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  • 03.06.2025 – Apotheken-Nachrichten von heute: Sicherheitskonzepte neu denken, Versorgungshorizonte schließen, Verantwortung radikal ernst nehmen
    03.06.2025 – Apotheken-Nachrichten von heute: Sicherheitskonzepte neu denken, Versorgungshorizonte schließen, Verantwortung radikal ernst nehmen
    APOTHEKE | Medienspiegel & Presse | Apotheken zwischen digitaler Bedrohung, gesellschaftlicher Verantwortung und staatlichem Kontrollverlust – warum Sicherheitskonzepte neu...

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ApoRisk® Nachrichten - APOTHEKE:


APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |

Apotheken-Nachrichten von heute: Sicherheitskonzepte neu denken, Versorgungshorizonte schließen, Verantwortung radikal ernst nehmen

 

Wie Apotheken digital wie physisch aufrüsten, der Staat bei der Marktüberwachung versagt und sich Verantwortung im Notdienst konkretisiert

Sicherheit ist kein Nebenprodukt mehr, sondern integraler Bestandteil einer resilienten Gesundheitsversorgung – Apotheken stehen dabei im Zentrum einer Entwicklung, die physische Sicherung, digitale Resilienz und gesellschaftliche Verantwortung untrennbar miteinander verknüpft, während Zollkontrollen kollabieren, E-Commerce mit illegalen Arzneimitteln boomt und politische Strategien wie das Primärarztsystem oder die Telepharmazie hinter ihren Versprechungen zurückbleiben, was auf dramatische Weise sichtbar wird, wenn Apothekerinnen wie Judith Schilde nachts nicht nur Arzneien abgeben, sondern Menschen retten, wenn in Baden-Württemberg Dutzende Apotheken schließen und Kinder wegen fehlender Impfstoffe ungeschützt bleiben – und wenn gleichzeitig Hightech-Biotech im Münchner IZB die Medizin von morgen entwickelt, während der Gesetzgeber in der Struktur von gestern verharrt.

 

Sicherheitslücken schließen, digitale Risiken managen, Vertrauen dauerhaft sichern

Warum Apotheken umfassend aufrüsten müssen, welche Strategien im Cyber- und Objektschutz greifen und wie Sicherheit zum Standortvorteil wird

Sicherheitskonzepte in Apotheken galten lange als technisches Randthema. Wer eine Apotheke betrat, erwartete Kompetenz, Schutz und Seriosität – doch nicht notwendigerweise Hightech oder Krisenprävention. Diese Selbstverständlichkeit ist vorbei. Der Schutz von Medikamenten, Patientendaten und Arbeitsabläufen ist längst zu einer Frage betrieblicher Existenzsicherung geworden. Dabei geht es nicht nur um Alarmanlagen und Virenscanner, sondern um ein vielschichtiges Geflecht aus baulicher Sicherheit, digitaler Wehrhaftigkeit, regulatorischer Compliance, personellem Bewusstsein und kommunikativer Offenheit. Apotheken, oft zugleich Einzelunternehmen, Gesundheitsstützpunkt und digital angebundener Versorgungsknoten, müssen sich heute gegen eine komplexe Risikolandschaft wappnen – mit Strategien, die sowohl robust als auch flexibel sind. Die zentrale Aufgabe lautet nicht mehr nur, sich zu schützen, sondern sichtbar sicher zu sein.

Was Apothekenteams dabei zunehmend realisieren: Sicherheit beginnt nicht mit dem Notfall, sondern mit Prävention. Wer sich ausschließlich auf Alarmanlagen oder Schließanlagen verlässt, denkt zu kurz. Moderne Sicherheit beginnt bei der Risikoeinschätzung – und zwar sowohl physisch wie digital. Im Objektbereich zählen dazu klassische Einbruchrisiken, etwa durch rückwärtige Zugänge, schlecht gesicherte Notausgänge oder unbeleuchtete Umfelder. Doch auch Brandschutz, Notfallpläne für Stromausfall, Leckagen (z. B. durch Sprinkleranlagen) oder diebstahlgefährdete Bereiche wie das Sichtwahlregal gehören in das Sicherheitsportfolio. In den vergangenen Jahren hat sich der physische Schutz sichtbar weiterentwickelt: Sicherheitsglas, automatische Verschlussmechanismen, videoüberwachte Eingänge und Bewegungsmelder mit KI-gestützter Objekterkennung sind heute keine Zukunftsmusik mehr. Besonders Apotheken in Innenstadtlagen oder angrenzend an soziale Brennpunkte müssen ihren architektonischen Aufbau gezielt anpassen, um potenziellen Tätern möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten – ohne die einladende Funktion des Ortes zu verlieren.

Noch anspruchsvoller wird die Lage im digitalen Raum. Cyberangriffe sind nicht mehr die Ausnahme, sondern gehören zur betriebswirtschaftlichen Realität – vom einfachen Trojaner bis zum gezielten Angriff auf Apothekenserver oder Rezeptdatenbanken. Die größte Schwachstelle dabei ist häufig nicht die Technik, sondern der Mensch: unzureichend geschulte Mitarbeitende, die Passwörter auf Notizzetteln hinterlegen, E-Mail-Anhänge unbedacht öffnen oder veraltete Systeme verwenden. Gefahren drohen nicht nur durch Hacker, sondern auch durch Geräteausfälle, Datenverluste und mangelnde Updatesicherheit. Eine professionell betriebene Firewall ist heute genauso Pflicht wie eine kontinuierlich aktualisierte Antiviren-Software, externe Backuplösungen, Zwei-Faktor-Authentifizierung und regelmäßige Sicherheitsaudits. Insbesondere bei der Anbindung an das Telematikinfrastruktur-System (TI) sind Apotheken verpflichtet, höchste Sicherheitsstandards einzuhalten – eine Herausforderung, die zunehmend technischen Sachverstand und personelle Ressourcen verlangt.

Hier kommen neue Dienstleistungsmodelle ins Spiel: Managed Security Services, also ausgelagerte IT-Sicherheitsüberwachung, werden für viele kleinere Apotheken zur Überlebensfrage. Doch solche Lösungen setzen Vertrauen voraus – und ein Grundverständnis dafür, dass IT-Sicherheit keine Zusatzleistung mehr ist, sondern Teil des Kerngeschäfts. Verstöße gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), selbst wenn unbeabsichtigt, können mit erheblichen Bußgeldern und Reputationsschäden einhergehen. Gerade in einem Bereich, der mit sensiblen Gesundheitsdaten arbeitet, kann der Verlust von Patientenvertrauen binnen Stunden existenzbedrohend wirken. Transparenz gegenüber den Kunden – etwa durch Hinweise auf Datenverarbeitung, sichere Rezeptabwicklung und verschlüsselte Kommunikation – wird daher zu einem aktiven Instrument der Kundenbindung.

Hinzu kommen externe Unterstützungsstrukturen: In enger Abstimmung mit lokalen Polizeidienststellen oder Sicherheitsberatern lassen sich Risikoanalysen durchführen, die nicht nur Standardverfahren beschreiben, sondern auf lokale Bedrohungslagen reagieren. Auch der Austausch in regionalen Apothekenverbünden zu Sicherheitsfragen nimmt zu – mit Erfahrungsberichten, Technikempfehlungen und Lessons Learned nach Vorfällen. Dabei geht es nicht nur um Abschreckung, sondern um den Aufbau robuster Strukturen im Alltag. Die Notfallpläne, die nach Einbrüchen oder Systemausfällen greifen, müssen getestet, aktualisiert und allen Teammitgliedern bekannt sein – ebenso wie Handlungsabläufe bei verdächtigen Bestellungen, manipulierten Rezepten oder drohendem Stromausfall.

Doch bei aller Technik bleibt eines zentral: der Mensch. Apothekenteams müssen heute Sicherheit aktiv mittragen – nicht als lästige Zusatzaufgabe, sondern als Ausdruck professioneller Verantwortung. Schulungen zu Verhalten bei Notfällen, korrekter Passwortverwaltung, Umgang mit Datenschutzverletzungen oder auch deeskalierendem Verhalten bei aggressiven Kunden sind heute nicht mehr optional. Wer sein Personal in diese Prozesse einbindet, schützt nicht nur die Apotheke, sondern stärkt auch Motivation und Zusammenhalt.

Die Pandemie hat gezeigt, wie schnell externe Faktoren Apotheken aus dem Gleichgewicht bringen können – vom Lieferengpass bis zur IT-Überlastung. Die daraus gezogenen Lehren münden nun in professionellere Sicherheitskonzepte: Redundanz, vorausschauende Technikplanung, psychologische Resilienz im Team. Apotheken, die frühzeitig investieren, gewinnen nicht nur an Schutz, sondern auch an Wettbewerbsfähigkeit. Denn für viele Kunden wird die Wahrnehmung von Sicherheit – ob beim Abholen eines BtM-Rezepts oder beim digitalen E-Rezept-Vorgang – zum indirekten Entscheidungskriterium. Vertrauen entsteht nicht nur durch Kompetenz, sondern auch durch kontrollierte Abläufe.

Am Ende ist Sicherheit keine Frage des Geldes allein, sondern der Haltung. Wer seine Apotheke als gesellschaftlich verankerten Gesundheitsort versteht, handelt auch im Sicherheitsbereich mit Weitsicht. Apotheken, die heute in umfassende Schutzkonzepte investieren, sichern nicht nur Medikamente oder Daten – sie verteidigen das Prinzip der verlässlichen Versorgung in einer Welt wachsender Unsicherheiten.

 

Illegale Märkte digitalisiert, Grenzkontrollen umgangen, Kontrollsysteme überfordert

Wie Onlinehandel, Arzneimittelimport und Drogenversand den Zoll belasten, E-Commerce zum Risiko wird und die Schattenökonomie boomt

Was einst in dunklen Gassen, versteckten Rucksäcken oder in doppelten Böden von Reisekoffern transportiert wurde, kommt heute verpackt als vermeintlich harmlose Sendung aus einem chinesischen E-Commerce-Lager: Der deutsche Zoll steht 2024 an einer systemischen Bruchlinie, an der sich die Dynamik des digitalen Handels mit den Reaktionsmöglichkeiten des staatlichen Kontrollapparats reibt. Die Bilanz, die Generalzolldirektor Armin Rolfink jetzt in Hamburg vorlegte, macht deutlich: Die Zahl der zu kontrollierenden Paketsendungen hat sich im vergangenen Jahr vervierfacht, auf 235 Millionen – mit einem Schwerpunkt auf Ware aus China, die zu 90 Prozent den Postweg nach Deutschland findet. Darunter auch immer mehr illegale Substanzen, Arzneimittel ohne Zulassung oder Produktfälschungen, deren Volumen und Vielfältigkeit den klassischen Kontrollbegriff übersteigen.

Im Zentrum der Debatte steht dabei ein grundlegendes Spannungsverhältnis: Während der Onlinehandel mit globaler Geschwindigkeit neue Vertriebskanäle für Produkte jeder Art schafft, bleibt der Zoll in einem auf analoge Strukturen ausgelegten Raster gefangen. Dass bei den 8224 dokumentierten Aufgriffen über 10 Tonnen Drogen sichergestellt wurden – darunter 16,3 Tonnen Kokain, 12,6 Tonnen Marihuana und rund 600 Kilogramm synthetische Drogen – ist Ausdruck erfolgreichen Zugriffs, aber auch ein Hinweis auf die tatsächliche Menge, die unentdeckt zirkuliert. Die sinkende Menge an sichergestelltem Kokain – 2023 waren es noch 39,9 Tonnen – könnte laut Bundesfinanzminister Lars Klingbeil auf intensivere Kontrollen und Ermittlungsdruck zurückzuführen sein. Gleichzeitig wächst aber die Zahl kleiner, dezentraler Lieferungen: Cannabis, Amphetamine, neue psychoaktive Substanzen wie Ketamin und sogar dopingrelevante Mittel werden zunehmend in Briefumschlägen und kleinen Kartons verschickt – schwer zu entdecken, schwer zu stoppen.

Besonders problematisch erscheint der Bereich des Arzneimittelimports. Der Zoll hat im Jahr 2024 über 9.800 Sendungen mit rund zwei Millionen Tabletten und Ampullen beschlagnahmt, weil diese gegen das Arzneimittelgesetz verstießen. In über 903.000 Fällen kamen die Präparate per Post – oft aus Indien, China, der Türkei oder den USA – direkt an Endverbraucherinnen und Endverbraucher. Melatoninhaltige Mittel gegen Jetlag, Potenzmittel und rezeptpflichtige Antibiotika, die ohne ärztliche Kontrolle bezogen werden, gefährden nicht nur die Gesundheit Einzelner, sondern unterwandern systematisch den Schutzmechanismus des deutschen Arzneimittelrechts. Es geht nicht mehr nur um Einzelverstöße, sondern um eine graue Infrastruktur globaler Versorgungsumgehung – zu Billigpreisen, mit hoher Verfügbarkeit, ohne Rücksicht auf rechtliche oder pharmazeutische Standards.

Klingbeil kündigte an, diese Entwicklungen nicht hinnehmen zu wollen. Er sprach sich für eine Verschärfung der Regelungen und eine mögliche Abschaffung der zollfreien Grenze von 150 Euro bei Warenimporten aus Drittstaaten aus. Die Debatte auf EU-Ebene über eine pauschale Abgabe zwischen einem und zwei Euro pro Sendung wird derzeit geführt – doch der Minister blieb vage. Es fehle an politischen Entscheidungen, nicht an Warnsignalen. Denn längst sind es nicht nur Arzneimittel oder Drogen, die über das globale Versandnetz kursieren, sondern auch Waffen: Die Zahl der sichergestellten Kriegswaffen stieg von 19 auf 161 – darunter explizit als solche gelistete Gegenstände wie Flammenwerfer, Gewehrgranaten und Lenkflugkörper. Was einst dem Schmuggel im großen Stil vorbehalten war, kann heute über dezentrale Lager, Paketstationen und algorithmisch organisierte Lieferketten verschleiert werden.

Parallel dazu schrumpft die Reichweite der klassischen Ermittlungsarbeit. Die Einheit Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls kontrollierte 2024 nur noch 25.274 Arbeitgeber – ein deutlicher Rückgang gegenüber den 42.631 Prüfungen im Vorjahr. Zwar blieben die Verfahrenszahlen stabil, doch auch hier zeigt sich der Effekt wachsender Komplexität bei gleichzeitig begrenzten Ressourcen. Illegale Beschäftigung, Sozialbetrug und nicht gemeldete Erwerbstätigkeit verlagern sich zunehmend in digitale oder schwer kontrollierbare Felder. Die Rückgänge sind daher kein Zeichen von weniger Delikten, sondern von Überforderung im Vollzug.

Was diese Jahresbilanz offenlegt, ist ein strukturelles Problem: Die Kontrollarchitektur des Zolls – und mit ihr das gesundheitspolitische, wirtschaftliche und sicherheitstechnische Schutzsystem – wird durch die Digitalisierung des Schwarzmarktes systematisch überfordert. Der Onlinehandel wirkt dabei wie ein Beschleuniger der Schattenökonomie. Die Pakete werden kleiner, die Wege vielfältiger, die Absender austauschbarer – und die Empfänger meist Einzelpersonen, die sich über Amazon-ähnliche Plattformen vermeintlich harmlose Waren bestellen. Hinter der Fassade des globalen Komforts aber verbirgt sich ein hochgradig intransparenter, rechtlich grauzoniger Raum, in dem Arzneimittelgesetz, Betäubungsmittelgesetz und Zollverordnung regelmäßig ignoriert oder bewusst umgangen werden.

Es braucht deshalb mehr als punktuelle Reformvorschläge oder symbolische Maßnahmen. Die Einfuhrkontrolle muss neu gedacht, digital flankiert und personell gestärkt werden. Eine bloße Debatte über Schwellenwerte oder Pauschalabgaben ist keine Antwort auf ein Problem, das längst systemischen Charakter hat. Wenn sich staatliche Kontrolle auf das Ertappen weniger spektakulärer Fälle beschränkt, verliert sie in der Fläche ihre Wirksamkeit. Nur eine Kombination aus international abgestimmter Plattformregulierung, datenbasierter Risikoanalyse und konsequenter rechtlicher Nachverfolgung kann die Integrität des Binnenmarktes, den Schutz der Bevölkerung und die Glaubwürdigkeit der Kontrollinstanzen dauerhaft sichern.

 

Notdienst wird zur Rettung, Apothekerin übernimmt Verantwortung, Versorgung zeigt ihr menschliches Gesicht

Wie eine nächtliche Begegnung in Lengede zur stillen Heldengeschichte wurde, Verantwortung sichtbar macht und die Rolle der Apotheken neu rahmt

Es ist kurz nach Mitternacht, als es an der Tür der Glückauf-Apotheke im niedersächsischen Lengede klingelt. Die Nacht ist ruhig, der Notdienst wie so oft eine Mischung aus Wartezeit und Bereitschaft. Doch was sich dann ereignet, ist keine gewöhnliche Versorgungssituation, sondern ein Moment, der viel über gesellschaftliche Verantwortung, Versorgungssicherheit und das stille Rückgrat einer funktionierenden Infrastruktur erzählt. Vor der Tür steht ein alter Mann im Schlafanzug, barfuß, sichtlich verwirrt. Er spricht kaum, blickt hilflos um sich. Judith Schilde, Apothekerin und Inhaberin der Offizin, reagiert sofort, handelt ohne Zögern – und wird für einen Moment zur Retterin in einer Situation, die weit über das Einlösen eines Rezepts hinausgeht.

Der Vorfall lässt sich nicht als Anekdote abtun. Er steht sinnbildlich für das, was Apotheken im Notdienst tatsächlich leisten: Sie sind nicht bloß Abgabestellen für Arzneimittel, sondern erste Kontaktpunkte in Krisenmomenten, niedrigschwellige Rettungsinstanzen, Vertrauensorte. Inmitten einer Versorgungskrise, die sich in Apothekenschließungen, Nachwuchsmangel und politischen Aushandlungsprozessen ausdrückt, macht dieser Fall deutlich, dass das System nur dann funktioniert, wenn jemand die Verantwortung wirklich lebt – auch nachts, auch allein, auch wenn es unbequem wird.

Judith Schilde informiert sofort Polizei und Notfallkontakt, bleibt beim Mann, bietet ihm Wasser an, spricht mit ihm ruhig, bis die Beamten eintreffen. Der Mann, wie sich später herausstellt, war aus einem nahegelegenen Pflegeheim weggelaufen, unbemerkt, orientierungslos. Ohne die Bereitschaft der Apothekerin, nicht nur dienstlich, sondern menschlich präsent zu sein, hätte sich sein Weg durch die Nacht womöglich tragisch fortgesetzt. Es ist dieser stille Schutzraum, den eine offene Apothekentür bieten kann – im besten Fall. Und es ist zugleich eine Mahnung, wie fragil das ganze System wäre, wenn solche Türen dauerhaft geschlossen blieben.

Die Szene verweist auf ein strukturelles Paradoxon. Während politische Debatten sich um Fixzuschläge, Lieferengpässe und digitale Verordnungen drehen, wird oft übersehen, was den Kern des Apothekenwesens ausmacht: Präsenz. Verfügbarkeit. Vertrauen. Ein Notdienst ist keine Pflichtübung, er ist eine Möglichkeit, Versorgung nicht nur zu organisieren, sondern zu verkörpern. In einem System, in dem immer mehr auf Effizienz und Fernzugriff getrimmt wird, ist es ein Unterschied, ob jemand um zwei Uhr morgens vor einem Automaten steht – oder einem Menschen gegenüber.

Dabei ist der rechtliche Rahmen klar definiert: Notdienst bedeutet die Sicherstellung einer flächendeckenden Arzneimittelversorgung außerhalb regulärer Öffnungszeiten. Doch in der Praxis ist der Begriff weit mehr: Er ist soziale Infrastruktur, Bereitschaftsdienst, manchmal Rettungsanker. Der Fall aus Lengede zeigt: Der Übergang zwischen pharmazeutischer und psychosozialer Hilfe ist oft fließend. Wer hier arbeitet, muss nicht nur fachlich kompetent, sondern menschlich verfügbar sein. Und diese Verfügbarkeit wird aktuell an allen Ecken und Enden in Frage gestellt – durch ökonomische Rahmenbedingungen, durch Bürokratie, durch eine Politik, die Apotheken zwar adressiert, aber oft nicht versteht.

Was wäre geschehen, wenn diese Apotheke bereits geschlossen hätte? Wenn es kein Bereitschaftsfenster, keine helfende Hand mehr gegeben hätte? Die strukturelle Ausdünnung des Apothekennetzes zeigt ihre Folgen nicht erst bei Engpässen – sie beginnt dort, wo Verantwortung keinen Ort mehr findet. Die Glückauf-Apotheke, ein Name, der an Kohletradition und Arbeitsethos erinnert, wird in dieser Nacht zur Bühne eines leisen, aber gewichtigen Moments: Die Apothekerin agiert nicht als Beamtin im Dienst, sondern als Bürgerin im Dienst der Gemeinschaft.

In der Rückschau wirkt der Vorfall fast banal. Keine Reanimation, keine medizinische Eskalation – einfach nur eine Tür, die geöffnet wurde. Und doch ist genau das die Kraft der Geschichte. Weil sie zeigt, wie viel Verantwortung in kleinen Gesten liegt. Und wie leicht diese Verantwortung verlorengehen kann, wenn ihre Voraussetzungen – Personal, Infrastruktur, Wertschätzung – erodieren.

Dass Judith Schilde ihre Handlung nicht ins Rampenlicht zieht, sondern als „selbstverständlich“ beschreibt, verstärkt nur die Aussagekraft. Der Satz „Solche Momente sind so wertvoll“ ist kein Pathos, sondern eine schlichte Wahrheit. Er rahmt eine Haltung, die Apotheken tagtäglich – und nachtdienstlich – einnehmen. Und die in politischen Debatten stärker sichtbar gemacht werden muss. Denn es ist kein Zufall, dass ausgerechnet eine Apotheke in der Nacht zum Ankerpunkt wird – sie war einfach da.

 

Welche Apotheken diesmal aufgegeben haben, warum der Südwesten ausdünnt und welche Gemeinde plötzlich ohne Versorgung dasteht

Die Apothekenschließungen in Baden-Württemberg 2024 erzählen nicht nur von ökonomischem Druck, sondern offenbaren ein strukturelles Systemversagen zwischen Standortsicherung, Versorgungsauftrag und politischer Realitätsferne

Die Bewegung ist leise, aber unumkehrbar – und sie hinterlässt Lücken. Während Debatten über Apothekenhonorare, pharmazeutische Dienstleistungen oder digitale Gesundheitsangebote den bundespolitischen Raum füllen, vollzieht sich auf kommunaler Ebene eine stille Erosion: 2024 haben in Baden-Württemberg über 80 Präsenzapotheken endgültig ihre Türen geschlossen. Was als statistischer Trend erscheinen mag, ist in Wirklichkeit eine präzise, ortsgebundene Entwicklung mit dramatischen Auswirkungen für zahlreiche Gemeinden, insbesondere im ländlichen Raum. Die jüngsten Zahlen aus dem DAV-Wirtschaftsbericht 2024 belegen nicht nur eine Fortsetzung der langjährigen Schließungsdynamik, sondern verschärfen das Bild eines Versorgungssystems, das an seiner eigenen Struktur zu zerbrechen droht.

Besonders betroffen sind Städte und Gemeinden mit einer ohnehin angespannten Gesundheitsinfrastruktur. In Orten wie Waldenburg (Hohenlohekreis), Stühlingen (Kreis Waldshut), Ochsenhausen (Biberach) und Oppenau (Ortenaukreis) ist 2024 jeweils mindestens eine öffentliche Apotheke weggefallen – teils die letzte am Ort. In Waldenburg wurde mit dem Aus der „Rosen-Apotheke“ die medizinische Nahversorgung quasi über Nacht in den Nachbarort delegiert. Wer hier dringend Medikamente benötigt, muss nun ins 12 Kilometer entfernte Kupferzell fahren – sofern Mobilität und Öffnungszeiten mitspielen. Solche Szenarien sind keine Ausnahmen mehr, sondern kehren sich zunehmend in den Normalfall um.

In städtischen Mittelzentren ist der Wandel subtiler, aber nicht weniger relevant. In Esslingen schloss die traditionsreiche „Neckar-Apotheke“ nach über 60 Jahren. In Karlsruhe verschwanden 2024 drei Apotheken in Innenstadtlagen, darunter eine rund um den Europaplatz – nicht wegen Kundenmangels, sondern aufgrund explodierender Mieten, Personalmangel und fehlender Nachfolgerinnen. In Pforzheim, Villingen-Schwenningen und Friedrichshafen ist jeweils die Apothekendichte pro 10.000 Einwohner gesunken – trotz wachsender Nachfrage, insbesondere durch chronisch Erkrankte und Seniorinnen.

Der strukturelle Kern dieser Bewegung lässt sich klar fassen: Das ökonomische Risiko für inhabergeführte Apotheken steigt – nicht durch Konkurrenz allein, sondern durch eine Kombination aus Fixkostenlast, bürokratischen Pflichten, unsicheren Erstattungsstrukturen und einer abwandernden Berufsnachfolge. Die Entscheidung zur Schließung ist dabei selten Resultat eines einzelnen Moments. Vielmehr berichten Apothekerinnen und Apotheker von einem schleichenden Rückzug aus einem System, das ihnen täglich mehr abverlangt, aber immer weniger verlässlich agiert.

Auffällig ist zudem der Zusammenhang zwischen demografischer Entwicklung und Apothekenschwund. In Regionen mit Bevölkerungsrückgang – etwa im Ostalbkreis oder in Teilen der Südpfalz – sinkt nicht nur die Wirtschaftlichkeit eines Apothekenbetriebs, sondern auch das gesundheitspolitische Interesse, Strukturen langfristig abzusichern. Viele dieser Gemeinden finden schlicht keine Übernehmer mehr. Das Beispiel der Stadt Elztal zeigt dies exemplarisch: Nach dem altersbedingten Rückzug der Inhaberin blieb die Bewerbung auf das ausgeschriebene Objekt aus. Die Kommune bot sogar mietfreie Räume im Rathaus an – erfolglos.

Während das Land Baden-Württemberg in Sonntagsreden die flächendeckende Versorgung beschwört, fehlt es an konkreten Maßnahmen. Förderprogramme wie das „Zukunftsprogramm Landapotheke“ sind zwar angekündigt, aber weder personell noch finanziell robust genug, um echte Anreize zu schaffen. Apothekerkammer und Landesapothekerverband fordern seit Jahren eine strukturelle Anpassung des Honorarsystems für Standorte mit hoher Versorgungsrelevanz – bisher vergeblich. Stattdessen steigen die Anforderungen an Dokumentation, Lieferfähigkeit und technische Schnittstellen. Der Beruf droht zu einem bürokratisch entkernten Dienstleister zu verkommen, der zwischen Patientenbedürfnis und Kassenrealität aufgerieben wird.

Doch nicht nur ländliche Räume stehen unter Druck. Auch in urbanen Ballungsräumen verschärft sich die Spreizung: Während einige Apotheken an verkehrsgünstigen Knotenpunkten oder in Arztpraxenzentren florieren, verschwinden andere im Schatten wachsender Handelsmieten oder wegen stagnierender Umsatzanteile bei rezeptpflichtigen Arzneimitteln. Der Fall der „Post-Apotheke“ in Tübingen, die trotz bester Lage wegen Personalmangel aufgab, steht exemplarisch für ein Paradox: Kundennähe allein reicht nicht mehr – der Standort Apotheke wird zur Rechenaufgabe.

Mit jeder Schließung verliert nicht nur ein Ort seine Arzneimittelversorgung, sondern auch eine Beratungskultur. Viele Patient:innen, insbesondere ältere, pflegen ein Vertrauensverhältnis zu „ihrer“ Apotheke – das lässt sich durch Telemedizin oder Versandhandel nicht ersetzen. Wo Apotheken verschwinden, klafft oft eine Lücke, die nicht digital kompensierbar ist. Gerade in Krisensituationen, etwa bei Arzneimittelengpässen oder Pflegebedarf, zeigt sich, wie wichtig spontane, niederschwellige Versorgung vor Ort bleibt.

Die Landesregierung müsste längst gegensteuern – etwa durch gezielte Gründungsförderung, durch einen besseren Schutz inhabergeführter Apotheken vor Kettenbildung oder durch ein differenziertes Vergütungssystem, das reale Standortkosten abbildet. Bisher aber bleibt der politische Kurs vage. Auch 2024 verlagerten sich viele Debatten auf Bundesebene, während vor Ort Fakten geschaffen wurden – durch Kündigungen, durch Insolvenzen, durch stille Übergaben ohne Nachfolge. Der Trend zeigt: Ohne strukturellen Eingriff wird die Apothekenlandschaft in Baden-Württemberg nicht schrumpfen, sondern erodieren.

 

Primärärzte sollen steuern, Krankenkassen sollen umsetzen, Patienten sollen mittragen

Wie das KBV-Modell zur Facharztvermittlung aussehen soll, welche Lücken im Versorgungssystem bleiben und warum der Streit um das Primärarztsystem erst beginnt

Es ist ein altes Problem mit neuer Brisanz: Zu viele Patientinnen und Patienten, zu wenig koordinierte Versorgung – und mittendrin ein Facharztsystem, das überfüllt, fragmentiert und vielerorts nicht mehr steuerbar scheint. Der neue Vorstoß der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), ein eigenes Konzept zur Patientensteuerung im Rahmen eines Primärarztsystems zu etablieren, ist daher mehr als ein bloßer Gegenvorschlag zum Koalitionsvertrag der Bundesregierung – er ist ein strategisches Signal an Politik, Kassen und Versorgungspraxis zugleich. Denn auch wenn sich die schwarz-rote Koalition bereits im Koalitionsvertrag auf ein „verbindliches Primärarztsystem bei freier Arztwahl“ geeinigt hat, bleibt die Frage offen, wie eine solche Struktur in einem überlasteten, zunehmend heterogenen Versorgungssystem tatsächlich funktionieren soll – ohne neue Hürden, ohne Rückschritte bei der Zugänglichkeit, ohne neue Versorgungsrisiken.

Mit seinem Konzept, das auf der jüngsten Vertreterversammlung in Leipzig vorgestellt wurde, versucht KBV-Chef Andreas Gassen die Brücke zwischen politischem Willen und versorgungsethischer Realität zu schlagen. Die Grundidee: Jeder gesetzlich Versicherte soll einen festen Primärarzt benennen – wahlweise einen Hausarzt, einen Kinder- und Jugendarzt oder eine Gynäkologin –, der fortan als zentrale Anlaufstelle fungiert und den weiteren Behandlungspfad steuert. In der Theorie klingt das nachvollziehbar, sogar entlastend: weniger Arzt-Hopping, bessere Koordination, klarere Verantwortlichkeiten. In der Praxis jedoch wird deutlich, dass ein solches System tief in die gewachsenen Strukturen eingreift – und dabei zahlreiche Konfliktzonen sichtbar macht.

Denn nicht nur Facharztverbände sehen das Modell kritisch. Auch in der hausärztlichen Realität zeigt sich, dass die vermeintliche Steuerungskapazität vielerorts bereits an ihre Grenzen stößt. Insbesondere in ländlichen Regionen, wo Hausärztinnen und Hausärzte rar geworden sind, droht eine verpflichtende Primärarztregelung nicht zur Lösung, sondern zur Eskalation eines bestehenden Mangels zu werden. Der Grünen-Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen bringt diese Sorge präzise auf den Punkt: Ein verpflichtendes System könne helfen – aber nur dann, wenn es auch tragfähige Lösungen vor Ort gebe. Ohne eine gleichzeitige Reform der hausärztlichen Arbeitsbedingungen, eine flächendeckende Stärkung der Vorhaltestrukturen und den Ausbau digitaler Koordinationsinstrumente riskiere man reale Unterversorgung.

Besonders kontrovers ist dabei die von der KBV vorgeschlagene Sanktionierung für Patienten, die sich nicht steuern lassen wollen: Wer weiterhin ohne Überweisung direkt zum Facharzt geht, soll künftig eine Eigenbeteiligung zahlen. Die Höhe dieser Zuzahlung sei laut KBV allerdings Sache der einzelnen Krankenkassen. Ein Vorstoß, der signalisiert: Steuerung soll nicht nur empfohlen, sondern incentiviert werden – oder eben durch Kostendruck erzwungen. Ob das rechtlich tragfähig, sozialpolitisch vertretbar oder überhaupt praktikabel ist, bleibt offen. Sicher ist: Der Vorschlag entfaltet politischen Zündstoff. Und er lenkt die Aufmerksamkeit auf eine tieferliegende Frage – nämlich die, wie freiwillig gesteuerte Versorgung unter Bedingungen struktureller Überforderung überhaupt gestaltet werden kann.

Gassen selbst differenziert im Interview mit der „Bild“-Zeitung: Nicht jeder Patient brauche eine solche Steuerung. Junge, gesunde Menschen etwa, die keinen festen Hausarzt haben, könnten sich im Bedarfsfall über den ärztlichen Bereitschaftsdienst 116117 vermitteln lassen – inklusive Terminangebot mit Garantie. Für chronisch Kranke, multimorbide ältere Patienten oder Menschen mit komplexem Behandlungsbedarf hingegen sei das Primärarztsystem ideal. Das klingt differenziert – ist es aber nur auf den ersten Blick. Denn auch junge Menschen können plötzliche komplexe Beschwerden haben, genauso wie ältere Patienten nicht immer einer Koordinierung bedürfen. Das System, so viel steht fest, müsste elastisch, dynamisch und fallgerecht reagieren können. Genau daran mangelt es jedoch schon heute, wie viele Patienten aus leidvoller Erfahrung berichten.

Dass die KBV ihr Modell mit einer Vorhaltefinanzierung für die über 116117 vermittelten Termine flankieren möchte, macht klar, dass es sich nicht nur um eine Umverteilung von Terminen, sondern um eine Umverteilung von Verantwortung handelt. Wer vermittelt, trägt auch das Risiko – etwa wenn Termine verfallen oder Patienten nicht erscheinen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung fordert deshalb nicht nur zusätzliche Mittel, sondern auch eine neue Logik in der Leistungsvergütung: weg von reiner Fallpauschale, hin zu einer absichernden Finanzierung für Steuerungsaufgaben. Auch das ist ein Signal – allerdings eines, das auf Widerstand bei Kostenträgern und Politik stoßen dürfte, die ohnehin um jeden Cent im GKV-System ringen.

Gleichzeitig markiert der KBV-Vorstoß auch einen Paradigmenwechsel: Weg vom Dogma der völligen Arztwahlfreiheit, hin zu einem strukturierten Zugang mit zentralem Gatekeeper. Das mag in anderen Gesundheitssystemen – etwa in Großbritannien oder den skandinavischen Ländern – funktionieren, ist jedoch in Deutschland bislang kulturell unverankert. Die Bevölkerung ist es gewohnt, sich nach eigenem Ermessen ärztliche Expertise zu suchen – auch wenn sie dadurch unter Umständen doppelt, ineffizient oder falsch versorgt wird. Das Steuerungsmodell der KBV will diese Freiheit begrenzen – im Namen der Systemeffizienz. Doch was passiert, wenn Patienten sich entmündigt fühlen? Wenn Autonomie gegen Versorgungslogik ausgespielt wird? Der Erfolg eines Primärarztsystems hängt nicht nur von Strukturreformen, sondern auch von Akzeptanz ab – auf Seiten der Patienten wie auch der Ärztinnen und Ärzte.

So entsteht ein Spannungsfeld aus ökonomischen Notwendigkeiten, medizinischer Vernunft und soziopolitischen Realitäten. Die KBV versucht mit ihrem Modell, diesen Spagat zu meistern – indem sie ein freiwilliges System mit Sanktionen, eine Versorgungsidee mit Abrechnungsvorschlägen, ein Steuerungskonzept mit offenen Flanken kombiniert. Ob dieser Spagat gelingt, wird nicht allein in Leipzig, Berlin oder bei den Kassen entschieden. Sondern im Alltag der Praxen – dort, wo sich Versorgungslogik und Versorgungspraxis tagtäglich reiben.

 

Hausärztliche Steuerung im Umbau, Fachärzte im Erwartungsstau, Versorgung zwischen Zielbild und Praxislast

Wie das geplante Primärarztsystem Patientenströme lenken, Terminvergaben verbessern und das Gesundheitswesen neu sortieren soll

Die schwarz-rote Koalition will das Gesundheitswesen grundlegend neu ordnen – nicht mit einem großen Systemschwenk, sondern mit einer gezielten Zentrierung: Das Primärarztsystem, wie es im Koalitionsvertrag angekündigt wurde, soll zum steuernden Prinzip der medizinischen Versorgung werden, ohne die freie Arztwahl formell aufzugeben. Die Rolle der Haus- und Kinderärzt:innen wird dabei strategisch gestärkt – sie sollen zur ersten Instanz werden, zur Schaltzentrale, die entscheidet, ob und wann ein Facharztbesuch notwendig ist. In der politischen Theorie soll dies die Patientenversorgung gezielter gestalten, Terminvergaben beschleunigen und überlastete Facharztpraxen entlasten. In der gesundheitspolitischen Praxis allerdings zeigt sich bereits jetzt: Der Weg zur Umsetzung ist konfliktträchtig, voller Nebenbedingungen und geprägt von konkurrierenden Systemlogiken.

Denn was auf dem Papier als durchdachtes Steuerungsmodell daherkommt – inklusive Termingarantie, digitaler Ersteinschätzung und verpflichtender Vermittlung durch die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) – stößt in der Ärzteschaft auf eine Mischung aus prinzipiellem Zuspruch und handfesten Vorbehalten. Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) hat das Thema zuletzt mehrfach öffentlich priorisiert, etwa beim Deutschen Ärztetag in Leipzig. Ihre Zielvorgabe ist eindeutig: „Die Hausarztpraxis als erste Ansprechstelle mit beschleunigter Weiterleitung.“ Doch bereits bei der Frage, was das in der Praxis bedeuten soll, driften die Antworten auseinander.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) etwa sieht die Vorteile eines solchen Systems vor allem für ältere, multimorbide Menschen – und will das Modell bevorzugt „ab 50“ zur Anwendung bringen, so der KBV-Vorsitzende Andreas Gassen. Für jüngere, mobile Patient:innen, so argumentiert er, sei es kaum vermittelbar, bei sportbedingten oder akuten Beschwerden zunächst eine hausärztliche Schleife zu durchlaufen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Steuerungsanspruch und Alltagslogik wird auch im von der KBV vorgelegten Konzept sichtbar: Es bejaht die Primärarztsteuerung prinzipiell, öffnet aber an etlichen Stellen Schlupflöcher – für bestimmte Fachrichtungen, für spezielle Versorgungsanlässe, für definierte Altersgruppen. Kritiker wie der Hausärzteverband sprechen bereits vom „Primärarztsystem nach dem Prinzip Schweizer Käse“.

Deutlich wohlwollender äußert sich Hausärzt:innen-Verbandsvorsitzende Nicola Buhlinger-Göpfarth. Sie sieht das System als realistisch umsetzbar – sogar ohne strukturelle Überforderung der Praxen. Ihrer Einschätzung zufolge wären zwei bis fünf zusätzliche Patient:innenkontakte pro Tag je Hausarztpraxis zu erwarten, was unter Einbeziehung bereits bestehender hausärztlicher Kontakte im Quartal rechnerisch tragbar erscheine. Sie spricht vom „Versprechen“ der Hausärzteschaft, diese Aufgabe zu übernehmen – und verweist dabei auf Berechnungen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), das 21 Millionen gesetzlich Versicherte bereits heute als „de-facto-Teilnehmende“ an einem Primärarztmodell zählt.

Doch ob diese Logik trägt, hängt maßgeblich davon ab, wie konkret das Primärarztsystem ausgestaltet wird – und wie es sich zu den Interessen der Fachärzt:innen verhält. Der Spitzenverband Fachärztinnen und Fachärzte Deutschlands (SpiFa) etwa bringt sich mit einem eigenen Positionspapier in die Debatte ein. Sein Vorsitzender Dirk Heinrich warnt vor einem „hausärztlichen Alleinvertretungsanspruch“, der weder den Versorgungsrealitäten noch der Kapazitätsstruktur gerecht werde. Das Primärarztsystem dürfe nicht zur Einbahnstraße werden, in der die Facharztkompetenz hinter Überweisungsschranken verschwinde. Die Vorstellung einer pauschalen Überweisungspflicht sei – so Heinrich – aus fachärztlicher und auch aus patientenlogistischer Perspektive ein „Super-GAU“.

Differenzierter gibt sich die Bundesärztekammer: Präsident Klaus Reinhardt unterstützt das Vorhaben grundsätzlich, fordert aber die frühzeitige, kontinuierliche Einbindung aller Akteure – von der Konzeption bis zur Implementierung. Die Bundesärztekammer hat dazu ein eigenes Konzeptpapier zur Versorgungskoordination vorgelegt, das eine abgestufte Patientenlenkung vorsieht – mit digitalen Elementen, ärztlicher Einschätzung und struktureller Rückbindung an regionale Versorgungspfade.

Als zentrales Element sieht die Koalition die Verbindlichkeit des Primärarztprinzips bei gleichzeitiger Sicherung der Arztwahlfreiheit. Es soll keine strikte Gatekeeper-Logik wie in manchen HMO-Systemen angestrebt werden. Doch die Richtung ist klar: Kein direkter Facharztbesuch ohne vorgelagerte Beurteilung – es sei denn, es handelt sich um Ausnahmen wie Gynäkologie oder Augenheilkunde. Für chronisch Erkrankte sollen Sonderregelungen geschaffen werden, etwa in Form von Jahresüberweisungen oder der Einbindung fachärztlicher Primärversorger. Und: Die 116117 als digitale und telefonische Steuerungseinheit soll zum zentralen Vermittler mutieren – inklusive zeitlicher Verbindlichkeit (Termingarantie) und telemedizinisch gestützter Ersteinschätzung.

Hier aber liegt der nächste Knackpunkt: Die Rufnummer 116117 und das dahinterliegende Terminservicemodell gelten vielen in der Versorgungspraxis als bürokratisch, inkonsequent und wenig patientenorientiert. Gerade in ländlichen Regionen fehle es an Umsetzungsstrukturen – sowohl digital als auch personell. Der Anspruch einer flächendeckenden Steuerung per App oder Callcenter wirkt unter diesen Voraussetzungen eher technokratisch als tragfähig.

Letztlich steht das Primärarztsystem als Projekt an einem Scheidepunkt zwischen Versorgungsideal und Strukturrealität. Für Gesundheitsministerin Warken wird entscheidend sein, wie viele der Beteiligten sie noch von einem kohärenten Modell überzeugen kann – und welche Interessen in das künftige Gesetz hineinformuliert werden. Die Debatte um das Primärarztsystem zeigt exemplarisch, wie tief verzweigt und konfliktanfällig Steuerungsreformen im Gesundheitswesen sind. Doch sie zeigt auch: Ohne zentrale Koordination, klare Kommunikationswege und verbindliche Standards bleibt die Hoffnung auf kürzere Wartezeiten und effizientere Versorgung ein Papierversprechen. Dass Apotheken dabei bislang nur am Rande mitgedacht werden, dürfte sich spätestens dann ändern, wenn es um die Praxisumsetzung geht – etwa bei Medikationsmanagement, Chronikerprogrammen oder Terminverfügbarkeiten für pharmazeutische Dienstleistungen.

 

Steuereinnahmen steigen, Mittelstand kämpft, Wachstumsprognosen bröckeln

Wie fiskalische Rekorde die Realität verzerren, kleine Unternehmen unter Druck geraten und das Wirtschaftswachstum seine Substanz verliert

Deutschlands finanz- und wirtschaftspolitisches Tableau wirkt auf den ersten Blick stabiler denn je: Rekordsteuereinnahmen, solide Haushaltsführung, hohe Exportquoten. Doch der Schein trügt. Hinter der glänzenden Oberfläche bröckelt ein Fundament, das von strukturellen Ungleichgewichten, veralteter Wachstumslogik und einem überforderten Mittelstand geprägt ist. Während der Staat Einnahmen in historischem Umfang verbucht, geraten zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen unter zunehmenden Druck – durch Lohnkosten, Energiepreise, bürokratische Hürden und eine Kreditklemme, die kaum mediale Aufmerksamkeit erhält. Diese gegenläufigen Entwicklungen offenbaren ein Auseinanderdriften, das nicht nur ökonomische Tragweite hat, sondern auch die gesellschaftliche Balance herausfordert.

Laut Monatsbericht des Bundesfinanzministeriums vom Mai 2025 verzeichnet der Staat bis einschließlich April Steuereinnahmen in Höhe von über 280 Milliarden Euro – ein Plus von knapp 7 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Vor allem Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer trugen überdurchschnittlich zur Entwicklung bei, was auf temporäre Sonderfaktoren wie gestiegene Unternehmensgewinne einzelner Konzerne, aber auch auf eine robuste Binnenkonjunktur im Dienstleistungsbereich verweist. Doch diese Zahlen zeichnen ein verzerrtes Bild. Denn während einzelne Wachstumsinseln boomen, kollabieren tragende Wirtschaftssegmente: Im verarbeitenden Gewerbe meldete das Statistische Bundesamt zuletzt einen Rückgang der Auftragseingänge um 4,2 Prozent, bei gleichzeitig sinkender Produktionskapazität in energieintensiven Branchen.

Der Mittelstand, lange Zeit als Rückgrat der deutschen Wirtschaft gepriesen, ringt vielerorts um seine Existenz. Laut KfW-Mittelstandspanel klagen über 38 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen über eingeschränkte Finanzierungsbedingungen – ein Anstieg um zwölf Prozentpunkte gegenüber 2022. Die Ursachen reichen von restriktiver Kreditvergabe durch Banken über gestiegene Eigenkapitalanforderungen bis hin zu konjunktureller Unsicherheit. Besonders betroffen sind Betriebe in strukturschwachen Regionen, die nicht nur mit fehlender Infrastruktur, sondern auch mit schwindender Nachfrage und Fachkräftemangel kämpfen. Förderinstrumente wie das ERP-Sonderprogramm oder das KfW-Kreditprogramm „Wachstum“ wirken hier kaum noch kompensierend – viele Antragsteller scheitern an administrativen Hürden oder fehlender Beratung.

Parallel zur wirtschaftlichen Fragmentierung zeigt sich eine strukturelle Entkopplung von fiskalischer Steuerkraft und realwirtschaftlicher Entwicklung. Während Bund, Länder und Kommunen über sogenannte Steuermehreinnahmen verfügen, geraten sozialstaatliche Leistungen, Bildungsinvestitionen und kommunale Daseinsvorsorge zunehmend unter Spardruck. Das Paradox: Die Politik feiert Haushaltsdisziplin und schwarze Null, während in Pflegeheimen, Schulen und Gesundheitsämtern der Rotstift dominiert. Die im Koalitionsvertrag angekündigte Investitionsoffensive – insbesondere für Digitalisierung, Energiewende und Infrastruktur – bleibt weiterhin unterfinanziert oder versandet im Zuständigkeitswirrwarr der Ressorts.

Hinzu kommt eine veraltete Definition von Wachstum. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wächst zwar – zuletzt um 0,2 Prozent im Quartalsvergleich –, aber dieser Zuwachs speist sich vor allem aus preistreibenden Konsumeffekten, staatlichen Ausgaben und statistischen Einmaleffekten. Die produktivitätsgetriebene Wachstumsbasis hingegen erodiert. Innovationsausgaben stagnieren, private Forschungsbudgets sinken, Start-ups melden Rekordinsolvenzen. Gleichzeitig schrumpft der industrielle Anteil am BIP weiter – ein Trend, der angesichts globaler Verschiebungen zu Lasten Europas dramatische Konsequenzen haben könnte. Selbst der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung warnt in seinem Frühjahrsgutachten 2025 vor einem „gefährlichen Gleichgewicht“, das Stabilität nur vortäusche.

Gerade in der Diskussion um den wirtschaftlichen Kurs zeigt sich ein wachsendes Missverhältnis zwischen makroökonomischer Bilanzierung und mikroökonomischer Realität. Während das Bundesfinanzministerium auf fiskalische Resilienz verweist und die Ampelkoalition Konsolidierung als Gebot der Stunde preist, verlieren mittelständische Apotheken, Handwerksbetriebe und Familienunternehmen zunehmend ihre betriebswirtschaftliche Kalkulationsbasis. Steigende Lohnabschlüsse und Indexmieten treffen auf rückläufige Konsumlaune, unplanbare Energiepreise auf langwierige Genehmigungsverfahren. Der wirtschaftspolitische Diskurs indes bleibt auf Exportüberschüsse, Schuldenbremse und digitale Chancen fokussiert – und blendet die realen Belastungslagen aus.

Auch auf internationaler Bühne droht Deutschland ins Hintertreffen zu geraten. Während die USA mit massiven Investitionspaketen – etwa durch den „Inflation Reduction Act“ – Industrieansiedlungen und Energieunabhängigkeit fördern, ringt Deutschland noch immer mit dem Planungsrecht für Windräder und Stromtrassen. Chinas wachstumsorientierte Industriepolitik, gekoppelt mit staatlich gestütztem Technologietransfer, setzt europäische Wettbewerber zusätzlich unter Druck. Die Folge: Eine schleichende Deindustrialisierung, die kaum thematisiert wird, aber langfristig das Wohlstandsmodell in Frage stellt.

Fazit: Die aktuellen Finanz- und Wirtschaftsdaten präsentieren eine Scheinstabilität, deren innerer Widerspruch systemisch ist. Während der Staat fiskalisch gewinnt, verliert die produktive Basis an Substanz. Die Gefahr liegt nicht im Haushaltsloch, sondern in der sozialen Aushöhlung durch eine Politik, die Erfolge bilanziert, aber Belastungen ignoriert. Eine Kurskorrektur ist unumgänglich – nicht um Wachstum zu erzeugen, sondern um es tragfähig zu gestalten.

 

Telepharmazie braucht Klarheit, Apotheken brauchen Sicherheit, Versorgung braucht Strategie

Warum der Begriff neu definiert werden muss, welche Rolle Präsenz und Vernetzung spielen und wie die Politik Rahmenbedingungen schafft

Während Begriffe wie Telemedizin oder Videosprechstunde längst in der Gesundheitsversorgung verankert sind, bleibt „Telepharmazie“ in Deutschland ein politisches wie praktisches Vexierbild. Die Unionsgesundheitspolitikerin Simone Borchardt bringt es auf den Punkt, wenn sie von einer „klaren Arbeitsgrundlage“ spricht – eine Aussage, die mehr ist als ein Versprechen. Sie ist ein Eingeständnis, dass Apotheken, Patientinnen und Patienten sowie politische Akteure bislang mit einem Begriff operieren, dessen Konturen verschwimmen. Was zählt dazu? Wer darf es leisten? Und wie wird es vergütet? Es sind diese Grundfragen, die nach Jahren der Debatte noch immer nicht abschließend beantwortet sind – ein Umstand, der digitale Versorgung behindert, statt sie zu fördern.

Gerade die strukturschwachen Regionen, in denen Apothekensterben und Ärztemangel ein existenzbedrohliches Tandem bilden, könnten von digital vernetzter Beratung und Betreuung profitieren. Doch das gegenwärtige Verständnis von Telepharmazie changiert zwischen rechtlicher Unschärfe, technischer Vision und ideologischer Bruchstelle. Der gescheiterte Entwurf zum Apothekenreformgesetz (ApoRG) der Ampelkoalition brachte das Dilemma auf den Punkt: Er definierte Telepharmazie als Echtzeit-Videoberatung durch PTA, wenn keine Apothekerin vor Ort ist – eine Konstruktion, die große Teile der Berufsgruppe als „Apotheke light“ und damit als systemische Degradierung empfanden. Die CDU/CSU-Fraktion hat diesen Plänen nun eine klare Absage erteilt. Für Borchardt steht fest: Telepharmazie darf kein Vehikel zur Aushöhlung der Vor-Ort-Apotheken werden, sondern muss im Gegenteil deren Rolle stärken.

Die politische Rhetorik verspricht viel. Telepharmazie soll Versorgung flächendeckend sichern, Apotheken digital stärken und Patienten neue Wege der Betreuung öffnen. Doch damit aus diesen Versprechen konkrete Praxis wird, braucht es mehr als ein Schlagwort. Der Begriff selbst ist bislang weder in der Apothekenbetriebsordnung (ApoBetrO) noch im Sozialgesetzbuch abschließend verankert. Die wenigen Formulierungen, die sich im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung finden, sprechen allgemein von einer Verbesserung der Rahmenbedingungen und Honorierung. Was das konkret bedeutet, bleibt offen. Der Gesetzgeber bewegt sich hier auf juristisch dünnem Eis – mit der Folge, dass rechtliche Verbindlichkeit fehlt, ebenso wie investitionsfähige Planungssicherheit für Apotheken.

Dabei haben Apothekerorganisationen längst begonnen, eigene Leitlinien zu formulieren. Die Apothekerkammer Nordrhein (AKNR) und die Bayerische Landesapothekerkammer (BLAK) etwa entwickelten bereits 2023 konkrete Definitionen, was unter telepharmazeutischer Tätigkeit zu verstehen sei – darunter nicht nur die klassische Videoberatung, sondern auch Medikationsanalysen, Interaktionschecks über ePA-Schnittstellen und die sektorübergreifende Abstimmung mit Pflege und ärztlichem Personal über sichere Plattformen. Diese systemische Definition geht über das enge Verständnis des ApoRG-Entwurfs hinaus und könnte als Grundlage für eine breiter verstandene Digitalisierung dienen, die nicht delegiert, sondern integriert.

Genau das ist es, was Borchardt mit ihrer Forderung nach einer „ganzheitlichen Strategie“ meint. Telepharmazie dürfe nicht gleichgesetzt werden mit dem Versandhandel, wie es DocMorris-CEO Walter Hess jüngst getan hatte. Vielmehr müsse der Versorgungsbegriff in der Telepharmazie auf Präsenz, Qualifikation und Interaktion beruhen. Digitalisierte Pharmazie ist keine technische Spielart des E-Commerce, sondern eine Erweiterung des pharmazeutischen Kernauftrags durch vernetzte Mittel. CSU-Gesundheitspolitiker Stephan Pilsinger präzisiert: Auch bei digitaler Beratung muss die approbierte Fachkraft physisch in der Apotheke anwesend sein, während der Patient digital zugeschaltet wird – nicht umgekehrt.

Was hier deutlich wird: Telepharmazie ist keine Antwort auf Personalnot, sondern ein neues Instrument, das Kompetenz, Verantwortung und Qualität verbindet. Die CDU/CSU macht damit deutlich, dass es ihr nicht um eine Liberalisierung der Apothekenstruktur geht, sondern um eine Modernisierung der Versorgungsqualität. Die telepharmazeutische Strategie muss dazu beitragen, den Rückzug aus der Fläche zu stoppen, Versorgungslücken zu schließen und regionale Ungleichgewichte auszugleichen. Dabei ist der Schlüssel die Kombination aus digitalen Tools und lokaler Verankerung.

Zentrale Elemente sind künftig die Nutzung der ePA zur Medikationssicherheit, standardisierte digitale Schnittstellen zu Haus- und Fachärzten, telepharmazeutisch gestützte pDL-Angebote, aber auch eine leistungsabhängige Vergütung, die Apotheken mit hoher digitaler Einsatzbereitschaft belohnt. Dass dies nicht ohne einheitliche gesetzliche Rahmenbedingungen geht, ist offensichtlich – doch bislang fehlt der Referentenentwurf. Dabei ist die rechtliche Einhegung längst überfällig: Nur wenn klar geregelt ist, wer was leisten darf, wann digitale Beratung als gleichwertig gilt und welche Systeme zertifiziert eingesetzt werden dürfen, entsteht das notwendige Vertrauen auf Seiten der Leistungserbringer und der Patientinnen und Patienten.

Ein integrativer Ansatz, der die Sektorengrenzen zwischen Ärzten, Apotheken und Pflege aufbricht, ist laut Borchardt unerlässlich. Das Ziel sei mehr als digitale Technik: Es geht um Patientenorientierung, Sicherheit und Effizienz. Doch der politische Diskurs läuft Gefahr, Telepharmazie zu einer bloßen Überschrift zu reduzieren – ein Trend, dem nun die unionsgeführte Koalition mit Struktur und Normierung begegnen will. Die angekündigten Gesetzesinitiativen könnten damit nicht nur einen klareren Rahmen schaffen, sondern auch eine strategische Weichenstellung für die Zukunft der Offizin-Apotheke bedeuten. Denn diese wird nicht durch Stillstand erhalten, sondern durch die Fähigkeit, sich digital weiterzuentwickeln – ohne ihr Fundament zu verlieren.

 

Von Staub zu Stein, von Krebs zu Kontrolle, von Natur zu Code

Wie Biotech-Start-ups im Münchner IZB globale Probleme lösen, neue Therapien entwickeln und synthetische Systeme für die Medizin erschaffen

In einem Flachbau nahe der Münchner Stadtgrenze, umgeben von Grünflächen, Labors und W-LAN-fähigen Denkzellen, wächst nicht nur technologische Hoffnung, sondern auch ein fundamentales Versprechen an die Gesellschaft: Lösungen für Probleme, die zu groß erscheinen für klassische Industrie, zu riskant für konservative Pharma und zu individuell für politische Routinen. Im Innovations- und Gründerzentrum Biotechnologie (IZB) haben sich rund 40 Unternehmen versammelt, die an nichts Geringerem arbeiten als an neuen Therapien gegen Krebs, an Antworten auf das Antibiotika-Zeitalter und an biotechnologischen Substitutionen für bisher nicht lösbare Umweltprobleme. In dieser dicht verdichteten Atmosphäre zwischen Laborbank, Risikoanalyse und Zukunftssehnsucht formt sich eine neue Art von Ökosystem: nicht nur wirtschaftlich, sondern medizinisch, molekular, mikrobiologisch.

Der Charme dieses Ortes liegt im Kontrast: Während draußen Muldenkipper in südafrikanischen Minen Staubwolken verursachen, entwickeln drinnen die Mitarbeiter von Bind-X biologische Mittel, die diesen Staub in Gestein verwandeln. Während Tubulis und Eisbach Bio versuchen, Krebszellen selektiv zu eliminieren, ohne das umliegende Gewebe zu zerstören, erstellt Invitris künstliche Viren, um bakterielle Resistenzen auszuschalten, und SciRhom nutzt ein körpereigenes Protein, um Autoimmunerkrankungen an der Quelle zu unterbrechen. Die strategische Gemeinsamkeit: radikale Innovation in extrem engen biochemischen Systemgrenzen – und der Wille, die Natur nicht zu imitieren, sondern umzuprogrammieren.

Bind-X, das 2017 gegründete Unternehmen für „biologische Bodenverfestigung“, hat ein Verfahren etabliert, das mikrobiologische Prozesse in technische Staubbindung übersetzt. Während Wasser als klassische Lösung im Bergbau teuer, ineffizient und mit wachsendem Klimadruck nicht nachhaltig ist, ersetzt Bind-X die permanente Spritzroutine durch eine mikrobielle Technologie. Dabei entsteht aus dem Staub durch Biozementierung eine feste Kruste, die je nach Niederschlag monatelang hält – wasserdurchlässig, umweltverträglich, produktivitätssteigernd. Was auf den ersten Blick wie ein Nischeneinsatz wirkt, ist in Wahrheit ein Musterbeispiel für technologische Transferintelligenz: Die Methode lässt sich im Straßenbau, in der Landwirtschaft und bei logistischen Infrastrukturmaßnahmen ebenso einsetzen – ein Paradefall für sektorübergreifende Biotech-Anwendung.

In einem anderen Labortrakt arbeitet Tubulis an der Achillesferse der modernen Onkologie: zielgenaue, nebenwirkungsarme Tumortherapien. Die Kombination aus Antikörpern und Wirkstoffen, sogenannte Antikörper-Wirkstoff-Konjugate (ADC), ist dabei mehr als ein technisches Upgrade – sie bedeutet einen Paradigmenwechsel in der Krebstherapie. Die Idee, zellselektiv vorzugehen, basiert auf einem molekularen „Adresssystem“, das die Wirksubstanz präzise an den Tumor bindet. Schumacher, CEO von Tubulis, erklärt, dass man so nicht nur toxische Schäden in gesundem Gewebe reduziert, sondern auch höhere Dosen über längere Zeiträume verabreichen kann – eine Form kontrollierter Aggression gegen den Tumor, die ihn weder über- noch unterfordert. Drei Wirkstoffe befinden sich bereits in klinischen Studien – ein seltener Fortschritt in einem Markt, in dem viele Kandidaten an den Grenzen zwischen Wirkung, Toxizität und Zulassung scheitern.

Eisbach Bio denkt diesen Ansatz weiter, aber anders: Nicht über Zielstrukturen auf der Zelloberfläche, sondern über die genetische Schwachstelle im Inneren der Krebszelle. Der Eisbach-Wirkstoff nutzt eine Strategie, die als „synthetische Letalität“ bekannt ist: Nur wenn eine Tumorzelle eine bestimmte Mutation aufweist, greift der Wirkstoff – in gesunden Zellen bleibt er wirkungslos. Damit öffnet sich die Tür zu einer Präzisionsmedizin, die nicht auf allgemeine Chemie, sondern auf spezifische Genetik setzt. Und sie bleibt dabei oral verfügbar – in Tablettenform. Das ist nicht nur ein logistischer Vorteil, sondern auch ein Signal in Richtung patientenzentrierter Onkologie: Therapie zuhause statt Klinikregime. Dass Eisbach seine Technologie für Kombinationstherapien geöffnet hat, zeigt das Potenzial, toxikologische Sperrzonen endlich zu überwinden.

Am weitesten in die molekulare Zukunft geht jedoch Invitris. Das junge Unternehmen simuliert in-vitro, was Viren und Bakterien in der Natur tun – und stellt dabei synthetische Phagen her, also Viren, die gezielt Bakterien befallen. Anders als klassische Phagentherapien, die auf natürliche, biologische Prozesse in Bakterienkulturen angewiesen sind, baut Invitris eine vollsynthetische Produktionsumgebung. Damit entfällt nicht nur der aufwendige Sicherheitsrahmen bei pathogenen Ausgangsorganismen – es entsteht auch ein systemischer Vorteil: Die synthetischen Phagen lassen sich gezielt modifizieren, kombinieren, anpassen. In einer Ära zunehmender Antibiotikaresistenzen ist das nicht nur innovativ, sondern möglicherweise überlebensentscheidend.

Dass Invitris seine Plattform auch für Nanobodies und Membranproteine nutzbar macht, zeigt den Anspruch: nicht nur Einzelprodukte, sondern eine Infrastruktur für biotechnologische Individualmedizin. Und zugleich ein Appell an die Politik, das regulatorische Korsett nicht länger als Innovationsschutz zu verkaufen, sondern als Wachstumsbremse zu erkennen.

Mit SciRhom schließlich rundet sich das Spektrum der IZB-Firmen auf eine klinisch höchst relevante Patientengruppe: Autoimmunerkrankte. Der Angriffspunkt ist ein körpereigenes Protein, das in einer Entzündungskaskade eine Art „Master-Schalter“ darstellt. Der Antikörper von SciRhom blockiert diesen Schalter und unterbricht damit die gesamte Eskalationslinie. Erste präklinische Ergebnisse zeigen eine überdurchschnittliche Wirkung – was bei Patienten mit Rheuma oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen Hoffnung gibt, die von bisherigen Therapien oft nur bruchstückhaft profitieren. Seit Oktober 2024 läuft eine klinische Studie.

Was diese fünf Unternehmen eint, ist nicht die Branche, nicht der Wirkstofftyp und nicht das Zielorgan. Es ist der Wille, das technisch scheinbar Unmögliche systematisch zu durchbrechen: Natur zu imitieren, um sie zu verändern. Staub wird zu Stein, Phagen zu synthetischen Codebausteinen, Tumorzellen zu präzisen Zielscheiben. Das IZB ist damit kein Biotech-Cluster im klassischen Sinn. Es ist ein Labor für Lösungslogiken – dort, wo Risiko nicht Risiko ist, sondern die einzig valide Eintrittskarte ins 21. Jahrhundert der Medizin.

 

Keine Grauzonen im Versorgungssystem, keine Aushöhlung des Apothekenrechts, kein Rückfall in alte Besitzdebatten

Warum der BVVA klare Sektorengrenzen fordert, die GmbH-Debatte steuert und der ADKA-Vorstoß zum Lackmustest für die Versorgung wird

Die Zeiten des Schweigens sind vorbei. Auf der diesjährigen Jahrestagung des Bundesverbands der Versorgungsapotheker (BVVA) wurde nicht nur Rückblick gehalten, sondern strategisch vorgebaut – mit unmissverständlicher Klarheit und programmatischem Gestaltungsanspruch. Der Verband, der Versorgungsapotheken bundesweit eine Stimme gibt, stellt sich nach dem Scheitern der umstrittenen Apothekenreform von Karl Lauterbach neu auf. Kein Strukturwandel um jeden Preis, keine schleichende Erosion sektorspezifischer Zuständigkeiten, keine regulatorischen Hintertüren für Konzerne mit Klinikapotheken – so lautet die zentrale Botschaft der Vorsitzenden Heike Gnekow. Doch während Impfen, pharmazeutische Dienstleistungen (pDL) und Rechtssicherheit in Spezialversorgungen Hoffnung tragen, wirft der Vorstoß der ADKA zur Ausweitung stationärer Zuständigkeit in den ambulanten Bereich lange Schatten. Der Apothekenmarkt steht an einer Wegscheide – und der BVVA erhebt Anspruch, Richtung und Maß zu setzen.

Schon das Grußwort von Schamim Eckert, Vizepräsidentin der Landesapothekerkammer Hessen und BVVA-Mitglied, war programmatisch aufgeladen: Die Apothekerschaft habe sich in den letzten zwei Jahren politisch zurückgekämpft, Gesprächsformate mit Entscheidungsträgern geöffnet und Themen platziert. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sei erstmals kein formelhaftes Lippenbekenntnis, sondern eine tragfähige Grundlage. Doch diese müsse nun mit Taten unterfüttert werden. Eckert verwies dabei auf das anstehende Urteil des Bundesgerichtshofs zur Rx-Preisbindung – ein juristisches Damoklesschwert mit politischem Sprengpotenzial. Sollte der BGH im Fall von 2012 eine Schwächung der Preisbindung durchwinken, sei das Rx-Versandverbot erneut auf der Agenda. Der BVVA wolle vorbereitet sein, keine Rolle rückwärts, sondern Reaktionsbereitschaft.

In ihrer berufspolitischen Bilanz legte Vorsitzende Heike Gnekow sodann offen, wie ernst der Verband seine Verantwortung als sektorpolitischer Akteur nimmt. Die Ampelreform sei gescheitert – zum Glück für die Apothekerschaft, aber eben auch zum Preis eines politischen Vakuums. Dieses nutze der BVVA nun offensiv, um Themen wie die Apotheken-GmbH, eine bessere Verzahnung mit Ärzten in palliativen und substitutionsgestützten Versorgungsformen sowie die strukturelle Weiterentwicklung des Systems nach vorn zu bringen. Der Verband sei mit vielen Gesundheitspolitikerinnen und -politikern im Gespräch, darunter die neuen Koalitionsarchitekten Nina Warken, Tino Sorge und Georg Kippels. Die GmbH-Debatte – einst heikel, inzwischen gereift – wird wieder aufgenommen. Nicht als Hebel zur Marktliberalisierung, sondern als präzise Antwort auf die Versorgungsrealitäten moderner Apothekenbetriebe.

Doch das strukturpolitische Seismogramm schlägt an anderer Stelle heftiger aus: Der Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) strebt laut BVVA eine Ausweitung der stationären Apothekenzuständigkeit auf ambulante Einrichtungen an. Hintergrund ist § 14 Abs. 7 Apothekengesetz – bislang begrenzt auf stationäre Versorgung –, den ADKA nun auf alle ambulanten Subeinheiten eines Klinikträgers anwenden will. Hospize, Heime, SAPV-Dienste, MVZ – allesamt sollen künftig von Klinikapotheken versorgt werden dürfen. Und das nicht nur mit Zytostatika, sondern mit dem gesamten AM-Spektrum. Für den BVVA ein Angriff auf die Grundfeste der Apothekenordnung. Wenn Helios, Asklepios oder Sana – alles AGs mit Kliniknetzwerken – Millionenumsätze im ambulanten Arzneimittelmarkt generieren, sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch andere Aktiengesellschaften den Betrieb öffentlicher Apotheken einfordern. Das Fremd- und Mehrbesitzverbot stünde zur Disposition. Der BVVA will dem entschieden entgegentreten – mit Argumenten, Daten und politischer Präsenz.

Auch in anderen Versorgungsbereichen ist die Agenda des Verbands klar abgesteckt. In der Palliativversorgung fordert der BVVA ein rechtsfestes Kooperationsmodell zwischen Ärzten und Apotheken – gerade weil hier die medikamentöse Versorgung häufig unter zeitkritischen Bedingungen stattfindet. In der Substitutionsversorgung wurden durch Mustervereinbarungen zwischen DAV und AOK bereits erste Fortschritte erzielt, auch finanziell. Doch auch hier fehlen gesetzliche Sicherungen, die der alltäglichen Praxis standhalten. Der Verband setzt auf gezielte Rahmengesetzgebung statt punktueller Kompromisse.

Besonderes Augenmerk gilt weiterhin der Heimversorgung. Zwei Themenkomplexe sind hier prägend: Erstens die Chargenübermittlung im Zusammenhang mit patientenindividueller Verblisterung – bislang ein Paradebeispiel für absurde Bürokratielogik. Nach monatelangen Diskussionen konnte der BVVA gemeinsam mit dem BPAV und dem DAV eine Vereinbarung mit der AOK Rheinland-Hamburg erreichen, die eine nachträgliche Chargenmeldung im Schadensfall erlaubt. Eine Blaupause für weitere Regelungen sei damit geschaffen. Zweitens die E-Rezept-Übermittlung – ein Thema, das der BVVA juristisch für unproblematisch hält, das aber aus Sicht der Abda bislang zu wenig konkretisiert wurde. Auch hier wünscht sich der Verband Klarstellung im Gesetz – nicht aus Zweifel, sondern zur Vermeidung künftiger Blockaden.

Die zentralen Impulse für die nächste Etappe der Versorgungspolitik liegen laut Gnekow im intelligenten Ausbau bestehender Strukturen – nicht in der Einführung neuer, systemfremder Modelle. Der pDL-Topf sei noch immer gut gefüllt, werde aber nicht konsequent ausgeschöpft. Statt ihn für Notfallfinanzierungen zu zweckentfremden, müsse er in die Fläche gebracht werden. Dasselbe gelte für das Impfen: Der BVVA ruft erneut dazu auf, Apotheken stärker in Impfkampagnen einzubinden – fachlich, strukturell, mit Begeisterung. Die „Lange Nacht des Impfens“ am 8. Oktober sei ein Symbol für Versorgungsstolz – aber auch für Selbstbehauptung im System.

In Summe lässt sich feststellen: Der BVVA nimmt Kurs auf einen Systemausbau ohne Aushöhlung. Impfen, pDL, Verblisterung, Heimversorgung – das sind nicht mehr nur ergänzende Nischenangebote, sondern tragende Säulen. Mit der Debatte um die Apotheken-GmbH und der klaren Ablehnung einer sektorenübergreifenden Versorgung durch Klinikapotheken positioniert sich der Verband strategisch scharf. Es geht um Versorgungssicherheit – aber auch um Systemgrenzen. Wer sie zu leichtfertig verschiebt, gefährdet nicht nur das Apothekenwesen, sondern auch das Vertrauen der Patientinnen und Patienten. Und genau das – Vertrauen – bleibt der zentrale Wert jeder Versorgung.

 

Arzneiausgaben steigen moderat, Verordnungen gehen zurück, RSV-Impfstoffe treiben Impfbudget

Warum die GKV im Frühjahr 2025 mehr zahlt, weniger liefert und neue Impfempfehlungen zum Kostentreiber werden

Die Arzneimittelausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) steigen weiter – jedoch langsamer als die öffentliche Debatte um Kostenexplosionen vermuten ließe. Im April 2025 lagen die GKV-Ausgaben für Arzneimittel bei 4,71 Milliarden Euro – ein Anstieg von lediglich 1,5 Prozent im Vergleich zum April 2024. Dieser Zuwachs fällt damit deutlich moderater aus als viele der Preissteigerungen, die in den vergangenen Monaten etwa bei Krebsmedikamenten, seltenen Therapien oder GLP-1-Rezeptoragonisten öffentlich diskutiert wurden. Doch dieser leichte Anstieg kaschiert tieferliegende Verschiebungen: Die Menge der abgegebenen Packungen sank zeitgleich um fast 6 Prozent – eine ungewöhnlich starke Dissonanz zwischen Geldfluss und Mengenentwicklung.

Dass die Packungszahlen um 5,9 Prozent und die eingelösten Rezepte um 3,3 Prozent zurückgingen, hat mehrere Ursachen. Zum einen verweist der Deutsche Apothekerverband (DAV) auf einen Kalendereffekt: Der April 2024 hatte einen Arbeitstag mehr – bei Monatsvergleichen ein gewichtiger Faktor. Doch wichtiger ist ein zweiter Aspekt: Im April 2024 war nach Angaben des DAV ein auffälliges Mengenwachstum von 15,9 Prozent zu beobachten – das nun gewissermaßen in eine Normalisierung übergeht. Insofern ist die Entwicklung im April 2025 zwar rückläufig, aber nicht alarmierend.

Betrachtet man das gesamte erste Drittel des Jahres 2025, so ergibt sich ein komplexeres Bild. Die GKV-Ausgaben für Arzneimittel stiegen in diesem Zeitraum um 3,8 Prozent – was deutlich über dem allgemeinen Preisniveau liegt. Gleichzeitig sank die Zahl der abgegebenen Packungen um 1,8 Prozent. Das heißt: Die Kassen geben mehr Geld aus – für weniger Ware. Die Zahl der eingelösten Rezepte hingegen legte um 2,1 Prozent zu. Diese Gegenläufigkeit erklärt sich auch durch die Umstellung auf das E-Rezept, bei dem für jede Verordnung ein eigenes Dokument erstellt werden muss – im Unterschied zum Muster 16, das Mehrfachverordnungen auf einem Formular ermöglichte. Dadurch steigen die Rezeptzahlen trotz sinkender Arzneimittelmengen.

Bemerkenswert ist, dass in all diesen Zahlen die Einsparungen aus Rabattverträgen noch nicht berücksichtigt sind. Im Jahr 2024 summierten sich diese laut vorläufiger DAV-Berechnung auf 6,2 Milliarden Euro – ein Plus von sechs Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damit stellen Rabattverträge weiterhin einen der zentralen Kostendämpfer des Systems dar. Ohne sie würde der moderate Anstieg der Arzneimittelausgaben deutlich anders aussehen – möglicherweise sogar als realer Ausgabenrückgang erscheinen.

Ein weiterer Blickpunkt: die Impfstoffe. Hier steigen die Ausgaben im April 2025 gegenüber dem Vorjahr um 8,1 Prozent auf knapp 205 Millionen Euro. Über das erste Drittel des Jahres gesehen ergibt sich sogar ein Zuwachs von 14,7 Prozent. Haupttreiber ist laut DAV die neue Empfehlung der Ständigen Impfkommission (STIKO) zur Impfung gegen das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) bei Menschen über 60 Jahren. Seit August 2024 ist diese Altersgruppe impfberechtigt – ein Umstand, der das Impfstoffbudget nun spürbar belastet.

Diese Entwicklung wirft Fragen auf: Wenn Packungsmengen sinken, Rezepte aber steigen, und die Ausgaben dennoch moderat zulegen – woran liegt das genau? Es zeigt sich: Das GKV-System hat es zunehmend mit einem preis- und strukturgetriebenen Wandel zu tun, bei dem weniger der Masseneffekt und mehr der gezielte Einsatz teurerer Arzneien dominiert. Darunter fallen etwa personalisierte Krebsmedikamente, monoklonale Antikörper oder eben neue Impfstoffe wie die gegen RSV.

Im Hintergrund steht eine strukturelle Dynamik: Die demografische Alterung der Bevölkerung, der wachsende Bedarf an chronischer Versorgung und der zunehmende Einsatz von Biologika verändern die Verteilung der GKV-Ausgaben grundlegend. Der lineare Zusammenhang zwischen Packungszahl und Gesamtausgaben ist längst durchbrochen. Das bedeutet auch: Klassische Steuerungsinstrumente wie Mengendeckelung oder Rabattverträge stoßen an ihre Grenzen, wenn die Preise einzelner Medikamente sprunghaft steigen.

Hinzu kommt, dass das E-Rezept den Betriebsalltag der Apotheken verändert – nicht nur organisatorisch, sondern auch wirtschaftlich. Da jede einzelne Verordnung gesondert ausgestellt wird, steigen die Abgabekosten pro Rezept. Das betrifft auch die Kassensysteme, die Verarbeitungsprozesse und die Retaxationsrisiken. Gleichzeitig bleiben viele strukturelle Fragen ungeklärt: Wie werden chronische Erkrankungen künftig versorgt, wenn Rabattverträge häufiger zu Lieferengpässen führen? Welche Wirkung entfaltet der wachsende Impfstoffmarkt auf die GKV-Finanzstabilität? Und wie lässt sich vermeiden, dass technische Umstellungen wie das E-Rezept zu statistischen Fehlschlüssen oder gar Fehlsteuerungen führen?

Während sich Politik, Kassen und Leistungserbringer in diesen Fragen weiter im Dreieck aus Regulierung, Innovation und Sparzwang bewegen, zeigt der aktuelle Monatsbericht des DAV vor allem eines: Es sind die kleinen Verschiebungen – in Prozentpunkten kaum wahrnehmbar –, die auf lange Sicht den größten Umbau markieren. Wenn mehr Geld für weniger Packungen ausgegeben wird, ist das nicht zwingend schlecht – es bedeutet womöglich bessere Versorgung. Aber nur dann, wenn die Verteilung dieser Mittel auch gerecht, transparent und medizinisch sinnvoll bleibt.

 

Lieferengpässe treffen Impfschutz, Alternativen fordern Praxis, Kommunikationslücken verschärfen Elternunsicherheit

Infanrix und Twinrix fehlen – wie Impfpläne ins Wanken geraten, welche Optionen bestehen und warum Aufklärung jetzt entscheidend ist

Wenn in deutschen Kinderarztpraxen und Impfsprechstunden die Nachfrage hoch und der Vorrat leer ist, dann geht es längst nicht mehr nur um logistische Details. Derzeit fehlen zwei Standardimpfstoffe, die zu den Säulen der pädiatrischen Vorsorge gehören: Infanrix, ein Dreifachimpfstoff gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis (Keuchhusten), sowie Twinrix Kinder, eine Kombinationsvakzine gegen Hepatitis A und B. Der Engpass betrifft nicht nur die Apothekenlager, sondern trifft Eltern, Kinderärzte und Gesundheitseinrichtungen unmittelbar – denn Impfpläne geraten ins Stocken, Sicherheitsfristen laufen ab, und der Impfschutz droht zu kippen. Die Lage wirft nicht nur Fragen nach adäquaten Alternativen auf, sondern auch nach Versorgungslogik, Präventionspolitik und Kommunikationskultur.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) führt beide Vakzine seit Kurzem auf seiner Lieferengpassliste – und betont in seiner aktuellen Übersicht, dass alternative Präparate verfügbar seien. Doch in der praktischen Umsetzung ist die Frage nach Substitution oft weniger technisch als organisatorisch, zeitlich und kommunikativ: Eltern müssen über Änderungen informiert und aufgeklärt werden, Ärzt:innen benötigen gesicherte Informationen zu Umstellungsschemata, Dosierungsunterschieden und Intervallkompatibilität. Dabei liegt die eigentliche Herausforderung nicht allein im pharmazeutischen Detail, sondern in der Aufrechterhaltung der präventiven Kontinuität – mit minimalem Risiko für die Kinder und maximaler Transparenz gegenüber den Familien.

Infanrix wird seit Jahren flächendeckend zur Grundimmunisierung im Säuglingsalter verwendet – entweder als alleiniger Dreifachimpfstoff oder eingebettet in sogenannte Sechsfachimpfstoffe wie Infanrix hexa, das zusätzlich gegen Polio, Hib und Hepatitis B schützt. Während der Dreifachimpfstoff nun Mangelware ist, stehen andere Kombinationsimpfstoffe weiterhin zur Verfügung. Doch nicht jede Praxis setzt standardisiert auf die Sechsfachkombination – und nicht jedes Kind hat exakt denselben Impfverlauf. Hier entstehen erste klinische Unsicherheiten: Können vorhandene Teildosen sinnvoll ergänzt werden? Reicht eine Umstellung auf Tetravac oder Boostrix? Müssen Impftermine verschoben oder Wiederholungen vorgenommen werden?

Die gleiche Komplexität gilt für Twinrix Kinder, dessen Einsatz zwar nicht zur Grundimmunisierung zählt, aber vor allem bei Reisen oder familiärer Hepatitis-Vorbelastung genutzt wird. In der Substitution kann auf Monovalent-Impfstoffe wie Havrix (Hepatitis A) oder Engerix-B (Hepatitis B) ausgewichen werden. Allerdings bedeutet dies eine Abkehr von der bewährten Kombinationsstrategie – mit Implikationen für Impfrhythmus, Dosisintervall und organisatorischen Mehraufwand. Impfpläne müssen in diesen Fällen angepasst, Patientenunterlagen aktualisiert und Rückfragen in der Praxis bewältigt werden.

Problematisch ist weniger die Existenz von Alternativen als deren Integration in den Versorgungsalltag. Die Kommunikation zwischen Fachkreisen, Eltern und Impfbehörden ist entscheidend. Denn obwohl das PEI auf Alternativen verweist, fehlt es vielen Praxen an aktiv bereitgestelltem Infomaterial, standardisierten Umstiegsprotokollen oder zentralisierten Handlungsempfehlungen. Während Kinderärzt:innen aus Erfahrung wissen, wie Dosierungsäquivalente angepasst werden können, geraten unerfahrenere Einrichtungen ins Schwanken. Auch in Apotheken fehlen oft aktuelle Übersichtstabellen oder Umsetzungsanleitungen, wie etwa jene zur 1:1-Austauschbarkeit von Vakzinen oder Kombinationsmöglichkeit mit anderen Präparaten.

Hinzu kommt eine psychologische Komponente: Eltern begegnen jeder Planabweichung mit Skepsis, insbesondere wenn es um Impfungen geht. Die Debatte um Impfsicherheit – zuletzt verstärkt durch Corona – hat zu einer Sensibilisierung geführt, die in manchen Fällen in Unsicherheit oder sogar Ablehnung mündet. Wenn nun plötzlich ein anderes Präparat verabreicht wird als angekündigt, kann dies den Vertrauensrahmen belasten. Aus Sicht der Gesundheitskommunikation ist daher eine proaktive, transparente Aufklärung zentral – nicht nur zur medizinischen Sicherheit, sondern zur Wahrung der ärztlichen Autorität und elterlichen Zustimmung.

Systemisch betrachtet zeigt der aktuelle Engpass, wie fragil das Gleichgewicht zwischen Vorratsplanung, Produktionskapazitäten und Bedarfslagen ist. Die Impfstoffhersteller – in diesem Fall unter anderem GSK – sind durch globale Produktionsketten, regulatorische Genehmigungen und nationale Verteilungsstrukturen limitiert. Schon kleinere Störungen oder Prioritätsverlagerungen in der globalen Auslieferung können zu Verknappung führen. Hier rächt sich die mangelnde Resilienz nationaler Bevorratungsstrategien: Anders als bei Grippeimpfstoffen, die jährlich in großen Chargen bestellt werden, sind viele Routineimpfstoffe kaum gepuffert – ein Umstand, den Fachverbände seit Jahren kritisieren.

Derzeit bleibt die Handlungsanweisung eindeutig, aber mühsam: Umstellung auf verfügbare Impfstoffe, sorgfältige Dokumentation, individualisierte Aufklärung. Die ärztliche Praxis trägt dabei erneut die Last struktureller Engpässe – organisatorisch wie kommunikativ. In dieser Gemengelage zeigt sich, wie wichtig digitale Tools für die Versorgungssteuerung wären: Impfinformationssysteme mit automatisierter Alternativeingabe, verknüpft mit Bestandsmeldungen aus Apotheken, könnten nicht nur Entlastung schaffen, sondern auch die Impfquote sichern. Denn jede versäumte Impfung heute kann zur Infektionslücke von morgen werden.

Von Engin Günder, Fachjournalist

 

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