertragssteigerung von bis zu 40.000 Euro pro Jahr und Betrieb ermöglichen. Doch das ist nur eine Komponente im angekündigten Maßnahmenpaket.
Mindestens ebenso bedeutsam ist die im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellte Wiederzulassung von Skonti. Die bisherige Rabattdeckelung, juristisch zwar nachvollziehbar begründet, hat in der Praxis zu einer massiven Erosion der Großhandelsmargen und damit indirekt auch der Apothekenerträge geführt. Sollte die Skontofreiheit in einer rechtssicheren Variante wieder möglich sein, rechnen Experten mit einem betriebswirtschaftlichen Mehrwert von weiteren 30.000 Euro jährlich – und das in einem wirtschaftlichen Umfeld, in dem selbst geringe Verbesserungen bereits strategisch wirksam sein können.
Addiert man die beiden zentralen Elemente – Fixumerhöhung und Skontiflexibilisierung – ergibt sich ein potenzieller Mehrertrag von rund 70.000 Euro pro Apotheke. Das entspricht nicht nur einer signifikanten Entlastung, sondern könnte in vielen Fällen den Unterschied zwischen betrieblicher Stagnation und zukunftsgerichteter Investitionsfähigkeit bedeuten. Vor dem Hintergrund zunehmender Digitalisierungspflichten, wachsender regulatorischer Anforderungen und demografisch bedingter Versorgungslasten wäre ein solcher wirtschaftlicher Spielraum nicht weniger als ein überfälliger Paradigmenwechsel.
Allerdings bleibt der Optimismus fragil. Denn bislang handelt es sich lediglich um politische Ankündigungen, keine beschlossenen Maßnahmen. Die Unwägbarkeit, ob der politische Wille in administratives Handeln überführt wird, prägt das gegenwärtige Stimmungsbild in der Apothekerschaft maßgeblich. Noch ist keine Gesetzesinitiative zur Rx-Fixum-Anpassung eingebracht worden, noch ist unklar, wie die Bundesregierung die Skontifrage rechtlich lösen will, ohne in alte Konflikte mit dem Bundesgerichtshof oder der EU-Kommission zu geraten. Das politische Vokabular ist vage, konkrete Zeitachsen fehlen.
Hinzu kommt: Selbst wenn die Maßnahmen im Koalitionsvertrag verankert sind, unterliegt ihre Umsetzung einer Vielzahl externer Faktoren. Dazu zählen die fiskalpolitischen Spielräume der Bundesregierung, mögliche Einsprüche von Krankenkassen, die Wettbewerbsordnung im Pharmagroßhandel sowie der anhaltende Druck durch internationale Versandapotheken. Auch der anstehende Haushalt 2026 wird zeigen müssen, ob den Worten tatsächlich finanzielle Substanz folgen kann – oder ob das Bekenntnis zur Apothekenstärkung lediglich als politisches Beruhigungsmittel formuliert wurde.
Ein weiteres strukturelles Risiko besteht in der Abhängigkeit der Reformumsetzung vom politischen Kalender. Mit den Landtagswahlen im Osten und einer sich bereits abzeichnenden Polarisierung des Bundestagswahlkampfs 2025 könnte die gesundheitspolitische Agenda zugunsten populistischer Mobilisierungsthemen an Bedeutung verlieren. Die Sorge, dass die Apothekenthemen zwischen Migration, Sicherheit und Sozialkürzungen zerrieben werden, ist keineswegs unbegründet. Selbst innerhalb der Regierungsparteien bestehen unterschiedliche Akzentsetzungen bei der Frage, ob die Apotheken primär als Daseinsvorsorge oder als marktwirtschaftliche Unternehmen gesehen werden sollen.
Dabei wäre eine zügige Umsetzung nicht nur betriebswirtschaftlich notwendig, sondern auch gesundheitspolitisch klug. Denn mit jeder verschleppten Reformmaßnahme verschärft sich der Anpassungsdruck im System. Schon jetzt geben viele Apothekeninhaberinnen und -inhaber auf, verkaufen, schließen oder reduzieren die Öffnungszeiten. Die Nachwuchssituation bleibt prekär, das Personal am Limit, die Investitionsbereitschaft niedrig. Ohne konkrete Signale, dass sich die Rahmenbedingungen verbessern, wird auch die Standortfrage weiter an Brisanz gewinnen – insbesondere in ländlichen Räumen, wo sich Unterversorgung längst in strukturelle Versorgungslücken verwandelt.
Zusammengefasst: Der Koalitionsvertrag enthält aus Sicht der Apothekenwirtschaft durchaus vielversprechende Elemente – doch sie sind nicht mehr als theoretisches Potenzial, solange die politische Umsetzung ausbleibt. Die Zahl 70.000 Euro mag als Rechenexempel beeindrucken, doch in der Realität entscheidet nicht die Berechnungsgrundlage, sondern die tatsächliche Gesetzgebung. Wenn das politische Versprechen in konkrete, finanzwirksame Reformen übergeht, kann die Apotheke vor Ort wieder jene Rolle erfüllen, die sie im Gesundheitswesen dringend benötigt: Stabil, kompetent und dauerhaft wirtschaftlich überlebensfähig.
Margen sinken, Umsatzgrenzen steigen, Betriebsergebnisse wanken
Warum Apotheken immer höhere Schwellen überschreiten müssen, wie Schließungen paradoxe Chancen eröffnen und welche Skaleneffekte nicht mehr tragen
Die betriebswirtschaftliche Schere in deutschen Apotheken öffnet sich weiter – und das mit zunehmender Dynamik. Trotz deutlich gestiegener Umsätze in den zurückliegenden Jahren geraten immer mehr Betriebe an ihre betriebswirtschaftlichen Belastungsgrenzen. Was zunächst paradox klingt, folgt einer klaren Systemlogik: Der Zuwachs an Umsatzerlösen speist sich in vielen Fällen aus Preissteigerungen und verschärfter Leistungserbringung, nicht aus verbesserten Deckungsbeiträgen. Während die nominalen Zahlen beeindrucken mögen, bröckelt die reale Substanz: Die durchschnittlichen Umsatzrenditen sinken kontinuierlich, die Gewinnmargen verflüchtigen sich unter wachsendem Kosten- und Personaldruck.
Besonders deutlich wird dies an der sich verschiebenden Umsatzschwelle, ab der ein Apothekenbetrieb heute noch als betriebswirtschaftlich tragfähig gelten kann. Diese sogenannte „kritische Ertragsschwelle“ lag vor wenigen Jahren bei rund zwei Millionen Euro Jahresumsatz. Heute rücken Schwellenwerte von 2,3 bis 2,5 Millionen Euro in den Fokus – ein Wert, den nicht mehr jede Apotheke im Wettbewerb zu erreichen vermag. Insbesondere in ländlichen Regionen, wo Kaufkraft, Rezeptvolumen und Kundenfrequenz strukturell rückläufig sind, zeigt sich die wachsende Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
In der Praxis bedeutet dies: Wer nicht massiv skaliert, Prozesse automatisiert oder von konkurrierenden Apothekenschließungen im Umfeld profitiert, riskiert die betriebswirtschaftliche Unterschreitung der Mindestschwelle. Denn mit der steigenden Umsatzschwelle wächst auch der Druck auf Personal, Investitionen und Risikoabsicherung. Das Rechenmodell wird brüchig. Apothekerinnen und Apotheker müssen ein immer größeres Rad drehen – bei abnehmendem Widerstand der Kostenträger und wachsendem Widerstand auf dem Arbeitsmarkt. Die Entkoppelung von Umsatz und Gewinn wird damit zur systemischen Herausforderung.
Verstärkend wirken die bekannten strukturellen Belastungsfaktoren: Inflationäre Betriebskosten, steigende Lohnforderungen, erhöhte Dokumentationspflichten, Digitalisierungspflichten ohne echte Refinanzierung, sowie ein zunehmend anspruchsvolles Kundenverhalten, das Serviceerwartungen auf Klinikniveau mit einem Preisniveau auf Discounterbasis kombiniert. Der wirtschaftliche Aufwand, um allein das Leistungsversprechen der Arzneimittelversorgung aufrechtzuerhalten, ist in vielen Fällen bereits grenzwertig. Und das bei gleichbleibendem Fixhonorar pro verschreibungspflichtigem Medikament – einem Vergütungsmodell, das mit der Realität des Apothekenalltags kaum mehr vereinbar ist.
Hinzu kommt eine psychologische Verschärfung: Je stärker die wirtschaftliche Lage kippt, desto stärker wird der Rückgriff auf betriebliche Kompensation. Das kann etwa bedeuten, dass Apothekenleiter längere Öffnungszeiten aufrechterhalten, selbst in der Nacht noch Retouren abarbeiten oder betriebswirtschaftliche Entscheidungen zugunsten kurzfristiger Liquidität treffen – etwa bei Warendispositionen oder Personalbesetzungen. Diese Art der „betrieblichen Überdrehung“ bleibt nicht folgenlos: Burnout, Übermüdung, Qualitätsverluste und Fachkräftefluktuation sind keine hypothetischen Phänomene, sondern in vielen Apotheken gelebte Realität.
Ein paradoxer Lichtblick ergibt sich allerdings aus der wachsenden Zahl der Apothekenschließungen im Umfeld. Denn wo Wettbewerber wegbrechen, ergibt sich für verbleibende Apotheken oft eine temporäre Nachfrageverschiebung – etwa durch erhöhte Kundenfrequenz, mehr Rezeptvolumen oder neuen Beratungsbedarf. Diese Verlagerung stabilisiert in Einzelfällen das betriebswirtschaftliche Gefüge, ersetzt aber keine nachhaltige Strukturpolitik. Wer heute nur überlebt, weil andere aufgeben, operiert auf einem Fundament, das morgen wegbrechen kann.
Fazit: Die betriebswirtschaftliche Belastungsgrenze in der Apotheke verläuft heute nicht mehr entlang fixer Umsatzmarken, sondern entlang dynamischer Systeme aus Standort, Struktur, Personal, Effizienz und Resilienz. Eine pauschale Festlegung auf 2,5 Millionen Euro als Überlebensschwelle greift daher zu kurz – sie markiert jedoch eine wichtige Orientierung für die Politik, für Versicherer, für Betriebsberater und für Inhaber selbst. Denn je früher erkannt wird, wann sich das Rad nicht mehr von selbst dreht, desto früher lassen sich gezielte Gegenmaßnahmen ergreifen – bevor die Spirale nicht mehr aufzuhalten ist.
Gezielte Fragen führen weiter, strukturierte Interviews vermeiden Fehler, Apothekeninhaber gewinnen Sicherheit
Warum professionelle Gesprächsführung mehr ist als Bauchgefühl, wie strukturierte Verfahren Bewerber vergleichbar machen und welche Rolle Leitfäden dabei spielen
Wer in einer Apotheke Personalverantwortung trägt, ohne ausgebildeter Personaler zu sein, steht beim Einstellungsgespräch häufig vor der Frage: „Wie mache ich das eigentlich richtig?“ Die Versuchung ist groß, sich online rasch ein Set an Fragen oder sogar eine komplette Interviewstruktur zu beschaffen – oft KI-generiert, aus Foren übernommen oder aus Artikeln zusammengesucht. Doch der praktische Nutzen dieser Werkzeuge bleibt meist überschaubar. Denn wer glaubt, mit beliebig kombinierbaren Fragesammlungen eine fundierte Auswahlentscheidung treffen zu können, irrt. Gerade in inhabergeführten Apotheken, in denen jedes neue Teammitglied eine spürbare Wirkung auf das Betriebsklima und die Leistungsfähigkeit entfaltet, ist ein systematischer, strukturierter Interviewansatz nicht Kür, sondern Pflicht.
Was vielen Ratgebern im Netz fehlt, ist ein klares Zielverständnis: Die Qualität eines Bewerbungsgesprächs bemisst sich nicht an der Originalität der Fragen oder daran, ob sie besonders „trickreich“ erscheinen, sondern daran, ob sie valide, reliabel und vergleichbar sind. Eine Frage wie „Was sind Ihre Schwächen?“ ist in ihrer Standardform nicht nur abgedroschen, sondern auch methodisch fragwürdig. Bewerber sind darauf längst rhetorisch geschult, und die Antwort sagt mehr über ihr Kommunikationsverhalten als über tatsächliche Schwächen im Arbeitsalltag. Entscheidend ist vielmehr, arbeitsplatznahe Situationen zu thematisieren, konkrete Verhaltensweisen zu erfragen und nachvollziehbar zu bewerten, wie der Bewerber in vergleichbaren Situationen gehandelt hat oder handeln würde.
Ein strukturierter Interviewleitfaden – wie ihn viele große Unternehmen oder auch Personalberater einsetzen – folgt diesem Prinzip. Er definiert Fragen nicht nach Willkür oder Intuition, sondern entlang vorab festgelegter Anforderungsdimensionen. Für eine Apotheke könnte dies etwa bedeuten, fünf Kernkompetenzen zu identifizieren: Fachkenntnis, Kundenorientierung, Teamfähigkeit, Belastbarkeit und Verantwortungsbewusstsein. Zu jeder Dimension werden zwei bis drei verhaltensorientierte Fragen formuliert, die idealerweise im STAR-Format gestellt werden: Situation, Task, Action, Result. Ein Beispiel: „Beschreiben Sie eine Situation, in der ein Kunde Ihre pharmazeutische Einschätzung nicht akzeptieren wollte. Wie sind Sie vorgegangen?“ Der Vorteil solcher Fragen: Sie zwingen den Bewerber, konkret zu werden – und geben dem Gesprächsführenden gleichzeitig ein Raster zur Beurteilung der Antwort.
Gerade Apothekeninhaber profitieren davon in mehrfacher Hinsicht. Erstens gewinnen sie Sicherheit, weil sie nicht improvisieren müssen, sondern sich an einem roten Faden orientieren können. Zweitens erhalten sie vergleichbare Aussagen, weil alle Bewerber dieselben Fragen in gleicher Reihenfolge erhalten. Und drittens reduziert sich das Risiko subjektiver Fehleinschätzungen, die häufig aus Sympathie, Nervosität oder vorgefassten Meinungen resultieren. Stattdessen treten fachliche und soziale Eignung stärker in den Vordergrund – und damit auch die Chance, die richtige Entscheidung zu treffen. Besonders in kleinen Betrieben mit engen Teams kann das den Unterschied zwischen einer langfristig erfolgreichen Integration und einem kostspieligen Fehlgriff bedeuten.
Zudem sollte man sich bei der Gesprächsführung nicht auf das Interview alleine verlassen. Auch der Rahmen zählt: Eine freundliche Begrüßung, ein transparenter Gesprächsverlauf, die Möglichkeit zur Rückfrage – all das trägt dazu bei, dass der Bewerber sich ernst genommen fühlt und die Apotheke als attraktiven Arbeitgeber erlebt. Im besten Fall wird ein Bewerbungsgespräch so zu einem zweiseitigen Auswahlprozess: Der Inhaber prüft, ob der Bewerber ins Team passt – und der Bewerber gewinnt einen realistischen Eindruck davon, ob die Apotheke seinen Vorstellungen entspricht.
Für viele Apothekeninhaber stellt sich auch die Frage, ob sie nicht doch lieber auf ihr Bauchgefühl hören sollten – schließlich habe das in der Vergangenheit „auch funktioniert“. Tatsächlich zeigt die Forschung: Intuition kann im Gesprächsverlauf wertvolle Impulse liefern – etwa beim Erkennen von Widersprüchen oder nonverbalen Signalen. Doch als alleiniges Entscheidungskriterium ist sie problematisch. Studien belegen, dass strukturierte Interviews eine signifikant höhere Prognosekraft für den späteren Berufserfolg haben als unstrukturierte Gespräche – sie sind objektiver, fairer und besser dokumentierbar.
Ein weiterer Vorteil: Wer strukturiert vorgeht, kann seine Entscheidung im Zweifelsfall auch besser rechtfertigen – etwa bei internen Rückfragen oder im Falle arbeitsrechtlicher Auseinandersetzungen. Das kann auch aus Versicherungssicht relevant werden: Wenn etwa eine Entscheidung später angefochten oder mit Diskriminierungsvorwürfen konfrontiert wird, bietet ein dokumentierter Interviewleitfaden eine belastbare Argumentationsbasis.
Für Apotheken, die regelmäßig selbst einstellen, lohnt es sich deshalb, einen individuellen Leitfaden zu entwickeln – abgestimmt auf den eigenen Betrieb, die jeweiligen Positionen und die Erwartungen an neue Teammitglieder. Dieser kann regelmäßig überarbeitet und geschärft werden, etwa durch Rückmeldung aus Probezeitgesprächen oder Erfahrungen mit Neuzugängen. Auch die Schulung von Filialleitern oder Vertretungskräften im Umgang mit dem Leitfaden ist sinnvoll – denn nur wer sicher in der Anwendung ist, kann das volle Potenzial strukturierter Interviews ausschöpfen.
Fazit: Wer heute Personalentscheidungen in der Apotheke verantwortet, sollte sich nicht auf Bauchgefühl oder Online-Fragensammlungen verlassen, sondern mit System arbeiten. Ein strukturierter Interviewleitfaden ist kein bürokratisches Korsett, sondern ein strategisches Werkzeug – für bessere Entscheidungen, zufriedenere Teams und eine professionell geführte Apotheke.
Förderung, Formalismus, Fristenkontrolle
Wie die neue Sonderabschreibung für Mietwohnungsbau funktioniert, warum sie strengen Auflagen unterliegt und was das BMF-Schreiben jetzt konkretisiert
Der staatlich geförderte Mietwohnungsneubau soll angesichts wachsender Wohnungsknappheit durch steuerliche Anreize angekurbelt werden. Eines der zentralen Instrumente ist dabei die Sonderabschreibung nach § 7b EStG, die Investoren eine zeitlich gestaffelte Zusatzabschreibung neben der regulären linearen AfA ermöglicht. Ziel ist es, Kapital für den bezahlbaren Wohnungsbau attraktiver zu machen – insbesondere für private Bauherren, gewerbliche Projektentwickler und Wohnungsbaugesellschaften, die sich im Bereich des geförderten Mietwohnungsmarkts engagieren. Doch die steuerliche Sonderbehandlung hat ihren Preis: Sie ist strikt an Voraussetzungen gebunden, deren Einhaltung lückenlos zu dokumentieren ist. Mit einem neuen, 35 Seiten umfassenden Anwendungsschreiben hat das Bundesfinanzministerium nun Klarheit zu zahlreichen Detailfragen geschaffen – und zugleich betont, dass eine fehlerhafte Antragstellung oder nicht fristgemäße Fertigstellung zum vollständigen Verlust der Sonderabschreibung führen kann. Für Akteure im Wohnungsbau ist das Schreiben daher nicht nur ein Wegweiser, sondern auch eine Mahnung zur Genauigkeit.
Konkret regelt das BMF-Schreiben vom Juni 2025 die einheitliche steuerliche Behandlung der neuen Sonderabschreibung nach § 7b EStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2023. Demnach können für neu errichtete Mietwohnungen, die in einem förderfähigen Zeitraum begonnen und abgeschlossen werden, über einen Zeitraum von vier Jahren zusätzlich zur linearen Abschreibung jeweils fünf Prozent der Herstellungskosten steuermindernd geltend gemacht werden – bis zu einem Gesamtvolumen von 20 Prozent. Voraussetzung ist, dass die Wohnung nach dem 31. Dezember 2022 und vor dem 1. Januar 2027 angeschafft oder hergestellt wurde und einer dauerhaften Vermietung dient. Der Geltungsbereich umfasst dabei sowohl Einzelwohnungen im Neubau als auch abgeschlossene Bauprojekte im Geschosswohnungsbau, sofern sie nachweislich dem Wohnzweck zugeführt werden. Die Abschreibung ist personenbezogen – was bedeutet, dass bei Erwerb vom Bauträger nicht der Erwerber, sondern der Errichtende die Abschreibung geltend machen kann.
Zentrale Anforderung bleibt die strikte Einhaltung der Förderbedingungen. Die neue Sonderabschreibung ist an die Einhaltung eines gesetzlich festgelegten Baukostenobergrenze von 5.200 Euro je Quadratmeter Wohnfläche gekoppelt. Dabei ist die Grenze auf Grundlage der Nettoherstellungskosten zu berechnen. Übersteigen die tatsächlichen Baukosten diese Grenze auch nur geringfügig, entfällt die Sonderabschreibung vollständig – eine teilweise Begünstigung oder ein Herabsetzen der förderfähigen Quadratmeter ist gesetzlich nicht vorgesehen. Das BMF betont, dass im Zweifel eine frühzeitige steuerliche Einzelfallprüfung durch das zuständige Finanzamt empfohlen wird. Das Schreiben erläutert hierzu konkrete Berechnungsbeispiele, u. a. für Kostenpositionen wie Außenanlagen, Tiefgaragen, technische Ausstattung sowie planungsbedingte Sonderaufwendungen.
Ein weiterer formaler Stolperstein betrifft die fristgerechte Fertigstellung. Wird ein Bauvorhaben innerhalb des Förderzeitraums begonnen, aber nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von vier Jahren abgeschlossen, entfällt ebenfalls rückwirkend die Möglichkeit zur Inanspruchnahme der Sonderabschreibung. Das BMF verweist dabei auf das strenge Wortlautprinzip des § 7b EStG und führt aus, dass auch Verzögerungen aufgrund von Lieferengpässen, Witterung oder Genehmigungsproblemen keine Ausnahme begründen. Entscheidend sei der tatsächliche Abschluss der Bauarbeiten und die Nutzungsaufnahme als Mietwohnung.
Besonders relevant für die steuerliche Praxis ist der differenzierte Umgang mit gemischt genutzten Immobilien. Die Sonderabschreibung kann ausschließlich für solche Flächen angesetzt werden, die dauerhaft zur entgeltlichen Wohnungsvermietung vorgesehen sind. Nutzungen zu gewerblichen oder kurzfristigen Zwecken – etwa als Ferienwohnung, Büroeinheit oder temporär möblierte Apartmentvermietung – führen zum vollständigen Ausschluss dieser Flächen aus der Förderung. In Mehrparteienhäusern müssen daher eindeutige Grundriss- und Nutzungszuweisungen dokumentiert werden. Auch die Umnutzung von Bestandsgebäuden bleibt ausgeschlossen: Die Förderung gilt nur für tatsächlich neu errichtete Wohnungen. Eine Sanierung, Modernisierung oder Aufstockung auf Bestandsgebäuden genügt nicht.
Ein zentrales Kapitel des BMF-Schreibens widmet sich der Abgrenzung der begünstigten Baukostenpositionen. Förderfähig sind nur solche Aufwendungen, die den Herstellungskosten im Sinne des § 255 HGB entsprechen. Dazu zählen etwa die Rohbaukosten, Ausbaukosten, Architektenleistungen, Baunebenkosten sowie die Anschaffung von fest eingebauten Küchen oder Bädern, sofern diese fest mit dem Gebäude verbunden sind. Nicht förderfähig sind Grundstückskosten, Erschließungskosten, Außenanlagen, Stellplätze oder Mobilitätsangebote. Die Erläuterungen gehen zudem auf Einzelfragen zur Gebäudeautomation, zur Integration von Smart-Home-Technik sowie zu Kosten für energetische Maßnahmen im Kontext der BEG-Förderung ein. Die klare Abgrenzung zur Sonder-AfA nach § 7h (Sanierung) und § 7i (Baudenkmäler) wird ebenfalls ausführlich vorgenommen.
Besondere Aufmerksamkeit gilt auch der Nachweispflicht: Die Inanspruchnahme der Sonderabschreibung setzt zwingend voraus, dass dem Finanzamt eine förmliche Erklärung des Steuerpflichtigen über die Einhaltung aller Voraussetzungen vorgelegt wird. Diese Erklärung muss spätestens mit der Abgabe der Steuererklärung für das Jahr der Fertigstellung eingereicht werden. Versäumt der Steuerpflichtige diese Erklärung oder legt er unvollständige Angaben vor, geht die Abschreibungsmöglichkeit verloren – unabhängig von der tatsächlichen Förderwürdigkeit des Projekts. Das BMF empfiehlt daher eine frühzeitige steuerliche Begleitung, etwa durch Architekten, Bauleiter und Steuerberater, um bereits in der Planungsphase die steuerliche Förderfähigkeit abzusichern.
Das Anwendungsschreiben hat über den unmittelbaren steuerlichen Vollzug hinaus eine politisch-strategische Komponente: Mit der Klarstellung der Bedingungen will die Bundesregierung steuerliche Fehlanreize vermeiden, Rechtsklarheit schaffen und die Kontrolle über die tatsächliche Wirksamkeit der Fördermaßnahme sicherstellen. Kritiker bemängeln indes, dass der bürokratische Aufwand insbesondere für kleinere Bauträger, Genossenschaften oder Einzelinvestoren abschreckend hoch sei – und die Baukostenobergrenze faktisch als Ausschlusskriterium fungiere, da sie mit den realen Marktpreisen in Ballungsräumen kaum vereinbar sei.
In der Sache zeigt das BMF-Schreiben jedoch deutlich, dass steuerliche Förderung in Deutschland nicht nur ein Anreizsystem darstellt, sondern zugleich ein Mechanismus der Marktsteuerung ist. Wer die Sonderabschreibung nutzen will, muss nicht nur investieren, sondern planen, dokumentieren, begrenzen – und haften. Damit wird das Instrument zur Gratwanderung zwischen steuerlicher Entlastung und fiskalischer Disziplin. Wohnungsbau bleibt förderfähig – aber nur für jene, die Präzision als Teil ihres Geschäftsmodells verstehen.
Steuerpflicht im Alter, Vertrauen in den Staat, Folgen für Rentner
Warum die Finanzverwaltung auf Vorläufigkeit verzichtet, welche Rechtsfragen ungeklärt bleiben und wie Betroffene sich gegen Doppelbesteuerung schützen können
Die Diskussion um die Rentenbesteuerung in Deutschland hat einen neuen Wendepunkt erreicht: Die Finanzverwaltung hat entschieden, die bisherigen Vorläufigkeitsvermerke bei der Besteuerung der gesetzlichen Altersrenten nicht mehr fortzuführen. Für hunderttausende Rentnerinnen und Rentner bedeutet das: Die Steuerbescheide enthalten keinen automatischen Einspruchsschutz mehr hinsichtlich einer möglichen Doppelbesteuerung. Diese Entscheidung beruht auf einem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH), wonach für die Jahre bis einschließlich 2021 in der Regel keine verfassungswidrige Doppelbesteuerung vorliege – eine pauschale Aussage, die jedoch im Detail juristisch umstritten bleibt.
Denn ob eine Doppelbesteuerung tatsächlich gegeben ist, hängt wesentlich vom individuellen Lebensverlauf ab – von der Höhe der eingezahlten Beiträge zur Rentenversicherung über die Besteuerung der Altersbezüge bis hin zur angenommenen statistischen Lebenserwartung. Der BFH hatte in mehreren Entscheidungen klar gemacht, dass die verfassungsrechtliche Grenze dort überschritten ist, wo ein Steuerpflichtiger mit bereits versteuertem Einkommen Beiträge zur Rentenversicherung geleistet hat, die später in der Auszahlungsphase erneut steuerlich erfasst werden. Allerdings wurde diese Grenze sehr restriktiv interpretiert. Für die Finanzverwaltung ist die Rechtslage damit klar genug, um den Verwaltungsaufwand zu senken – für viele Betroffene jedoch ist der Steuerzugriff im Alter weiterhin eine Grauzone mit erheblichen finanziellen Risiken.
Betroffen sind insbesondere Rentner, deren Renteneintritt zwischen 2005 und 2040 liegt – der Zeitraum, in dem nach dem Alterseinkünftegesetz die nachgelagerte Besteuerung sukzessive eingeführt wurde. Das bedeutet: Renten werden schrittweise in vollem Umfang steuerpflichtig, während die Beiträge zur Rentenversicherung über die Erwerbsjahre hinweg sukzessive steuerfrei gestellt wurden. Die Krux dabei: In der Übergangsphase kann es durchaus passieren, dass Rentner in der Summe mehr versteuertes Geld in die Rentenkasse eingezahlt haben, als sie am Ende steuerfrei zurückerhalten – genau dies wäre eine verfassungswidrige Doppelbesteuerung im Sinne des Bundesverfassungsgerichts.
Trotz dieser offenkundigen Systemspannung lehnt es die Finanzverwaltung ab, pauschale Vorläufigkeitsvermerke weiterhin zu gewähren. Steuerpflichtige, die dennoch Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Besteuerung haben, sind somit gezwungen, individuell und explizit Einspruch einzulegen. Das bedeutet nicht nur zusätzliche Bürokratie, sondern auch, dass viele Betroffene ohne steuerlichen Beistand keine Chance haben, ihre individuelle Doppelbesteuerung stichhaltig zu belegen. Denn die Beweisführung ist komplex: Es müssen Einzahlungen über Jahrzehnte hinweg dokumentiert, Lebenserwartungen statistisch bewertet und Rentenverläufe steuerlich analysiert werden – eine Aufgabe, die ohne fachliche Unterstützung kaum zu bewältigen ist.
Dazu kommt, dass die gesetzliche Rentenversicherung selbst keine detaillierten steuerlichen Nachweise über die individuellen Beitragsverläufe bereitstellt. Wer nicht frühzeitig seine eigene Beitragsentwicklung mitgeschrieben hat, steht bei einer möglichen Verteidigung gegen eine verfassungswidrige Besteuerung ohne faktische Grundlage da. Der Staat stellt somit die Pflicht zur Besteuerung in den Vordergrund, ohne zugleich die notwendigen Instrumente zur Wahrung der Steuerrechte der Bürger bereitzustellen.
Gerade in Zeiten, in denen das Vertrauen in staatliche Institutionen vielfach unter Druck steht, wirft dieser Umgang mit der Rentenbesteuerung grundsätzliche Fragen auf: Kann ein Staat die steuerliche Belastung eines Ruheständlers rückwirkend umgestalten, ohne die individuelle Gleichheit der Steuerpflicht zu verletzen? Welche Konsequenzen hat es, wenn das Bundesverfassungsgericht auf Einzelfallprüfungen verweist, die realistisch kaum jemand juristisch stemmen kann? Und was bedeutet es für die demokratische Steuerkultur, wenn Millionen Rentner faktisch keine Möglichkeit mehr haben, ihre Rechte ohne Klageweg durchzusetzen?
Die FDP sowie Teile der Union fordern längst eine grundlegende Reform der Rentenbesteuerung, die Rechtssicherheit und Gerechtigkeit miteinander vereint. Bisher fehlt jedoch der politische Wille, eine einfache und transparente Lösung zu finden. Selbst aus dem Bundesfinanzministerium kommen widersprüchliche Signale: Während in öffentlichen Äußerungen betont wird, dass eine Doppelbesteuerung vermieden werden müsse, wird im verwaltungspraktischen Vollzug das Gegenteil betrieben.
Für Betroffene bedeutet das aktuell vor allem eines: aktiv werden. Wer Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Rentenbesteuerung hat, sollte fristgerecht Einspruch einlegen und dabei zumindest um Ruhen des Verfahrens bitten. Zwar ist der Erfolg eines solchen Einspruchs ohne individuelle Nachweise gering, doch schafft er zumindest eine rechtliche Eintrittskarte für spätere Klageverfahren – falls sich die Rechtslage noch einmal ändert oder das Bundesverfassungsgericht grundlegend eingreift.
Auch steuerberatende Berufe stehen nun in der Pflicht, Aufklärungsarbeit zu leisten. Gerade Menschen im Übergang zur Rente – etwa zwischen 60 und 70 Jahren – sollten rechtzeitig prüfen, ob ihre persönlichen Rentenverläufe eine relevante steuerliche Belastung aufweisen, die nicht mehr durch die bisherigen Freibeträge gedeckt ist. Denn eins ist sicher: Wer wartet, verliert den Anspruch auf Korrektur.
So bleibt das Thema Rentenbesteuerung nicht nur eine Frage des Steuerrechts, sondern auch eine Frage der gesellschaftlichen Fairness. Es ist ein stiller Streit zwischen Systemgerechtigkeit und Verwaltungspraxis, zwischen juristischer Theorie und gelebter Realität – und er betrifft Millionen von Bürgern in einer Lebensphase, in der Vertrauen in die Regeln des Staates besonders wichtig wäre.
Überschuss trügt Systemlage, Reformdruck wächst, vfa fordert Steuerlösung
Warum das GKV-Plus nicht stabilisiert, neue Strukturpläne nötig sind und versicherungsfremde Kosten zur Debatte stehen
Trotz eines rechnerischen Überschusses von 1,8 Milliarden Euro im ersten Quartal 2025 bleibt die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) angespannt. Darauf weist nicht nur das Bundesgesundheitsministerium (BMG) in seiner aktuellen Quartalsauswertung hin, sondern auch der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa), der erneut auf strukturelle Defizite und externe Belastungen im GKV-System verweist. Hintergrund sind unter anderem ein systematischer Einnahmerückstand, eine wachsende Diskrepanz zwischen Ausgaben- und Einnahmendynamik sowie die ungelöste Frage der Finanzierung versicherungsfremder Leistungen. Die Ausgaben für Arzneimittel stiegen im Vergleich zum Vorjahr zwar nur um sechs Prozent und damit langsamer als die übrigen Leistungsbereiche, doch die Gesamtausgaben wuchsen erneut stärker als die Einnahmen – eine Entwicklung, die absehbar neue Belastungen für Beitragszahler nach sich ziehen könnte.
Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) dämpfte die Interpretation der positiven Bilanzzahlen. Diese seien kein Indikator für eine entspannte Finanzlage, sondern lediglich Ausdruck einer notwendigen Konsolidierung nach drastischen Reservenverlusten im Vorjahr. Der erreichte Überschuss sei vollständig in den Wiederaufbau der Rücklagen geflossen. Diese belaufen sich nun auf 3,6 Milliarden Euro – das entspricht lediglich 0,1 Monatsausgaben und liegt damit weiterhin unter der gesetzlich vorgesehenen Mindestreserve. Warken betonte die Notwendigkeit eines zweistufigen Vorgehens: kurzfristige Konsolidierung durch Anpassung der Beitragssätze auf Kassenebene sowie mittelfristig eine übergreifende Strukturreform, um die GKV dauerhaft zu stabilisieren. Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz lag Ende März bei 2,92 Prozent und damit deutlich über dem zum Jahreswechsel kalkulierten Wert von 2,5 Prozent. Die Krankenkassen seien gezwungen, höhere Beitragssätze zu verlangen, als sie für die unmittelbare Ausgabenbewältigung benötigen, um ihre Rücklagen wieder aufzufüllen.
Die Ausgabenstruktur der GKV zeigt weiterhin ein ungebrochenes Wachstumsmuster. Während die Einnahmen aus Beiträgen und Bundeszuschüssen sich im ersten Quartal auf 88,3 Milliarden Euro beliefen, lagen die Ausgaben bei 86,5 Milliarden Euro – ein scheinbar positives Saldo, das jedoch durch das verzögerte Nachwirken gesetzlicher Maßnahmen und Sondereffekte relativiert wird. So hatte die vorübergehende Anhebung des Herstellerabschlags durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG) im Vorjahr einen dämpfenden Effekt auf die Arzneimittelausgaben erzeugt. Die Rückkehr zum regulären Abschlagsniveau von sieben Prozent führt nun zu einem scheinbar abrupten Anstieg in den aktuellen Finanzdaten. Fachleute betrachten dies jedoch als statistischen Basiseffekt und warnen vor Fehlinterpretationen.
vfa-Präsident Han Steutel unterstrich die Bedeutung langfristiger struktureller Lösungen. Aus Sicht der forschenden Pharmaindustrie sei die Belastung durch versicherungsfremde Leistungen ein zentraler Störfaktor in der GKV-Finanzarchitektur. Dazu zählen insbesondere Beitragszahlungen für Bürgergeldempfänger, die aktuell aus dem Gesundheitsfonds getragen werden, ohne dass dem ein beitragspflichtiges Erwerbseinkommen gegenübersteht. Diese Ausgaben müssten vollständig steuerfinanziert werden, um das System wieder auf eine belastbare Einnahmenbasis zu stellen. Steutel sieht die neue Bundesregierung in der Pflicht, die GKV-Finanzierung auf ein stabiles Fundament zu stellen, anstatt kurzfristig steigende Beitragssätze als einziges Ventil zu nutzen. Nur durch eine Entflechtung versicherungsfremder Leistungen lasse sich die Versorgungssicherheit langfristig gewährleisten und der Reformdruck reduzieren.
Die politische Dringlichkeit ist erkannt. Nach Angaben von Gesundheitsministerin Warken wurde eine Expertenkommission eingesetzt, die noch im laufenden Jahr erste Vorschläge zur strukturellen Stabilisierung vorlegen soll – und damit schneller als im Koalitionsvertrag ursprünglich vorgesehen. Parallel werde das Ministerium an einem Maßnahmenpaket arbeiten, das kurzfristige Entlastungen ermöglichen soll, ohne die Beitragsstabilität zu gefährden. Erwartet wird eine Neujustierung der Bundeszuschüsse ebenso wie eine Revision ineffizienter Strukturen im Leistungskatalog. Auch das Thema Digitalisierung dürfte im Rahmen der Strukturreformen erneut aufgerufen werden, etwa bei der Effizienzsteigerung administrativer Prozesse oder der Vermeidung von Leistungsausweitungen ohne Evidenzprüfung.
Gleichzeitig ist der Handlungsspielraum des Ministeriums begrenzt. Die Steuerzuschüsse zur GKV stagnieren seit Jahren, und der Bundeshaushalt 2026 verspricht angesichts der Haushaltskonsolidierung keine zusätzlichen Mittel. Damit wächst der Druck auf die Selbstverwaltungspartner im Gesundheitswesen, insbesondere auf die Krankenkassen, ihre Kostenstrukturen zu überprüfen und neue Formen der Steuerung und Vergütung in den Fokus zu rücken. Reformansätze wie regionale Budgetierung, indikationsbezogene Vergütung und Pay-for-Performance-Modelle könnten neue Dynamik erzeugen, bedürfen jedoch klarer politischer Rückendeckung.
Der vfa sieht sich in einer vermittelnden Rolle zwischen Innovation, Versorgung und Finanzrealität. Die forschenden Unternehmen betonen, dass eine nachhaltige Versorgung nicht durch Einsparungen bei innovativen Therapien erreicht werden kann, sondern durch ein intelligentes Zusammenspiel aus Investitionen, Risikosteuerung und gezielter Finanzierungslogik. Arzneimittelausgaben seien kein Treiber der Kostenexplosion, sondern ein strategischer Hebel für systemische Entlastung, wenn durch effektive Therapien Folgekosten in anderen Sektoren reduziert werden. Entscheidend sei daher nicht die Höhe der Ausgaben, sondern ihre Wirkung – medizinisch wie ökonomisch.
Im Ergebnis zeigt sich: Der Überschuss im ersten Quartal 2025 ist kein Signal der Entwarnung, sondern der Beweis für die angespannte Dauerlage der GKV. Die Ausgaben wachsen systemisch stärker als die Einnahmen, die Rücklagen sind nur scheinbar aufgefüllt, die strukturellen Probleme ungelöst. Ein echter Befreiungsschlag bedarf mehr als kurzfristiger Beitragsmanöver – er braucht politischen Willen, fiskalische Klarheit und die Bereitschaft, das Verhältnis von solidarischer Absicherung und gesamtstaatlicher Verantwortung neu auszutarieren.
Finanzkreativität ersetzt Filialkredit, Kundentreue wird Investitionsfaktor, Apothekenumbau wird Gemeinschaftsprojekt
Wie eine junge Apothekerin mit Crowdfunding ihre Vision verwirklicht, das Vertrauen der Stammkundschaft in Kapital umwandelt und neue Wege der Gesundheitsversorgung erschließt
Als die österreichische Apothekerin Franziska König die Familienapotheke im niederösterreichischen Lilienfeld übernahm, wusste sie: Stillstand ist keine Option. Doch sie wusste auch, dass sich neue Wege nicht immer mit altem Geld beschreiten lassen. Der barocke Verkaufsraum war charmant, aber veraltet. Die Beratungsplätze entsprachen nicht mehr den Anforderungen moderner pharmazeutischer Versorgung, der Botendienst wirkte wie ein angehefteter Fremdkörper, die Klimatisierung bestand aus einem antiken Lüftungsgerät. Als König eine konkrete Planung zur Neugestaltung vorlegte – barrierefreier Zugang, Sichtwahlzonen, Kommissionierautomat, Beratungskabinen, Solarpaneele und ein digitales Warenwirtschaftssystem – kam von der Bank ein klares Nein. Zu riskant, zu wenig Eigenkapital, zu jung. König war 27.
Doch wer glaubt, ein Bankabsage sei das Ende einer Vision, kennt Franziska König nicht. Die junge Pharmazeutin entschloss sich zur Flucht nach vorn – mit einem Mittel, das in der Apothekenwelt bislang eher als PR-Spielerei denn als ernsthafte Finanzierung galt: Crowdfunding. In Kooperation mit einer auf Gesundheitsprojekte spezialisierten Plattform startete König eine Kampagne, die nicht um Spenden bat, sondern um Investitionen. Der Unterschied war strategisch: Wer der Apotheke Kapital zur Verfügung stellte, sollte Zinsen erhalten – bis zu 6 Prozent jährlich, rückzahlbar in fünf Jahren. Die Botschaft lautete: Diese Apotheke ist ein Zukunftsort. Und wer an sie glaubt, wird beteiligt.
Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Innerhalb von nur sieben Wochen flossen über 80.000 Euro auf das Crowdfunding-Konto. 136 Menschen machten mit. Die meisten aus dem Ort. Darunter Pensionisten, Ärzte, Eltern schulpflichtiger Kinder – aber auch ehemalige Mitarbeiterinnen, die längst in Wien oder Graz leben. Für sie war die Aktion weniger ein Geschäft als ein Bekenntnis: zu Franziska König, zur Apotheke ihrer Kindheit, zur Zukunft der medizinischen Versorgung in einer Region, die allmählich altert. König gewann Vertrauen – nicht trotz, sondern wegen der Transparenz. Jeder Unterstützer konnte sehen, wie viel bereits gesammelt war, welche Schritte geplant waren, welche Verantwortung die Inhaberin übernahm. Und König hielt Wort: Schon im dritten Monat nach Kampagnenbeginn begann der Umbau. Erst die Infrastruktur, dann die IT, dann die Sichtwahl.
Was dieses Projekt besonders macht, ist nicht nur die gelungene Finanzierung – es ist die strategische Verschiebung im Verhältnis zwischen Kundschaft und Apotheke. Die Rolle des Patienten als passiver Leistungsempfänger gerät ins Wanken, wenn dieser plötzlich Kapitalgeber wird. Die Apotheke wird zur Plattform, die Versorgung nicht nur verkauft, sondern gemeinsam verantwortet. Im Fall von Franziska König ging die Rechnung doppelt auf: Einerseits als Investitionsimpuls, der einen Umbau ermöglichte, den traditionelle Banken verweigerten. Andererseits als Markenbindung der intensivsten Art. „Meine Kunden wissen jetzt nicht nur, was ich tue, sondern warum ich es tue“, sagt König. Die Rücklaufquote bei Rezepten sei gestiegen, auch der OTC-Umsatz habe angezogen. Manche Kunden würden mittlerweile gezielt Produkte in „ihrer“ Apotheke kaufen, selbst wenn es online günstiger sei. Loyalität durch Beteiligung – ein Konzept, das in der Handelswelt boomt, aber im Apothekenwesen Neuland ist.
Hinzu kommt: Der Umbau verlief nicht nur funktional, sondern identitätsbildend. König ließ zwei Räume umgestalten, in denen künftig Gesundheitstage, PTA-Workshops und Medikationsgespräche stattfinden sollen. Die Wände sind in warmem Ocker gehalten, es gibt frisches Wasser, gedämpftes Licht und Sitzplätze mit diskreter Raumakustik. Das Konzept nennt sich „Beratungsinsel“, doch König spricht lieber von „Verständnisräumen“. Denn sie will mehr sein als eine Arzneimittelabgabestelle – sie will eine Bühne für Gesundheitskompetenz. Und das schließt die Kunden ein. Wer investiert, darf auch reden. So wurden mehrere Angebote – etwa zur Hautanalyse oder zur Begleitung bei Antidepressiva-Einnahme – in enger Abstimmung mit Unterstützern entwickelt. „Manche wollten lieber nichts Kompliziertes, sondern einfache Orientierung bei Kopfschmerzen, Wechselwirkungen oder Naturheilmitteln“, berichtet König. Also kam der Thementisch „Pflanzenkraft & Interaktion“ – mit großem Erfolg.
Für die Branche ist das ein Signal. Immer mehr Apotheken in strukturschwachen Regionen stehen vor ähnlichen Herausforderungen: geringe Investitionsfähigkeit, sinkende Margen, fehlende Nachfolger. In dieser Gemengelage könnten innovative Finanzierungsmodelle einen Unterschied machen – vorausgesetzt, sie sind professionell konzipiert. Denn König betont: „Ein Crowdfunding macht nur Sinn, wenn man es wirklich durchzieht – mit Businessplan, Kommunikation, Risiken, Verantwortung.“ Sie hatte juristische Beratung, einen Steuerberater, und sogar eine Agentur, die ihr beim Pitch-Video half. Der Aufwand lohnte sich. Denn inzwischen hat sie nicht nur die bauliche Zukunft ihrer Apotheke gesichert, sondern auch eine neue Rolle im Ort gefunden – als Unternehmerin, als Gesundheitsbotschafterin, als Netzwerkerin. Beim Wirtschaftsempfang der Gemeinde sprach sie über nachhaltige Finanzierung im ländlichen Raum. Und sie wird eingeladen, auf Kammerveranstaltungen über Apothekenumbau zu sprechen – ohne einen einzigen Euro staatlicher Förderung.
Ob das Modell Schule machen wird? Schwer zu sagen. Nicht jede Apotheke hat so loyale Kunden, nicht jeder Ort hat diese Bindung. Doch der Fall Franziska König zeigt, was möglich ist, wenn betriebswirtschaftlicher Druck auf kreative Eigenverantwortung trifft. Er zeigt auch, dass die vielbeschworene Nähe zur Bevölkerung nicht nur eine kommunikative Formel ist, sondern ein realer Aktivposten – mit Rendite. Und nicht zuletzt wirft er eine größere Frage auf: Wenn Apotheken heute ihre Zukunft selbst finanzieren – was sagt das über die Unterstützung durch die Politik? „Ich glaube nicht, dass uns jemand rettet“, sagt König. „Aber ich glaube daran, dass wir uns selbst neu erfinden können.“
Anerkennung braucht Alltag, Integration braucht Präsenz, Beratung braucht Sprache
Wie ausländische Fachkräfte Apotheken durch Mehrsprachigkeit stärken, beruflich integriert werden und Patientennähe im HV neu definieren
Die Mitarbeit ausländischer Fachkräfte in Apotheken wird zunehmend zu einem integralen Bestandteil zukunftsorientierter Versorgungspraxis – nicht nur als Übergangslösung auf dem Weg zur Kenntnisprüfung, sondern als echte Bereicherung im täglichen Betrieb. Eine sächsische Inhaberin berichtet, wie sie in diesem Jahr bereits zweimal die Gelegenheit hatte, angehende Apotheker aus dem Ausland in ihrer Offizin zu begleiten. Für sie steht außer Frage, dass diese Unterstützung mehr ist als bloße Aushilfe: „Die Einbindung vor der Anerkennung ist entscheidend – für beide Seiten. Ich helfe beim Einstieg, sie helfen im Betrieb.“
Der Bedarf an qualifiziertem pharmazeutischem Personal ist hoch, insbesondere in Regionen mit geringer Bewerberdichte. Vor diesem Hintergrund erweist sich das Potenzial internationaler Fachkräfte als wichtiger Hebel – allerdings nur, wenn die Integration auch im Alltag gelingt. Viele Apotheken nutzen daher die Möglichkeit, Bewerber mit ausländischem Abschluss zunächst als Hilfskraft zu beschäftigen, etwa in der Rezeptur, im Lager oder am Handverkaufstisch. Entscheidend dabei ist, dass die Mitarbeit sinnvoll strukturiert und pädagogisch begleitet wird. „Es geht nicht nur darum, Putzdienste zu erledigen oder Pakete auszupacken“, betont die Inhaberin. „Wer den Beruf ernsthaft ausüben will, muss den Alltag kennenlernen – und die Kolleg:innen müssen wissen, was sie mittragen.“
Besonders bemerkenswert: In dem aktuellen Fall sprach das eingesetzte Fachpersonal Arabisch als Muttersprache – eine Fähigkeit, die sich im direkten Kontakt mit Kund:innen als wertvoller Brückenschlag erwies. Gerade in urbanen Lagen mit hohem Migrant:innenanteil oder in Regionen mit arabischsprachigen Patient:innen bietet sich so ein direkter Mehrwert, der über reine Kommunikationshilfe hinausgeht. „Unsere Kundschaft war dankbar, wenn wir ohne Umweg über Google Translate oder Zettelwirtschaft helfen konnten“, erzählt die Inhaberin. „Manche Beratungen waren überhaupt nur durch die Sprache möglich – und das hat sich sogar im Zusatzverkauf gezeigt.“
Die gezielte Integration von Fachkräften in den HV kann so nicht nur die Versorgung verbessern, sondern auch wirtschaftliche Impulse setzen. Sprachkompetenz wird zu einem strategischen Vorteil, wenn sie professionell eingebunden ist. Doch dafür braucht es klare Strukturen: Einarbeitungspläne, enge Supervision, Raum für Fehlerkorrektur und ein rechtssicheres Rollenverständnis. Gerade im Bereich der Arzneimittelabgabe sind Zuständigkeiten exakt zu regeln – Hilfskräfte dürfen keine pharmazeutischen Tätigkeiten ohne Aufsicht durchführen. Wo dies gewährleistet ist, entstehen jedoch keine Nachteile, sondern neue Synergien.
Nicht zuletzt eröffnet diese Praxis eine Perspektive für Fachkräfte, die sonst monatelang in Warteschleifen verharren müssten – ohne Sichtkontakt zum Arbeitsalltag. Durch die frühzeitige Integration wachsen Selbstvertrauen, Sprachpraxis und fachliche Sicherheit. Parallel profitieren die Teams, indem sie lernen, mit Diversität umzugehen, kulturelle Sensibilität zu entwickeln und ihre internen Kommunikationsstrukturen zu hinterfragen. Die Inhaberin formuliert es klar: „Wir haben nicht nur geholfen – wir haben auch gelernt.“
Der Fall zeigt exemplarisch, wie viel Potenzial in einer bewussten Öffnung gegenüber ausländischen Fachkräften steckt – wenn sie nicht als Lückenfüller, sondern als Kolleg:innen auf Zeit betrachtet werden. Für Apotheken kann dies nicht nur Entlastung bringen, sondern auch Inspiration, wie Beratung neu gedacht werden kann. Die Fachsprache endet nicht am HV-Tisch – sie beginnt oft in der Sprache des Gegenübers.
100 Jahre Geschichte, gelebte Verantwortung, entschiedene Zukunft
Wie die Schleusen-Apotheke in Sachsenhausen ihr Jubiläum feiert, dem Strukturwandel trotzt und Vertrauen zum Erfolgsprinzip macht
In einer Zeit, in der sich Apotheken in ganz Deutschland immer häufiger zurückziehen, Standorte aufgeben oder unter wachsendem Reformdruck ächzen, markiert die Schleusen-Apotheke im Oranienburger Stadtteil Sachsenhausen ein selten gewordenes Gegenmodell: Sie feiert ihr 100-jähriges Bestehen – und zeigt dabei mit selbstbewusstem Auftreten, klarer Haltung und lokaler Bindung, dass Apotheke mehr sein kann als betriebswirtschaftlich ausgelaugte Grundversorgung. Die Inhaberin Mandy Kuhrau, die das traditionsreiche Haus seit Januar 2021 leitet, setzt dabei nicht nur auf nostalgische Rückschau, sondern auf strategisch kluge Positionierung für die Zukunft. Ihre unmissverständliche Aussage zur weiteren Existenz der Apotheke – „Schließen? Mitnichten!“ – ist keine Floskel, sondern ein bewusst gesetztes Zeichen gegen die Erosion des Apothekenwesens.
Gegründet im Jahr 1924, hat die Schleusen-Apotheke ein Jahrhundert gesellschaftlicher Umbrüche überstanden: Inflation, Krieg, DDR-Zeit, Wiedervereinigung, Apothekenstrukturreformen, Pandemie und zuletzt eine sich verschärfende wirtschaftliche Lage haben das Betriebsklima geprägt. Und doch ist sie geblieben – als medizinische Anlaufstelle, als Gesprächsort, als Ort des Vertrauens. Während rundherum Apotheken unter Nachfolgemangel, Rentabilitätsdruck und Bürokratie kollabieren, gelingt es der Sachsenhausener Institution, mit innerer Stabilität und konstanter Nähe zu ihren Patientinnen und Patienten zu bestehen. Ein Erfolgsrezept, das heute mehr denn je strategisches Gewicht besitzt.
Die Apotheke ist im Quartier nicht nur ein pharmazeutischer Betrieb, sondern Teil des sozialen Gefüges. In einem Stadtteil, der zugleich historisch belastet und lebendig gewachsen ist, ist die Schleusen-Apotheke ein stabiler Ankerpunkt – zwischen Kitas, Seniorenheimen, Hausarztpraxen und kleinen Geschäften. Dass Mandy Kuhrau die institutionelle Geschichte kennt und zugleich offen für neue Versorgungswege ist, prägt ihren Führungsstil: Sie versteht die Apotheke nicht als nostalgisches Relikt, sondern als wandelbare, vertrauensbildende Struktur mit Verantwortung und Reichweite.
Dabei geht es längst nicht mehr nur um die klassische Rezeptbelieferung. Die Schleusen-Apotheke bietet pharmazeutische Dienstleistungen wie Medikationsanalysen, individuelle Beratungsgespräche zu Polymedikation, Impfberatung sowie Hilfestellung bei chronischen Erkrankungen oder Pflegefragen. Kuhrau setzt auf Sichtbarkeit und Authentizität – und genau das ist ein Alleinstellungsmerkmal in einem Umfeld, in dem viele Apotheken zunehmend unsichtbar werden. Im Jubiläumsjahr plant sie Aktionen mit lokalem Bezug, historische Rückblicke für die Nachbarschaft und Gesprächsformate, die Brücken zwischen Generationen schlagen sollen.
Nicht nur Kundinnen und Kunden profitieren von dieser Haltung. Auch das Apothekenteam, das sich durch Kontinuität, Fachkompetenz und empathisches Auftreten auszeichnet, erlebt Führung nicht als bloße Verwaltung, sondern als verlässliche, partnerschaftliche Struktur. Gerade in Zeiten, in denen Fachkräftemangel, Überstunden und mentaler Druck viele Berufsträger:innen aus dem Gesundheitswesen treiben, stiftet diese Form der Kultur Bindung. Kuhrau schafft es, Team und Standort zu verbinden – mit einem betont menschlichen Führungsverständnis, das sowohl betriebswirtschaftlich als auch gemeinschaftlich Wirkung entfaltet.
Dass sie trotz aller Herausforderungen entschlossen an der Apotheke festhält, ist dabei keineswegs selbstverständlich. Die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen – von Nullrunden bei der Vergütung über Retaxationen bis hin zu stockenden Digitalisierungsinitiativen – machen wirtschaftliches Planen zur täglichen Gratwanderung. Doch Kuhrau verfolgt eine klare Linie: „Solange wir gebraucht werden und wir gebraucht sind, bleibt diese Apotheke bestehen.“ Dass sie damit nicht nur ein Versprechen gibt, sondern ein Konzept verfolgt, zeigt sich in jedem Detail: von der betont wohnortnahen Orientierung über barrierearme Zugänge bis zur intensiven Zusammenarbeit mit Hausärzten, Pflegeeinrichtungen und sozialen Diensten vor Ort.
Ein besonderes Augenmerk liegt auch auf älteren Patientengruppen, die von großen Versandapotheken und anonymen Plattformangeboten kaum mehr erreicht werden. Die Schleusen-Apotheke positioniert sich explizit als Ort für Menschen, die mehr brauchen als ein kurzes Abscannen eines E-Rezepts – nämlich Erklärung, Zuwendung und situationsgerechte Hilfe. Gerade in Sachsenhausen, wo der Altersdurchschnitt hoch und das Mobilitätsbedürfnis komplex ist, ist dies ein entscheidender Versorgungsvorteil. Die Apotheke leistet dabei nicht weniger als das, was der Gesetzgeber häufig propagiert, aber selten konkret organisiert: Gesundheitskompetenzförderung im Alltag.
Inmitten der Diskussionen um Apothekenhonorare, Reformstau, Digitalisierungslücken und Fachkräftemangel sendet die Jubiläumsfeier ein klares Signal: Versorgung braucht mehr als Schlagzeilen – sie braucht Orte wie diese, die sich trotz aller Widrigkeiten behaupten. Mandy Kuhrau wird dabei zur exemplarischen Figur für eine neue Generation von Apothekeninhaber:innen, die sich der Systemrelevanz ihrer Arbeit bewusst sind, aber nicht auf ideelle Zuschreibungen bauen, sondern auf konkretes Handeln, verlässliche Struktur und professionelle Wertschöpfung. Ihr Leitsatz, dass es keinen Anlass zur Schließung gebe, ist nicht nur eine persönliche Entscheidung – es ist ein strategisches Statement.
Dass dieses Selbstverständnis auch auf Anerkennung stößt, zeigt sich im lokalen Rückhalt. Stadtverwaltung, Patient:innen, Ärzt:innen und Pflegepartner gratulieren nicht nur zum 100. Geburtstag – sie betonen den Wert der Apotheke für das Leben vor Ort. Die Jubiläumsveranstaltungen, darunter eine Ausstellung zur Geschichte der Arzneimittelversorgung in Sachsenhausen und thematische Nachmittage zur Gesundheitsvorsorge, knüpfen genau daran an: an gelebte Nähe, an Geschichte mit Zukunft, an eine Apotheke, die sich selbst nicht feiert, sondern ihren Platz in der Gemeinschaft sichtbar macht.
Während landesweit Alarmzahlen zur Apothekenschließung kursieren und Investoren neue Marktmodelle propagieren, zeigt die Schleusen-Apotheke einen anderen Weg: mit Haltung, mit Menschenkenntnis und mit wirtschaftlicher Vernunft. Das 100-jährige Bestehen wird so zum Anlass, nicht nur zu würdigen, was war – sondern bewusst zu entscheiden, was bleibt. In Mandy Kuhraus Worten klingt das ganz einfach: „Wir schließen nicht. Wir bleiben.“ Und damit beginnt das nächste Kapitel.
Natrium wird zur Stellschraube, Ernährung zur Strategie, Prävention zur Systemchance
Wie eine gezielte Diät bei Typ-2-Diabetiker:innen mit Hypertonie den Blutdruck messbar senkt, Medikamentenbedarf reduziert und neue Perspektiven für Versorgung, Beratung und Politik eröffnet
Typ-2-Diabetes und arterielle Hypertonie gelten als gefährliches Duo – klinisch, systemisch und ökonomisch. Während Medikamente zur Standardtherapie gehören, bleibt die Ernährungstherapie oft im Schatten. Doch eine aktuelle Studie aus Baltimore rückt diesen Ansatz ins Zentrum des Interesses. Das Team der Johns Hopkins University untersuchte, wie sich eine gezielte Reduktion der Natriumzufuhr auf den Blutdruck von Patient:innen mit Typ-2-Diabetes und Hypertonie auswirkt – mit eindrucksvollem Ergebnis: Bereits eine moderate Einschränkung des Salzkonsums senkte den systolischen Blutdruck um durchschnittlich über 7 mmHg. Die Wirkung trat unabhängig von bestehender Medikation auf und war frei von Nebenwirkungen – ein medizinisches Signal mit politischem Potenzial.
Die Studie umfasste mehrere hundert Personen mit metabolischem Syndrom, verteilt auf zwei Gruppen: eine mit natriumreduzierter Diät, die andere mit normaler Ernährung. Innerhalb von acht Wochen ließ sich in der Interventionsgruppe nicht nur eine signifikante Blutdrucksenkung beobachten – viele Patient:innen erreichten sogar Normwerte. Ein Drittel konnte die antihypertensive Medikation reduzieren. Damit steht Ernährung nicht mehr in Konkurrenz zur Tablette, sondern erweitert die therapeutische Toolbox. Und das ist systemisch relevant: Angesichts steigender Polypharmazie, sinkender Adhärenz und wachsender Arzneimittelkosten kann jede nichtmedikamentöse Maßnahme mit belegter Wirkung die Versorgung stabilisieren.
Doch Ernährung ist nicht gleich Verzicht. Die Umstellung beruhte auf realistischen Schritten: Weniger Fertiggerichte, mehr frische Produkte, gezielter Einsatz kaliumreicher Lebensmittel und natriumarmer Alternativen. Schulungen vermittelten Strategien zur Erkennung versteckter Salzquellen – etwa in Aufschnitt, Käse, Brot oder Snacks. Unterstützt wurden die Patient:innen durch Apps, die Nährwertangaben transparent machten. Die daraus entstehende Selbstwirksamkeit trug entscheidend zur Akzeptanz bei. Und: Auch ohne Diätverbot oder asketischen Druck entstanden klinisch relevante Effekte – ein starkes Argument für die breite Einsetzbarkeit solcher Programme.
Für Apotheken ergibt sich daraus ein konkreter Auftrag. Als niedrigschwellige Gesundheitsorte mit Zugang zur Zielgruppe können sie die Ernährungstherapie unterstützen, begleiten und vermitteln. Ob durch Infomaterial, gezielte Beratung oder interprofessionelle Zusammenarbeit mit Hausarztpraxen – die Rolle der Apotheker:innen bei der Umsetzung medizinischer Ernährungsstrategien sollte neu gedacht und strukturell gefördert werden. Insbesondere pharmazeutische Dienstleistungen bieten sich an, um Blutdruck- und Ernährungsmonitoring zu verzahnen und so den medizinischen Nutzen zu verstärken. Der Beratungsaspekt wird dabei nicht zum moralischen Appell, sondern zum handhabbaren Teil einer evidenzbasierten Versorgungskette.
Auch politisch sind die Ergebnisse brisant. Der GKV-Spitzenverband beziffert die Folgekosten von Bluthochdruck jährlich auf Milliardenbeträge. Prävention ist zwar erklärtes Ziel – doch in der Realität häufig unterfinanziert, fragmentiert und zu wenig verankert. Die hier vorgestellte Studie liefert ein konkretes Interventionsmodell, das sofort umgesetzt werden könnte: Es ist günstig, verfügbar und kulturübergreifend anschlussfähig. Ein bundesweites Förderprogramm für natriumbewusste Ernährung bei Risikogruppen könnte bereits mittelfristig messbare Einsparungen bei Arzneimittelausgaben, Krankenhausaufenthalten und Pflegekosten erzeugen. Der Gesetzgeber steht vor der Wahl: Weiter in teure Spätfolgen investieren – oder frühe, effiziente Maßnahmen stärken.
Besonders bemerkenswert: Die Blutdruckreduktion durch Diät entsprach im Mittel der Wirkung einer Monotherapie mit ACE-Hemmern – nur ohne Nebenwirkungen. Diese Vergleichbarkeit mit pharmazeutischen Maßnahmen sollte die Leitlinien beeinflussen. Ernährungstherapie darf nicht mehr als Lifestyle-Element nebenher laufen, sondern muss als gleichwertiger therapeutischer Schritt Eingang in die Behandlungspfade finden. Die Studienautor:innen fordern deshalb eine strukturelle Integration in Disease-Management-Programme (DMP), hausärztliche Chronikerprogramme und betriebliche Gesundheitsförderung.
Auch die Versorgungsforschung erhält neue Impulse. Die Frage, wie Ernährung effektiv in Versorgung eingebunden werden kann, rückt ins Zentrum. Hier sind Evaluation, Versorgungsdesign und interdisziplinäre Kooperation gefragt. Apotheken, Ernährungsberater:innen, Ärzt:innen, Pflegedienste – alle können zur Umsetzung beitragen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Das Potenzial ist enorm, die Umsetzung eine Frage der politischen Weichenstellung.
Nicht zuletzt stellt die Studie auch eine sozialmedizinische Herausforderung dar: Der Zugang zu gesunder, natriumarmer Ernährung ist ungleich verteilt. Sozioökonomisch benachteiligte Gruppen haben häufiger erhöhten Blutdruck, konsumieren mehr verarbeitete Produkte und verfügen über geringere Gesundheitskompetenz. Maßnahmen zur Förderung der Ernährungskompetenz müssen daher gezielt und sozial differenziert erfolgen – mit niedrigschwelligen Angeboten, Schulinitiativen und lokalen Ernährungspatenschaften. Nur so lässt sich verhindern, dass Prävention zu einem Privileg wird.
Fazit: Die Reduktion der Natriumzufuhr bei Typ-2-Diabetiker:innen mit Hypertonie ist kein Soft-Thema – sie ist ein hochwirksamer, praxisnaher, kosteneffizienter Therapieansatz. Die Daten aus Baltimore liefern nicht nur Evidenz, sondern eine politische Handlungsaufforderung. Ernährung muss als Therapie ernst genommen werden – in der Praxis, im System, in der Politik. Apotheken können dabei Brücken bauen: zwischen Patient:innen und Möglichkeiten, zwischen Wissenschaft und Versorgung, zwischen Prävention und Alltag. Wer den Druck aus dem System nehmen will, muss beim Natrium ansetzen.
Glosse: Grüne Welle mit Nebenwirkung
Wie Medizinalcannabis den Beratungsalltag verwandelt, Pflegekassen ins Schwanken bringt und eine Pflastermarke ungewollt die Seiten wechselt
Henrik Falkenberg-Zumsand war nie ein Freund halber Sachen. Schon gar nicht, wenn es um seine Apotheke geht. Und erst recht nicht, wenn das Bundesgesundheitsministerium die Spielregeln für Medizinalcannabis neu schreibt. Als die Gesundheitsministerkonferenz beschloss, dass künftig nur noch nach persönlichem Erstkontakt mit einem Arzt Cannabis verordnet werden darf, gab es zwei Sorten Apotheker: die einen stöhnten, die anderen strickten neue Konzepte. Falkenberg-Zumsand gehörte zu Letzteren.
Innerhalb weniger Wochen verwandelte er seine "Zumsand-Apotheke" in eine Art grüne Oase mit therapeutischem Chillfaktor. Statt Flurmusik dudelt nun Vinyl aus den 1970ern, Lavendel mischt sich mit Terpenen in der Raumluft, und der Beratungstresen erinnert mehr an eine Mischung aus Altar und Teeküche als an einen Ort pharmazeutischer Aufklärung. Die übliche Zweiteilung von Verkauf und Backoffice wich einer Dreifaltigkeit: Kasse, Kompressionsware, Kontemplation.
Der Star der neuen Aufstellung ist die sogenannte "Philosophenschlange". Sie beginnt morgens noch gemächlich mit einzelnen Gestalten, die sich schulterklopfend begrüßen. Doch gegen Mittag entwickelt sie eine Dynamik, die irgendwo zwischen Pilgerweg und Street-Festival liegt. Man wartet, man spricht, man tauscht: Sortenempfehlungen, Podcasts, Hanfbutterrezepte. Zwischen Platz 4 und 9 gibt es einen inoffiziellen Tauschkosmos für vegane Riegel, kleine Notizhefte, Halbedelsteine. Bei Platz 10 sitzt ein Mann mit Didgeridoo. Kein Scherz.
"Die Leute wollen nicht einfach nur Medizin – sie wollen ein Ritual", sagt Falkenberg-Zumsand, während er seinen Hanfblütentee umrührt. Im umgestalteten Beratungsraum, hinter einem Fadenvorhang in Regenbogenfarben, empfängt die PTA mit sanfter Stimme, dampfender Teetasse und einer bedächtigen Frage: "Wie fühlen Sie sich heute mit Ihrer Dosis?" Die Patienten danken es ihr. Mit Geduld. Mit Fragen. Mit einer nie gekannten Entspannung. Man bleibt länger, man spricht mehr. Man konsumiert achtsamer.
Der Umbau hat sich gelohnt. Nicht nur wirtschaftlich. "Wir arbeiten ganz anders. Wir reden über Sinn und Wirkung, über Lebensweise, über Achtsamkeit. Und wir haben endlich Zeit dafür." Inzwischen kooperiert die Apotheke mit dem Bio-Bäcker, der auf Kassenbons Croissants ausgibt, mit dem Yogastudio, das Rabatt für Patienten gewährt, und mit der Tankstelle, die an die Nebenwirkung Appetit glaubt. "Da geht richtig was."
Doch der regulatorische Hintergrund ist alles andere als romantisch. Grund für die Neuerung ist der florierende Missbrauch über Online-Plattformen. Schnellrezepte ohne jede Beratung, Algorithmen statt Anamnese. Die Bundesapothekerkammer warnte, die Politik reagierte. Selbst Dr. Cannova, einst Vorreiter im digitalen Verschreibungswesen, zieht inzwischen gegen dubiose Mitbewerber vor Gericht. Aus Wildwest wird Rechtsstaat. Aus Fernversorgung wird Nahbetreuung. Und aus Cannabis wird eine Art Prüfstein für die Rolle der Vor-Ort-Apotheke.
Parallel fliegen die Fetzen an anderer Stelle: Die DAK fordert Corona-Zuschüsse zurück – ganze 5,2 Milliarden Euro, die aus der Pflegekasse abgeflossen sein sollen. Rechtswidrig, so die Kasse. Rückzahlung jetzt oder Beitragserhöhung bald. Und da stellt sich die Frage: Wo bleibt eigentlich die Achtsamkeit beim Haushaltsvollzug? Während die Apotheke auf Atmung setzt, atmet die Finanzlage der Pflegeversicherung schwer. Ob da ein bisschen Hanftee helfen würde?
Derweil bemüht sich ein MS-Patient aus München um seine eigene Form der Selbstoptimierung: Er reichte laut Gericht Quittungen für nie abgeholte Privatrezepte ein – 25-mal. Schaden: 150.000 Euro. Strafmaß: Bewährung. Und eine Pflastermarke aus Niederbayern hat ihren eigenen Aufreger zu verdauen: Die Proben enthielten einen diskreten, aber gut sichtbaren Werbeslogan: "Jetzt bei Dropla". Nicht in einem Beipackzettel, sondern direkt im Pflastermäppchen. Die Sonnenwinkel-Apotheke reagierte mit Humor, der Hersteller Medisano Labs mit Erklärung: Verwechslung.
Wer bei all dem auf Bodenhaftung hofft, muss nach Nordhafen blicken. Die Prisma-Apotheke zeigt Flagge. Im Pride Month gibt es hier nicht nur Regenbogen-Aufsteller, sondern auch Beratung für alle Lebenslagen – queerfreundlich, offen, unaufgeregt. Doch nicht jeder teilt die Freude: Im Netz hagelt es Kritik. Sichtbarkeit ist keine Einbahnstraße. Auch das ist Teil des Alltags, den eine Apotheke heute mitverhandelt. Zwischen Kompressionsstrumpf und Cannabiskeks, zwischen Impfstoff und Identität.
Und irgendwo in diesem Kaleidoskop aus Vorschrift und Vertrauen, Missbrauch und Musik, Pflaster und Positionierung zeigt sich, was Apotheke eben auch sein kann: Ein Ort, der Veränderung zulässt, weil er sich selbst verändert. Nicht als Pose, sondern als Haltung. Nicht nur bei Nebel aus Hanfdampf, sondern auch in klarer Luft.
Von Engin Günder, Fachjournalist
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