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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |
Die betriebswirtschaftliche Substanz vieler Apotheken zerfällt – nicht durch äußere Schocks, sondern durch einen stillen, systemischen Substanzverlust, den der neue DAV-Wirtschaftsbericht mit erschreckender Klarheit dokumentiert: Die Einnahmen steigen nominell, verlieren aber real an Wert, weil Inflation, Tarifdruck und Fixkosten jede Verbesserung auffressen, während gleichzeitig die Personalaufwendungen die Margen zerstören und den Handlungsspielraum radikal verengen. Inhaber, die früher aus Rücklagen investieren oder Personal aufbauen konnten, kämpfen heute um das finanzielle Überleben – und das, obwohl die Nachfrage nicht fehlt, sondern das System aus fixierter Vergütung, politischem Stillstand und wachsender Komplexität jede unternehmerische Initiative abwürgt. Die Zahlen zeigen, was viele spüren: Die Apothekenlandschaft ist in der ökonomischen Realität angekommen, aber politisch weiterhin in einem Versorgungsideal verhaftet, das keine Antworten auf Lohnsteigerung, Mietdruck, Energiekosten oder digitale Sicherheitsanforderungen kennt. Führung in Apotheken bedeutet heute nicht mehr Prozesspflege, sondern Risikoanalyse – mit Blick auf Personalausfälle, IT-Infrastruktur, Reputationsrisiken, Versicherungslücken und das schleichende Absinken der Rentabilität bei gleichzeitiger Überforderung des Betriebsalltags. Wer heute eine Apotheke führt, muss mehr denn je vorausschauend handeln, Investitionen kalkulieren, Teamstrukturen absichern, regulatorische Änderungen antizipieren und gleichzeitig eine Versorgung aufrechterhalten, die gesellschaftlich erwartet, aber wirtschaftlich nicht mehr refinanziert ist. Der DAV-Bericht benennt diese Schieflage nicht offen – doch sie steht in jeder Zahl, jeder Prozentangabe, jeder Margenverschiebung. Was er hinter der betriebswirtschaftlichen Fassade sichtbar macht: Der ökonomische Erfolg ist kein Selbstläufer mehr, sondern Ergebnis einer Führungsleistung, die sich zwischen Systemversagen, Mitarbeiterbindung, Patientenanspruch und betrieblicher Selbsterhaltungskraft behaupten muss – Tag für Tag, unter Bedingungen, die Stabilität nur noch suggerieren, aber längst keine mehr garantieren.
Einnahmen verlieren an Substanz, Personal frisst die Marge, Führung muss zur Risikoanalyse werden
Was der neue DAV-Bericht unausgesprochen zeigt, warum wirtschaftlicher Erfolg kein Selbstläufer mehr ist und welche betriebliche Verantwortung jetzt entscheidend wird
Jahrelang galt das Apothekensystem als stabil, berechenbar, sicher – getragen von einer Mischung aus gesetzlich definierter Vergütung, öffentlichem Versorgungsauftrag und dem Selbstverständnis eines versorgenden Heilberufs. Doch der neue Apothekenwirtschaftsbericht des Deutschen Apothekerverbands (DAV) führt dieses Bild ad absurdum. Was die Kennzahlen des Jahres 2022 ungeschminkt zeigen: Die Grundlagen betrieblicher Stabilität sind ausgehöhlt, der wirtschaftliche Handlungsspielraum schwindet und viele Apotheken sind heute bereits strukturell gefährdet – unabhängig von ihrer Einsatzbereitschaft oder Versorgungsqualität.
Die durchschnittlichen Umsätze pro Betrieb mögen auf dem Papier konstant geblieben sein. Doch entscheidend ist, was davon übrig bleibt – und hier beginnt das eigentliche Problem. Die Personalkosten steigen deutlich, die Fixkosten drücken, neue Leistungen werden eingefordert, aber nicht ausreichend vergütet. Das Rx-Fixum ist real unter dem Stand von 2013, der Rohertrag je Packung deckt schon lange nicht mehr den Aufwand für komplexe Prozesse, Lieferengpässe, Zusatzberatung und steigende Regulierungsauflagen. Apotheken kämpfen nicht mit Unfähigkeit, sondern mit einer finanziellen Realität, die ihren Beitrag zur Gesundheitsversorgung systematisch entwertet.
Besonders brisant: Die Einführung pharmazeutischer Dienstleistungen (pDL) sollte neue Einnahmequellen erschließen – doch der DAV-Bericht zeigt, dass viele Betriebe diese Möglichkeit kaum nutzen. Grund dafür sind fehlende Ressourcen, Personalengpässe und Unsicherheiten bei der Abrechnung. Wer pDL etablieren will, braucht nicht nur Fortbildung und Infrastruktur, sondern vor allem: Zeit, die im Alltag fehlt. Das Ergebnis ist eine gefährliche Schieflage: Mehr Aufgaben, höhere Erwartungen, aber keine wirtschaftliche Absicherung. Der Bericht formuliert dies nicht offen – aber zwischen den Zeilen ist die Botschaft klar: Der Break-even liegt für viele Apotheken längst nicht mehr in Reichweite.
Was folgt daraus? Apothekenleitung ist keine reine Versorgungsarbeit mehr. Sie wird zur Risikosteuerung. Wer heute eine Apotheke führt, muss wie ein Unternehmer denken – und wie ein Controller handeln. Liquiditätssicherung, strategisches Personalmanagement, Investitionsprüfung, Versicherungsstatus, digitale Prozessoptimierung: All das gehört inzwischen zum Pflichtprogramm. Es reicht nicht mehr, gut zu beraten. Man muss die wirtschaftlichen Stellschrauben kennen, Risiken früh erkennen, Handlungsspielräume aktiv gestalten.
Dazu gehört auch eine radikale Neubewertung der betrieblichen Struktur. Welche Leistungen sind wirtschaftlich tragfähig? Welche Zusatzaufgaben erzeugen Mehraufwand ohne Rendite? Welche Kosten lassen sich durch Kooperationen oder externe Dienstleistungen senken? Der DAV-Bericht zeigt zwar keine Lösungen, liefert aber die Rechenbasis, um genau solche Entscheidungen faktenbasiert zu treffen. Wer sie ignoriert, trifft sie trotzdem – aber unfreiwillig, durch Erschöpfung oder Ausstieg.
Apothekenbetreiber müssen sich klar machen: Stabilität ist keine Garantie mehr. Versorgungspflicht ersetzt kein Betriebsmodell. Der Bericht belegt, wie sich unter der Oberfläche eine neue Realität formiert – in der klassische Sicherheiten erodieren und operative Führung neue Qualitäten braucht. Nicht politisches Nichthandeln gefährdet die Apotheken am meisten, sondern betriebliche Passivität im Angesicht einer sich beschleunigenden Krise.
Deshalb lautet die zentrale Pflicht: Die eigene Apotheke als krisenfähige Organisation denken. Mit klarer Kostenkontrolle, definierter Leistungsstrategie, robustem Personalgerüst und klarem Blick auf die nächste GKV-Runde, die nächste Lieferkrise, den nächsten Gesetzesentwurf. Wer jetzt betriebswirtschaftlich nicht gegensteuert, verliert Handlungshoheit – und mittelfristig die Grundlage für jede Form von Versorgung.
Nächtlicher Lärm spaltet Paare, Schlafmangel schürt Konflikte, Beziehungsarbeit beginnt im Bett
Wie Schnarchen Intimität zerstört, Therapie verhindert wird und Kommunikation der entscheidende Ausweg sein kann
Es beginnt meist harmlos. Ein leises Röcheln, ein unregelmäßiges Atmen, ein kehliges Grunzen – dann plötzlich dieser durchdringende, sägende Klang, der nicht nur den Schlaf raubt, sondern auch das Fundament der Beziehung erschüttern kann. Schnarchen ist weit mehr als ein akustisches Ärgernis. Es ist ein Beziehungskiller, der in Millionen von Partnerschaften für Frustration, Rückzug, Streit und schließlich auch Trennung sorgt. Dass dieses Phänomen so lange als bloße Eigenheit, als „Macke“ oder gar als lustige Anekdote behandelt wurde, liegt an einem kollektiven Verdrängungsmechanismus. Denn wer will schon zugeben, dass er sich von nächtlichem Lärm innerlich abwendet – statt Nähe sucht?
Schnarchen betrifft statistisch gesehen jeden zweiten Mann und jede vierte Frau – Tendenz steigend mit dem Alter. Doch während die medizinische Forschung das Phänomen längst als Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und Diabetes einstuft, hat sich in der Beziehungsforschung erst allmählich ein Umdenken durchgesetzt. Schlafstörungen, die durch Partner verursacht werden, zählen inzwischen zu den häufigsten Ursachen für getrennte Schlafzimmer. Und genau dort liegt der Kipppunkt: Wo Intimität, Vertrauen und gemeinsame Rituale fehlen, entsteht eine emotionale Lücke – die das Schnarchen zwar nicht allein verursacht, aber radikal vergrößert.
Viele Partnerinnen und Partner von Schnarchenden berichten von wachliegenden Nächten, Gereiztheit, innerem Rückzug und wachsendem Groll. Die Frage, wer sich wem anpassen muss – der Schnarchende mit medizinischen Maßnahmen oder der Partner mit Ohrstöpseln und Verständnis – wird schnell zur Beziehungsprüfung. Denn das vermeintlich rein physische Problem entwickelt sich zu einem psychosozialen Minenfeld. Wenn Rücksicht ausbleibt, wird aus dem Lärm ein Vorwurf, aus dem Vorwurf ein Dauerbrenner und aus der Partnerschaft ein Schlachtfeld der Empfindlichkeiten.
Dabei gibt es medizinisch längst Wege aus dem Dilemma: Von einfachen Hilfsmitteln wie Nasenpflastern, Seitenlagekissen oder Unterkieferprotrusionsschienen bis hin zu chirurgischen Eingriffen – je nach Ursache des Schnarchens (vibrationsanfälliges Gaumensegel, blockierte Nasengänge, Übergewicht, Schlafapnoe) ist die Behandlung oft erfolgreich. Nur: Voraussetzung ist die Einsicht. Und die fehlt. Denn das Eingeständnis, nachts zu stören, ist für viele Betroffene ein Angriff auf ihr Selbstbild. Männer fürchten, als alt, krank oder unfähig wahrgenommen zu werden, Frauen schämen sich, überhaupt zu schnarchen. Der Mythos des geräuschlosen, „harmonischen“ Schlafes hält sich hartnäckig – bis das eigene Schnarchen auf Tonband gebannt ist.
Aus psychologischer Sicht ist es kein Zufall, dass Schnarchen oft eskaliert, wenn Konflikte ungelöst bleiben. Es ist Ausdruck eines Ungleichgewichts, einer Verschiebung der Zonen des Erträglichen. Was tagsüber unausgesprochen bleibt, entlädt sich nachts in einer akustischen Eskalation, gegen die das Gegenüber machtlos ist. Deshalb wirkt jede Diskussion über Ohropax oder getrennte Matratzen wie eine Symboldebatte über Nähe und Distanz, über Bedürfnisse und Respekt.
Die Lösung? Sie liegt wie so oft in der Kommunikation. Paare, die es schaffen, das Thema offen, wertschätzend und konkret zu besprechen, sind im Vorteil. Ein medizinischer Check-up, ein gemeinsamer Besuch beim Schlafmediziner, die ernsthafte Beschäftigung mit Therapien – all das signalisiert: Ich nehme dein Leiden ernst, ich nehme unsere Beziehung ernst. Und genau diese Haltung entscheidet, ob Schnarchen zur Trennung führt – oder zur Lösung.
Denn was viele unterschätzen: Schnarchen ist behandelbar. Beziehungsschäden sind es nicht immer.
Gefäße zeigen frühe Warnzeichen, kalte Füße werden zum Alarmsignal, Tanzen könnte Therapie sein
Wie Durchblutungsstörungen unterschätzt werden, wo Diagnosen greifen – und warum Bewegung besser wirkt als Routine-Checks
Es beginnt mit einem Frösteln, das sich in den Zehen festsetzt, über den Rist zieht und irgendwann zum ständigen Begleiter wird – kalte Füße, mal lästig, mal unbemerkt, oft ignoriert. Doch hinter diesem unscheinbaren Phänomen kann ein ernsthaftes Problem stehen: eine beginnende arterielle Durchblutungsstörung. Was viele für eine harmlose Folge niedriger Raumtemperatur halten, ist für Gefäßmediziner ein potenzielles Frühzeichen einer weitreichenden Verkalkung, medizinisch als periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) bezeichnet. Und diese hat weitreichende Konsequenzen, die nicht bei den Füßen enden.
Siamak Pourhassan von der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie und Gefäßmedizin (DGG) bringt es auf den Punkt: Wer zu einer Risikogruppe gehört – darunter Bluthochdruck-Patienten, Menschen mit Übergewicht, Raucher:innen oder Personen mit familiärer Vorbelastung – sollte wachsam sein. Denn der Körper spricht in Warnzeichen, die oft nicht als solche verstanden werden: Haarverlust an den Beinen, spröde Haut an den Fersen, kleinste Hautrisse, selbst wiederkehrende Pilzinfektionen an den Füßen – all das sind Hinweise auf ein gestörtes Gefäßsystem. Was zunächst wie kosmetische Nebensächlichkeiten wirkt, entpuppt sich im klinischen Kontext als Leitsymptom eines funktionellen Rückgangs der peripheren Blutzirkulation.
Der medizinische Pfad von der Vermutung zur Gewissheit ist klar strukturiert: Hausärzt:innen prüfen die Fußpulse, messen den Knöchel-Arm-Index, und bei auffälligen Werten beginnt die vertiefende Diagnostik durch die Gefäßchirurgie. Diese wiederum nutzt Ultraschallverfahren, um arterielle wie venöse Systeme zu analysieren – stets mit dem Anspruch, den ganzen Menschen und sein Gefäßnetzwerk in seiner Komplexität zu erfassen. Denn Kreislauf, Hormonsystem und Nerven steuern in einem sensiblen Gleichgewicht die Blutverteilung in der Peripherie. Gerät dieser Regelkreis aus dem Lot, sind die Folgen oft systemisch – bis hin zu erhöhtem Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall oder chronische Ulzerationen.
Doch die Frage bleibt: Was tun? Die naheliegende Antwort – präventiv einfach mal "alles durchchecken" lassen – hält Pourhassan für einen gefährlichen Irrweg. »Solche Vorsorgeuntersuchungen ohne medizinische Indikation führen oft zu Überdiagnostik. Man entdeckt Mini-Plaques ohne klinische Relevanz, verunsichert damit aber Patienten – psychisch wie sozial.« Die moderne Medizin ringt mit der Balance zwischen Prävention und Pathologisierung. Nicht alles, was sichtbar ist, muss auch behandelt werden.
Stattdessen empfiehlt die Gefäßmedizin heute gezielte Aktivierung. Wer tatsächlich gefährdet ist, soll sich nicht auf ärztliche Apparate verlassen, sondern auf die eigenen Beine. Gehtraining, Bewegungstherapie und strukturierte Sportgruppen zeigen belegbare Erfolge – sowohl bei der Gefäßelastizität als auch beim subjektiven Wohlbefinden. Für Pourhassan steht dabei ein eher unorthodoxer Vorschlag ganz oben: Tanzen. Der rhythmische Wechsel von Bewegung, Belastung und Koordination gilt als ideales Gefäßtraining – es stärkt die Beinmuskulatur, fördert die Endothelfunktion und wirkt darüber hinaus als psychosozialer Stabilisator. Denn Tanzen ist auch Kommunikation, Ausdruck, soziale Teilhabe.
Der Blick auf kalte Füße als isoliertes Symptom greift also zu kurz. Wer dieses Zeichen ernst nimmt, betritt einen viel größeren diagnostischen Raum: Er begegnet dem Gefäßsystem nicht nur als anatomischem Versorgungskanal, sondern als Spiegel von Lebensstil, innerem Gleichgewicht und kardiovaskulärer Integrität. Die Herausforderung für Medizin und Gesundheitskommunikation besteht darin, zwischen Panik und Passivität einen dritten Weg zu etablieren – einen, der aufklärt, ohne zu verängstigen, der motiviert, ohne zu moralisieren, und der Lösungen aufzeigt, die im Alltag Bestand haben.
In dieser Perspektive wird der Fuß zum Seismographen des Kreislaufs, das Gehen zur Therapie und das Tanzen zur Rehabilitationsstrategie. Nicht jeder kalte Fuß ist krank – aber jeder kalte Fuß verdient Aufmerksamkeit, wenn er Teil eines Musters ist. Denn es geht nicht nur um Temperatur. Es geht um das richtige Maß zwischen Wissen, Wahrnehmung und Bewegung – und darum, rechtzeitig die Füße in die Hand zu nehmen, bevor die Beine nicht mehr tragen.
Wenn Ablehnung krank macht, wenn Therapie schwer greift, wenn Familien verzweifeln
Wie ARFID das Essverhalten entgleisen lässt, warum Wählerischsein nicht gleich Krankheit ist und welche Perspektiven es trotz Therapieengpass geben kann
Es beginnt oft leise, fast beiläufig – mit einem verweigerten Löffel Brei, einem zurückgeschobenen Teller, einem Kind, das lieber hungert als auch nur zu probieren. Viele Eltern kennen diese Momente, sie gehören zur Entwicklung dazu. Doch was, wenn das „Ich will das nicht“ nicht vergeht, wenn Ablehnung zum festen Muster wird und das Kind selbst Pommes oder Nudeln meidet? Dann könnte es sich um mehr als bloße Mäkeligkeit handeln – um ARFID, eine vermeidend-restriktive Essstörung, die erst seit wenigen Jahren offiziell als Krankheit geführt wird und dennoch vielen Ärzten noch immer unbekannt ist.
In Deutschland fristet ARFID ein Schattendasein. Zwar wurde die Störung bereits 2013 in den USA als Diagnose anerkannt und 2022 in die ICD-11 aufgenommen, doch mangels Übernahme dieser Klassifikation durch das deutsche Gesundheitssystem wird ARFID hierzulande häufig unter „sonstige Essstörungen“ verbucht. Das hat Konsequenzen: für Diagnostik, für die Therapie und für das Verständnis der Betroffenen. Nicht selten durchlaufen Kinder und Erwachsene eine Odyssee von Fehldeutungen – als wählerisch, verweichlicht, oppositionell. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Viele Betroffene leiden unter ihrem Essverhalten, empfinden Essen als Überforderung, Ekel oder Bedrohung.
Was ARFID so besonders macht, ist der fehlende Wunsch nach Gewichtskontrolle. Anders als bei der Anorexie geht es nicht um ein verzerrtes Körperbild, sondern um den Akt des Essens selbst – oder vielmehr dessen Vermeidung. Der Auslöser kann eine frühkindliche Schluckerfahrung sein, eine traumatische Intubation, eine überstandene Allergie oder einfach das sensorische Empfinden: Konsistenz, Geruch, Textur. „Ich habe Dinge, die ich nicht mag – und Dinge, die ich nicht essen kann“, sagt eine Betroffene, die erst mit Mitte dreißig den Namen für ihre jahrzehntelange Essangst erfährt. Der Satz markiert den Unterschied zwischen Alltagsverhalten und Krankheitsbild, zwischen „krüsch sein“ und ARFID.
Doch wie erkennt man die Grenze? Ricarda Schmidt von der Universität Leipzig schildert Fälle, in denen Kinder Geburtstage meiden, Schulausflüge absagen oder sich sozial zurückziehen – alles wegen der Konfrontation mit Lebensmitteln. Die körperlichen Folgen reichen von Mangelerscheinungen über Gewichtsverlust bis zu Entwicklungsverzögerungen. Hinzu kommt der familiäre Druck. Oftmals stehen Eltern ratlos zwischen Sorge und Frustration, zwischen Fürsorge und Zwang. Viele erleben eine Dynamik, in der jeder Teller zum Symbol wird – für das eigene Versagen, für das kindliche Unvermögen, für eine Situation, die sich immer weiter verhärtet.
Die diagnostische Unsichtbarkeit erschwert zusätzlich den Zugang zu Hilfe. Die zuständigen Ärzte erkennen ARFID oft nicht, ordnen die Symptome vorschnell einer Magersucht zu oder diagnostizieren psychosomatische Unklarheiten. Entsprechend lückenhaft ist die therapeutische Versorgung. Eine Analyse von 77 Studien unter Leitung von Laura Bourne (University College London) verweist auf vielversprechende, aber wenig evaluierte Ansätze: kognitive Verhaltenstherapie, familienbasierte Ansätze, logopädische Unterstützung, in schweren Fällen medikamentöse Begleitung. Doch ein Goldstandard existiert nicht – und für viele Familien bleibt die Hürde hoch, überhaupt einen geeigneten Therapieplatz zu finden.
Gleichzeitig wächst die Zahl der Betroffenen – auch wenn genaue Zahlen fehlen. Die große diagnostische Grauzone erschwert epidemiologische Einschätzungen, doch Experten gehen von einer relevanten Dunkelziffer aus. Auch weil viele Menschen nie erfahren, dass ihr vermeintlich "komisches Verhältnis zum Essen" eine behandlungswürdige Störung ist. Der Leidensdruck ist individuell, die Auswirkungen sind es nicht: sozialer Rückzug, Scham, Schuld, familiäre Konflikte.
Was aber hilft konkret? Der Schlüssel liegt nicht im Zwang, sondern in der Entlastung. Esstische dürfen keine Verhandlungsschlachtfelder werden, neue Lebensmittel müssen ohne Druck eingeführt, Ekelreaktionen ernst genommen und nicht moralisiert werden. Dabei hilft Geduld – und die Erkenntnis, dass Wiederholungen Sicherheit schaffen können. Mindestens zehn Begegnungen mit einem neuen Lebensmittel, so die Faustregel, bevor eine Annäherung möglich wird. Und selbst dann braucht es manchmal professionelle Begleitung, nicht zuletzt durch Fachkräfte, die ARFID als das anerkennen, was es ist: eine ernstzunehmende Erkrankung – und kein Ausdruck mangelnder Erziehung oder schlechter Gewohnheit.
Dass der Verein ARFID e. V. in Münster bislang die einzige systematische Anlaufstelle in Deutschland bietet, ist bezeichnend – und ein politisches wie gesundheitliches Versäumnis. Denn hinter jedem Kind, das mit leeren Tellern ringt, steht eine Familie mit Fragen. Und eine Gesellschaft, die sich an eine einfache Regel erinnern sollte: Wählerisches Verhalten vergeht – ARFID nicht.
Resistenz durch Membrantricks, Biofilmstrategie und Enzymlogik
Warum Pseudomonas aeruginosa zur globalen Gefahr wird, wie der Keim Antibiotikatherapien unterläuft und was Apothekerinnen zum Schutz beitragen können
Wenn ein Bakterium zur Bedrohung für moderne Medizin avanciert, dann nicht durch plötzliche Mutation allein, sondern durch systematisches Lernen. Pseudomonas aeruginosa, der gramnegative Keim, den Dr. Ulrike Porsche auf dem Pharmacon-Kongress in Meran als „Zauberkünstler der Resistenzentwicklung“ bezeichnete, ist kein zufälliger Gegner im globalen Ringen um antiinfektive Kontrolle – er ist Resultat evolutiver Perfektion. In einem Klima übermäßiger Antibiotikaanwendung, unvollständiger Therapien und mangelhafter Infektionsprävention hat dieser Keim seine Überlebenskunst perfektioniert. Porsche nennt vier Säulen seines Erfolgs: Porinmanipulation, Effluxsysteme, enzymatische Sabotage und Biofilmarchitektur.
Die äußere Membran von P. aeruginosa ist nicht bloß Barriere, sondern Bollwerk. In ihr eingebettet sind Porine – Proteinkanäle wie OprD, die hydrophile Moleküle passieren lassen. Wenn das Bakterium durch Umweltselektion die Expression von OprD abschaltet, sind Carbapeneme, also Reserveantibiotika, nahezu wirkungslos. Zugleich wirken Effluxpumpen als molekulare Auswurfmaschinen: Chinolone, β-Laktame und Aminoglykoside werden, kaum aufgenommen, wieder hinausbefördert. Ein enzymatisches Bollwerk stellt der Erreger mit seinen β-Lactamasen auf, darunter die besonders aggressiven Metallo-β-Lactamasen. Das Resultat: multiresistente Stämme, die kaum therapierbar sind – eine dramatische Konsequenz für Intensivstationen, Transplantationsmedizin und onkologische Therapien.
Ein noch raffinierteres Werkzeug im Arsenal von P. aeruginosa ist jedoch sein Biofilm. Was klinisch als schleimige Beläge auf Wunden, Kathetern oder Mukoviszidose-Lungen beginnt, ist mikrobiologisch eine resistenzpotenzierende Architektur. Der Biofilm unterliegt sechs funktionalen Phasen: Beginnend mit der reversiblen Adhärenz über irreversibles Andocken und Mikrokoloniebildung, führt die Reifung zur Ausbildung eines dreidimensionalen Netzwerks – durchzogen von Kanälen, die den Stoffwechsel und Gasaustausch sichern. Besonders gefährlich ist die spätere Zellfreisetzung: Dabei emigrieren hoch virulente Einzelkeime aus der Biofilmstruktur und verursachen neue Infektionsherde. Diese Zellen sind resistenter als ihre frei schwimmenden Pendants und entziehen sich der Wirkung fast aller etablierten Antibiotika.
Resistenzen sind kein Schicksal, sondern Resultat menschlicher Nachlässigkeit. Weltweit sterben jährlich 1,3 Millionen Menschen an Infektionen mit resistenten Erregern. In Deutschland sind es mehr als 45.000 pro Jahr – eine epidemiologische Katastrophe mit lautlosen Toten. Für Dr. Porsche ist klar: Ohne wirksames Antibiotic Stewardship, ohne Forschung an neuen Wirkstoffklassen, ohne infektionspräventive Strategien im Alltag der Gesundheitsberufe steuern wir auf ein postantibiotisches Zeitalter zu. Dass Apothekerinnen und Apotheker hier Schlüsselrollen übernehmen, ist keine abstrakte Forderung. Sie sind das Fachpersonal, das Arzneitherapien überwacht, Dosierungen prüft, Kombinationen bewertet und Fehlverordnungen erkennt. Und sie sind es, die zwischen Theorie und Praxis vermitteln – sei es am Stationsbett, im Beratungsgespräch oder im Präventionsseminar.
Der Vortrag von Dr. Ulrike Porsche steht exemplarisch für eine Bewegung innerhalb der Pharmazie, die sich nicht mehr auf Abgabe und Kontrolle reduzieren lässt. Denn während der Bakterienstamm P. aeruginosa seine molekulare Resistenzarchitektur ausbaut, müssen Gesundheitsberufe lernen, ihre strukturellen Defizite zu hinterfragen: Wie viele Apotheken beraten wirklich zum Thema Resistenzvermeidung? Wie oft werden Therapiedauern pharmakologisch überprüft? Und wo fehlen Anreize, überhaupt Zeit für solche Beratung aufzubringen? Porsche warnt mit Nachdruck: Sollte es nicht gelingen, dieser Entwicklung regulatorisch, medizinisch und gesellschaftlich entgegenzuwirken, könnten resistente Keime bis zum Jahr 2050 weltweit die häufigste Todesursache sein. Die Uhr tickt, aber noch kann das Ruder herumgerissen werden.
Hitzewellen gefährden Versorgung, unterschätzte Risiken belasten Apotheken, interprofessionelle Pläne sind überfällig
Warum Klimafolgen den Apothekenalltag verändern, welche Arzneimittel besonders hitzesensibel sind und wie niedrigschwelliger Schutz gelingen kann
Die Klimakrise kommt nicht – sie ist da, und mit jedem weiteren Sommer dringt sie sichtbarer in die tägliche Versorgungsrealität von Apotheken und Praxen ein. Die meteorologischen Warnungen vor extremer Hitze sind keine hypothetischen Szenarien mehr, sondern wiederkehrende Gefahrenlagen, die alte Betriebsroutinen überfordern und gesundheitspolitische Schutzkonzepte auf ihre Notdürftigkeit zurückwerfen. Berlin wurde in diesem Jahr zum Schauplatz eines bemerkenswert interdisziplinären Dialogs: Die Apothekerkammer und die Ärztekammer der Hauptstadt luden zur gemeinsamen Fortbildung ein, um die Hitze nicht nur als Wetterphänomen, sondern als systemische Gesundheitsbedrohung zu diskutieren. Im Zentrum standen dabei zwei bislang oft vernachlässigte Fragen: Welche Rolle spielen Apotheken im Hitzeschutz? Und welche Medikamente bergen temperaturabhängige Risiken, die Patienten gefährden können?
Max Bürck-Gemassmer, Allgemeinmediziner und Vordenker der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), zeichnete ein klares Bild der Lage. Er sprach nicht mehr nur von Temperaturen, sondern von Pathologien im globalen System: Der Planet sei in seinen lebenswichtigen Organfunktionen schwer erkrankt – mit unmittelbaren Folgen für menschliche Organismen. Die derzeitige Erderhitzung verändere nicht nur Ökosysteme, sondern greife tief in die Physiologie des Menschen ein. Bereits heute seien über 85 Prozent der durch Extremwetter bedingten Todesfälle direkt auf Hitzewellen zurückzuführen. Deutschland verzeichne im Jahr bis zu 10.000 Hitzetote – eine Zahl, die unter der Oberfläche der Statistiken kaum öffentliche Aufmerksamkeit findet, in der medizinischen Realität aber umso dramatischere Spuren hinterlässt.
Für Praxisteams, so Bürck-Gemassmer, reiche es nicht mehr aus, sich auf Kreislaufmittel und gut gemeinte Ratschläge zu stützen. Die Notwendigkeit sei evident: Aufklärung über hitzebedingte Gesundheitsrisiken müsse zur klinischen Routine gehören. Ebenso gehöre die Reduktion eigener klimaschädlicher Emissionen auf die Tagesordnung ärztlicher Verantwortung. Der Arzt plädierte für einen Musterhitzeschutzplan für jede Praxis, inklusive organisatorischer, technischer und kommunikativer Maßnahmen. Gesundheit und Klima, so seine Kernaussage, könnten nicht mehr getrennt gedacht werden.
Auch für Apotheken stellt sich die Frage nach einem neuen Selbstverständnis – zwischen pharmazeutischer Beratungsinstanz und klimatischem Schutzraum. Die Nürnberger Apothekerin Margit Schlenk illustrierte in ihrem Vortrag, wie ihre Heimatstadt diesen Anspruch bereits konkretisiert: Dort sind alle Apotheken als sogenannte „kühle Orte“ in den kommunalen Hitzeschutzplan integriert. Hintergrund ist die gesetzlich vorgeschriebene Temperaturgrenze von 25 Grad Celsius für den Apothekenbetrieb – ein Schwellenwert, der nicht nur die Arzneimittelsicherheit schützt, sondern auch vulnerable Patienten kurzfristig entlasten kann. Schlenk betonte, dass sich Apotheken dadurch in besonderer Weise als niedrigschwellige Anlaufstellen im Hitzeschutz positionieren – vor allem dann, wenn ärztliche Intervention (noch) nicht nötig ist.
Besonders alarmierend waren ihre Ausführungen zu thermolabilen Medikamenten. Levothyroxin – ein Standardwirkstoff in der Schilddrüsentherapie – verliere seine Wirkung bereits oberhalb von 25 Grad. Viele Patienten wüssten das nicht und transportierten oder lagerten ihre Medikamente unbedacht. Schlenk forderte daher eine neue Informationsstrategie: Apotheken müssten über klimatische Arzneimittelrisiken ebenso selbstverständlich aufklären wie über Wechselwirkungen. Zusätzlich verwies sie auf Medikamente, die das Durstgefühl dämpfen oder die Haut lichtempfindlicher machen – eine potenziell gefährliche Kombination an heißen Tagen mit starker UV-Strahlung.
Neben pharmazeutischem Wissen forderte Schlenk auch ein sensorisches Umdenken: Farben und Raumgestaltung könnten das Hitzebewusstsein unterbewusst beeinflussen. Blautöne, Bilder von Schnee und Eis erzeugten ein subjektives Kältegefühl, das sich – wissenschaftlich belegt – auf das Wohlbefinden auswirke. Hitzeschutz beginne daher nicht nur bei der Klimaanlage, sondern auch in der Innenarchitektur.
Ihr Appell an die Anwesenden war deutlich: Apotheken müssten strukturell und konzeptionell in den Hitzeschutz eingebunden werden – nicht als Anhängsel ärztlicher Versorgung, sondern als eigenständiger heilberuflicher Faktor. Nur mit interprofessioneller Aufmerksamkeit und bewusstem Rollenverständnis könne den wachsenden Herausforderungen begegnet werden. Der Klimawandel sei kein „Spezialthema“ mehr – sondern eine reale Bedrohung für die Kontinuität der Arzneimittelversorgung und die Gesundheit der Bevölkerung.
Im Subtext dieser Fortbildungsveranstaltung schwang ein doppelter Paradigmenwechsel mit: Die Apotheke als Klimaanlaufstelle und das Gesundheitssystem als Treiber und Opfer zugleich. Zwischen Lagerkühlung, Aufklärung und sozialer Verantwortung könnte die Zukunft der Apotheken auch heißen: Schutzort in der Krise – und Stimme in der Debatte.
Influenza schwächt das Immunsystem, schädigt das Herz, triggert Demenz
Warum die Grippeimpfung kardiovaskulär schützt, Alzheimer-Risiken senkt und trotzdem dramatisch unterschätzt wird
Kaum ein medizinisches Präventionsinstrument vereint mehr Wirksamkeit mit öffentlicher Ignoranz als die Influenza-Impfung. Trotz nachgewiesener Schutzwirkung gegen Lungenentzündung, Herzinfarkt und sogar neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer bleibt die Impfquote in Deutschland beschämend niedrig. Ein Widerspruch mit potenziell tödlichen Folgen. Beim Fortbildungskongress Pharmacon in Meran rief der Infektiologe Professor Dr. Thomas Weinke mit eindringlicher Klarheit zur Neubewertung der Grippeimpfung auf – nicht als saisonale Pflichtübung, sondern als zentrales Element der Herz-Kreislauf-Prävention und möglicherweise auch der Neuroprotektion im Alter. Es ist eine dieser medizinischen Botschaften, deren Einfachheit verblüfft und deren Verdrängung empört: Die Grippeimpfung rettet Leben – und schützt nicht nur vor der Grippe.
Influenza ist keine bloße Atemwegserkrankung, sondern eine Systemerkrankung mit weitreichender Multiorganwirkung. Das betonte Weinke als zentrale Botschaft seines Vortrags. Eine Influenza erhöht das Risiko für akute Myokardinfarkte um das Zehnfache, das Schlaganfallrisiko um das Achtfache und verursacht eine signifikante Zunahme hyperglykämischer Entgleisungen. Das Herz, das zentrale Zielorgan vieler Virusinfektionen, reagiert besonders sensibel. Dass etwa 25 Prozent der über 60-jährigen Patient:innen nach einem influenzabedingten Krankenhausaufenthalt ihre Autonomie verlieren, macht die Brisanz der Erkrankung plastisch. Doch obwohl diese Zusammenhänge seit Jahren in der Fachliteratur dokumentiert sind, bleibt die Konsequenz in der Praxis aus: Die Grippeimpfung ist in kardiovaskulären Präventionsstrategien weiterhin ein blinder Fleck.
Dabei könnten die Effekte auf die kardiovaskuläre Mortalität messbarer kaum sein. Weinke verwies auf Daten einer dänischen Studie, in der Patient:innen innerhalb von zwei Tagen nach einem Herzinfarkt entweder eine Influenza-Impfung oder ein Placebo erhielten. Die geimpfte Gruppe verzeichnete im Jahresverlauf eine um 28 Prozent reduzierte Sterblichkeit. In der Sprache der evidenzbasierten Medizin ist das kein statistischer Zufallsbefund, sondern ein handlungsrelevanter Unterschied. Dass die Impfung hierzulande dennoch nicht systematisch in die Sekundärprävention nach Myokardinfarkten integriert wird, wertete Weinke als »Kunstfehler« im ärztlichen Handeln.
Noch brisanter wird die Lage durch neue epidemiologische Hinweise auf mögliche neuroprotektive Effekte der Influenza-Impfung. Eine US-amerikanische Auswertung von Versichertendaten mit knapp einer Million Senior:innen offenbarte einen statistisch signifikanten Unterschied in der Alzheimer-Inzidenz: 8,5 Prozent bei Ungeimpften, 5,1 Prozent bei Geimpften. Auch wenn Weinke betonte, dass aus diesen Zahlen keine Kausalität abgeleitet werden könne, steht die Assoziation im Raum – als Hypothese, die Forschung provoziert, und als Argument, das Aufklärung stärkt. Dass Immunprozesse, Neuroinflammation und Virusinfektionen kognitiv degenerative Prozesse beeinflussen, ist keine neue These. Doch erstmals liegt ein statistisch belastbares Indiz dafür vor, dass eine einfache Grippeschutzimpfung auch vor dem geistigen Verlöschen schützen könnte.
Vor diesem Hintergrund erscheint es nahezu grotesk, dass Deutschland nicht einmal das 75-Prozent-Ziel der WHO für die Durchimpfung der über 60-Jährigen erreicht. Im Gegenteil: Weinke konstatierte, dass über 60 Prozent dieser vulnerablen Gruppe ungeimpft bleiben – ein strukturelles Versagen der Präventionspolitik. Portugal etwa zeigt, dass es anders geht: Dort ist die Zielmarke Realität. In Deutschland jedoch verpuffen Appelle zwischen Zuständigkeitsdiffusion, Impfverdruss und organisatorischer Trägheit. Dabei stehen moderne Grippeimpfstoffe längst bereit – mit adjuvantierter Formulierung, besserer Immunogenität für ältere Menschen und optimierten Produktionsverfahren. Doch auch hier gibt es Hürden: Die Ei-Adaptation bei der Herstellung auf Hühnereiern kann zu Antigendrift-bedingten Fehlanpassungen führen, die Wirksamkeit abschwächen. Kombiniert mit der altersbedingten Immunseneszenz ergibt sich ein Schutzgrad, der Weinke zufolge »besser sein könnte«, aber keineswegs wirkungslos ist.
Die logische Konsequenz aus diesen Datenlagen wäre eine umfassende strategische Neuverortung der Influenza-Impfung: Nicht mehr als saisonaler Hygieneschutz, sondern als Bestandteil der Gesamtversorgung chronisch Kranker, geriatrischer Patient:innen und kardiovaskulärer Hochrisikogruppen. Apotheken, Hausärzt:innen und Kliniken könnten hier gemeinsame Allianzen bilden. Für Apotheken bietet sich die Chance, mit niedrigschwelligen Impfangeboten aktiv an der Krankheitsprävention teilzunehmen – und damit nicht nur öffentliche Gesundheit, sondern auch die eigene Relevanz zu stärken. Dass dies bislang nicht flächendeckend geschieht, ist symptomatisch für eine Gesundheitspolitik, die auf Reaktion statt auf Prävention setzt.
Das wohl verstörendste Fazit: Eine Impfung, die Leben retten kann, wird in einem hochentwickelten Gesundheitssystem systematisch unterschätzt. Wer sie nicht empfiehlt, nicht anbietet oder als Bagatelle abtut, handelt nicht nur fahrlässig – er entzieht Patient:innen auch eine realistische Chance auf ein autonomeres, gesünderes und wahrscheinlich längeres Leben. Die Influenza-Impfung ist kein kleiner Pieks. Sie ist ein unterschätzter Rettungsanker.
Bewegung lindert Symptome, Schulung senkt Exazerbationen, digitale Lösungen warten auf Anerkennung
Wie nichtmedikamentöse Maßnahmen bei COPD wirken, warum Lungensport oft scheitert und welche Chancen digitale Angebote eröffnen könnten
Wer bei COPD nur an Inhalatoren denkt, verkennt das eigentliche Versorgungsproblem. Die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung zählt zu den führenden Ursachen für Morbidität im Alter – und sie zwingt viele Betroffene buchstäblich in die Immobilität. Dabei ist es ausgerechnet die körperliche Bewegung, die helfen kann, diesen Verlauf zu bremsen oder sogar umzukehren. Was in der Wissenschaft seit Jahren unumstritten ist, scheitert im deutschen Versorgungssystem an fehlender Umsetzung, mangelnder Infrastruktur und einem strukturellen Ungleichgewicht zwischen medikamentösen und nichtmedikamentösen Maßnahmen. Der Internistenkongress in Wiesbaden brachte dieses Missverhältnis erneut auf die Tagesordnung.
»COPD ist eine Erkrankung der zweiten Lebenshälfte«, sagte Professor Dr. Heinrich Worth, Pneumologe aus Fürth und Vorsitzender der AG Lungensport, bei seinem Vortrag. Und mit dieser Einschätzung öffnet sich ein weiter Raum für therapeutische Versäumnisse. Während Medikamente nach Lungenfunktion, Symptomlast und Exazerbationen angepasst werden, fristen Patientenschulungen, Bewegungstherapie und Impfungen ein Schattendasein. Worth spricht von einer »traurigen Spirale«: Belastungsdyspnoe führt zur Schonung, die Kondition sinkt, Atemnot nimmt zu, Mobilität schwindet. Das Resultat ist eine Art funktionelle Abriegelung des Alltags – zwischen Bett und Fernsehsessel.
Dabei wäre der Ausstieg aus diesem Teufelskreis möglich. Studien zeigen, dass Lungensport nicht nur die Lebensqualität verbessert, sondern auch Hospitalisierungen und Mortalität senkt. Allein 1000 zusätzliche Schritte täglich verringern das Einweisungsrisiko um 20 Prozent. Die Verordnung von Lungensport ist ab mittelschwerer COPD über Formular 56 möglich. Doch nur rund zehn Prozent der Patienten nutzen das Angebot – eine Quote, die angesichts der Evidenzlage als systemisch fahrlässig gelten muss.
Was sich in der Theorie sinnvoll anhört, endet in der Praxis oft am Wohnort. Zwar gibt es bundesweit über 2000 Lungensportgruppen, doch die Verteilung ist ungleich. Menschen in strukturschwachen Regionen oder mit eingeschränkter Mobilität bleiben ausgeschlossen. Worth fordert deshalb mehr lokale Angebote und verweist zugleich auf digitale Alternativen: Webinare, Onlinekurse, App-basierte Trainingslösungen. Doch auch hier klemmt das System – nicht wegen der Nachfrage, sondern wegen fehlender regulatorischer Anerkennung.
Professor Dr. Rembert Koczulla ergänzte den Vortrag mit konkreten Empfehlungen zur Trainingsfrequenz: Dreimal pro Woche Ausdauertraining, zwei- bis dreimal Krafttraining – das wäre medizinisch angezeigt. Doch selbst die bestehenden Lungensportgruppen treffen sich oft nur einmal wöchentlich. Der Trainingsreiz bleibt suboptimal. Apps könnten die Lücke füllen, doch nur wenige sind überhaupt verfügbar, und noch weniger haben eine DiGA-Zulassung. Ein Beispiel ist die App »Kaia COPD«, die Patientenschulung, Atemtechniken und Bewegungstraining kombiniert. Sie hatte vorübergehend eine DiGA-Zulassung, verlor sie wieder, ist aber weiter in den App-Stores verfügbar. Neue Studien sollen nun den Effekt besser belegen. Koczulla hofft auf eine Rückkehr in den DiGA-Katalog.
In der Zwischenzeit helfen Einzelmaßnahmen wie die App »NichtraucherHelden«, die auf Tabakentwöhnung abzielt – ein essenzieller Baustein jeder COPD-Therapie. Doch die Erfolgsrate ist begrenzt: 21 Prozent Abstinenz nach sieben Tagen, nur acht Prozent nach sechs Monaten. Koczulla spricht von einem »Tool im Werkzeugkasten«, mehr nicht.
Neben der Bewegungstherapie ist die Patientenschulung ein weiterer Eckpfeiler nichtmedikamentöser Intervention. »Schulung kann Exazerbationen um 50 Prozent senken – das schafft kein Medikament«, sagte Worth. Essenziell sei dabei nicht nur Wissen über die Krankheit, sondern auch das Erkennen und Behandeln von Verschlechterungen, inklusive der richtigen Inhalationstechnik. Denn ohne korrektes Inhalieren verlieren selbst moderne Präparate ihre Wirkung. Die deutsche Atemwegsliga hat deshalb für alle gängigen Inhalatoren Videos erstellt, die kostenlos zugänglich sind. Auch Apotheken spielen eine Schlüsselrolle: Sie können Schulungen durchführen und als pharmazeutische Dienstleistung abrechnen.
Ein dritter Baustein nichtmedikamentöser Maßnahmen ist der Impfschutz. COPD-Patienten haben ein erhöhtes Risiko für Infektionen, die Exazerbationen auslösen können. Die STIKO empfiehlt Impfungen gegen Influenza, Pneumokokken, Covid-19, Keuchhusten und RSV. Gerade RSV gewinnt an Bedeutung, weil Infektionen den Krankheitsverlauf erheblich verschlechtern können.
Die COPD-Therapie im Jahr 2025 ist damit längst mehr als Pharmakologie. Doch die systematische Integration dieser Erkenntnis in die Versorgung bleibt aus. Weder Hausarztpraxis noch Krankenkasse scheinen ausreichend strukturiert zu sein, um Bewegung, Schulung und Impfschutz als gleichwertige Therapiebausteine zu verstehen – und umzusetzen. Der Kongress in Wiesbaden zeigte: Die Konzepte sind vorhanden, die Evidenz ist erdrückend. Doch es fehlt an einem System, das sie konsequent umsetzt.
Infektion erkennen, Notfall vermeiden, Verantwortung tragen
Warum Apotheken bei Hautinfektionen mehr leisten müssen als nur beraten, wie Warnzeichen zum Lebensretter werden und was das Erysipel so gefährlich macht
Infektionen der Haut sind keine Randerscheinung der Dermatologie, sondern deren alltäglicher Ernstfall. Trotz eines biologisch hochentwickelten Schutzmechanismus, bestehend aus dem Säureschutzmantel, antimikrobiellen Peptiden und einer stabilen Mikrobiota, gehört die Haut zu den exponiertesten Angriffsflächen pathogener Keime. Und dennoch, so verwunderlich es angesichts der täglichen Konfrontation mit Milliarden Mikroorganismen auch erscheinen mag: Nicht jede Irritation endet in einer Infektion – aber jede Infektion beginnt mit einer unterschätzten Lücke im System. Für Apotheken eröffnet sich hier ein besonders sensibles Handlungsfeld zwischen niedrigschwelliger Beratung und präklinischer Frühwarninstanz.
Professor Dr. Julia Welzel, Direktorin der Klinik für Dermatologie und Allergologie am Universitätsklinikum Augsburg, erinnerte beim Pharmacon-Kongress in Meran daran, dass Apothekenteams nicht nur Symptome deuten, sondern auch klare Notfallsignale erkennen müssen. Die Verantwortung endet nicht an der Sichtwahl. Vielmehr beginnt dort, wo andere Einrichtungen mit Terminvergabe oder Schwellenangst ausgebremst werden. Dass sich Apotheken als erste Anlaufstelle positionieren, ist ihre Chance – aber auch ihre Verpflichtung.
Zu den häufigsten Verursachern bakterieller Hautinfektionen gehören Staphylococcus aureus und β-hämolysierende Streptokokken. Während sich S. aureus eher entlang von Haarfollikeln in vertikaler Richtung ausbreitet, durchziehen Streptokokken horizontal das Gewebe, häufig über Lymphspalten. Diese spezifische Ausbreitungsdynamik macht es umso wichtiger, dass Apothekerinnen und Apotheker nicht nur Keimnamen kennen, sondern deren klinische Signatur entschlüsseln können – besonders bei klassischen Krankheitsbildern wie Impetigo, Erysipel oder Abszessen.
Die Impetigo contagiosa – ansteckend und insbesondere im Kindesalter verbreitet – wird typischerweise durch Staphylokokken, gelegentlich auch Streptokokken, verursacht. Welzel wies darauf hin, dass eine solche Infektion oftmals ihren Ursprung in der Nasenregion nimmt. Die Empfehlung: lokale Desinfektionsgele vor antibiotischen Interventionen. Nur bei ausgeprägten oder multiplen Läsionen sei eine systemische Antibiose gerechtfertigt. Bemerkenswert ist, wie differenziert hier bereits im niederschwelligen Setting agiert werden kann – sofern die richtige Sensibilität vorhanden ist.
Anders verhält es sich beim Erysipel, das Welzel als „absoluten Notfall“ klassifizierte. Die Infektion, fast ausschließlich verursacht durch Streptokokken, dringt innerhalb kürzester Zeit in die Hautlymphspalten ein und führt zu Schwellung, Überwärmung, Schmerzen und systemischen Symptomen wie Fieber und Schüttelfrost. Der Verlauf ist rasant – und unbehandelt potenziell tödlich. Bis zu 30 Prozent der unbehandelten Fälle enden letal, warnte Welzel. Das erfordert nicht nur eine sofortige systemische Antibiose, sondern auch die konsequente Mitbehandlung der Eintrittspforten – insbesondere bei Fußpilzbefall. Wird der Tinea pedis nicht erkannt und beseitigt, drohen nicht nur Rückfälle, sondern eine kontinuierliche Reinfektion durch dieselbe Eintrittsstelle.
Apotheken, so Welzel, stehen hier gleich mehrfach in der Pflicht: Erstens als frühzeitiger Hinweisgeber auf die Notwendigkeit ärztlicher Versorgung bei typischen Red Flags wie akuter Schmerz, Rötung, Fieber oder eitrigen Absonderungen. Zweitens als Aufklärer über die Bedeutung von Hautpflege, Fußhygiene und Impfprävention. Und drittens als Vermittler zwischen Patient und medizinischem System, gerade bei vulnerablen Gruppen mit Schwellenangst.
Ein weiteres Beispiel für differenzierte Diagnostik und abgewogene Handlung ist der Umgang mit Abszessen. Wenn ein Abszess fluktuiert – also tastbar Flüssigkeit enthält –, kann eine Inzision durch den Arzt genügen. Antibiotika seien laut Welzel in den meisten Fällen gar nicht nötig, sofern eine hygienisch saubere Eröffnung erfolgt. Auch hier sind Apotheker:innen gefragt: als Aufklärende über die Selbstbeobachtung, als Beruhiger bei falschen Erwartungen, aber auch als Antreiber ärztlicher Konsultation im rechten Moment.
Besonders eindrücklich war Welzels Hinweis auf sogenannte „Eiter-Fallen“. Nicht alles, was eitrig aussieht, ist bakteriellen Ursprungs. Pilzinfektionen – etwa die tief abszedierende Trichophytie der Kopfhaut – können ebenfalls eitrig imponieren und führen unbehandelt zu Vernarbung und Alopezie. Die korrekte Therapie umfasst immer eine Kombination aus lokaler und systemischer antimykotischer Behandlung.
Die Reduktion dermatologischer Infektionen auf Rezeptpflicht und Wirkstoffempfehlung greift also viel zu kurz. Es geht um Beobachtung, Kontext, Kommunikation. Um die richtige Balance zwischen Zurückhaltung und Entschlossenheit. Und nicht zuletzt um die Akzeptanz, dass in Apotheken längst mehr geschieht als Beratung: Es ist Triage im besten Sinne.
Versorgung braucht Steuerung, Vertrauen braucht Hausärzte, Terminvergabe braucht System
Wie das Primärarztsystem alte Freiheitsversprechen neu bewertet, Effizienzpotenziale freilegt und auf breiten Rückhalt in der Bevölkerung trifft
Die Frage, ob man schneller einen Arzttermin erhält oder selbst entscheiden darf, zu welchem Facharzt man geht, war lange eine ideologische. Doch neue Zahlen und alte Versorgungsprobleme lassen das Thema in einem anderen Licht erscheinen: Der AOK-Bundesverband hat eine Forsa-Umfrage vorgelegt, die nicht nur eine Verschiebung im Denken der Bevölkerung offenbart, sondern auch die politische Debatte um das geplante Primärarztsystem neu befeuert. Zwei Drittel der Befragten würden auf die freie Facharztwahl verzichten – sofern der Hausarzt im Gegenzug schneller einen Facharzttermin organisiert. Diese Verschiebung markiert eine Zäsur im gesundheitskulturellen Selbstverständnis Deutschlands. Jahrzehntelang galt die freie Arztwahl als unantastbares Patientenrecht, als Symbol individueller Gesundheitsautonomie. Doch der Preis dafür war in den vergangenen Jahren zunehmend hoch: unkoordinierte Mehrfachdiagnosen, ausufernde Wartezeiten, eine Zwei-Klassen-Medizin bei der Terminvergabe.
Die AOK sieht sich in ihrer Position bestätigt. Vorstandsvorsitzende Carola Reimann spricht von einem „dringend notwendigen Paradigmenwechsel“ in der Steuerung medizinischer Ressourcen. Das Primärarztsystem, wie es der Koalitionsvertrag vorsieht, könne nicht nur helfen, Ressourcen effizienter zu nutzen, sondern auch die Belastung der Fachärzte senken und das Vertrauen in das GKV-System wieder stärken. Der Gedanke dahinter ist klar: Wer sich im komplexer werdenden Gesundheitswesen auf einen vertrauensvollen Lotsen – den Hausarzt – verlassen kann, spart nicht nur Wege, sondern auch Kosten. Der Hausarzt als primäre Anlaufstelle soll dabei nicht als Gatekeeper, sondern als Koordinator fungieren: beratend, vermittelnd, auffangend. Dass genau dieses Bild offenbar mehrheitsfähig ist, belegt die Umfrage eindrücklich.
Gleichzeitig wird mit der Diskussion über das Primärarztsystem ein zentrales Gerechtigkeitsproblem adressiert. Denn laut Umfrage fühlen sich 56 Prozent der gesetzlich Versicherten bei der Terminvergabe gegenüber privat Versicherten benachteiligt. Dieses strukturelle Ungleichgewicht erzeugt Frust, politische Angriffsfläche – und letztlich auch medizinische Ineffizienz. Reimann fordert deshalb ein verbindliches Ersteinschätzungsverfahren sowie eine Pflicht zur Meldung freier Termine durch Vertragsärzte. Nur so könne Transparenz hergestellt und das Ziel einer bedarfsgerechten Versorgung erreicht werden.
Die Bedeutung eines gut koordinierten Primärversorgersystems zeigt sich auch im internationalen Vergleich. Länder wie Dänemark oder die Niederlande, in denen Hausärzte als zentrale Koordinationsinstanzen fungieren, erreichen nachweislich bessere Versorgungswerte bei geringeren Kosten. Auch in Deutschland gibt es entsprechende Modellversuche – etwa in Baden-Württemberg oder Sachsen –, die positive Effekte auf Behandlungsqualität und Effizienz nachweisen konnten. Doch trotz dieser Erfahrungen blieb die bundesweite Implementierung bislang zögerlich. Die Politik fürchtete den Widerstand ärztlicher Fachverbände ebenso wie die emotionale Ablehnung weiter Teile der Bevölkerung.
Diese Sorge scheint nun entkräftet. Die aktuelle Forsa-Umfrage macht deutlich: Eine Mehrheit ist bereit, Versorgungsautonomie gegen Steuerung zu tauschen – wenn das System als fair, funktional und schnell wahrgenommen wird. Es ist ein bemerkenswerter Wandel in einer Debatte, die lange von Grundsatzrhetorik dominiert war. Die Bürgerinnen und Bürger wollen keine absolute Wahlfreiheit mehr, sondern eine zuverlässige Begleitung durch das System. Damit rückt die Funktion des Hausarztes neu in den Fokus – nicht als bloßer Gatekeeper, sondern als koordinierender Anker im Versorgungssystem.
Auch die Diskussion über die Rolle nichtärztlicher Gesundheitsberufe wird durch die Umfrage gestützt: 68 Prozent der Befragten befürworten eine stärkere Einbindung von Pflegefachpersonen, Physiotherapeuten oder Apotheken in die Regelversorgung. Für die AOK ist das ein weiterer Beleg für die Notwendigkeit multiprofessioneller Versorgungsteams. Die Entlastung ärztlicher Ressourcen, die Stärkung sektorenübergreifender Zusammenarbeit und die Nutzung digitaler Schnittstellen könnten so gemeinsam ein neues Systemvertrauen begründen.
Doch damit dieses neue System Vertrauen schaffen kann, braucht es klare Regeln, ausreichend Finanzierung – und eine politische Entschlossenheit, historische Besitzstände infrage zu stellen. Die Reform des Gesundheitswesens ist keine Frage technischer Detailkorrekturen mehr, sondern ein Projekt grundlegender Neusortierung. Das Primärarztsystem könnte dabei zum Schlüssel für eine nachhaltige Modernisierung werden. Es braucht jedoch mehr als ein Bekenntnis im Koalitionsvertrag: Es braucht Umsetzung, Verlässlichkeit und – wie die Umfrage zeigt – das Vertrauen der Menschen. Dieses Vertrauen ist heute greifbar. Es nicht zu nutzen, wäre fahrlässig.
Wenn Kindheit leer bleibt, Familie zerbricht, Armut belastet
Warum Einsamkeit bei Grundschulkindern zunimmt, Trennungen und Geldnot zentrale Risikofaktoren sind und die Forschung hinterherhinkt
Der Spielplatz ist voller Kinder, aber mittendrin steht ein Kind, das schweigt. Es ist umgeben von Stimmen, Gelächter, Bewegung – und fühlt sich dennoch allein. Was wie ein individuelles Empfinden wirkt, entpuppt sich unter dem Brennglas der Sozialforschung als gesellschaftlich verbreitetes Phänomen mit bedrohlicher Tiefe. Einsamkeit ist kein Vorrecht des Alters mehr. Sie hat längst Einzug in die Kinderzimmer gehalten.
Laut aktueller Auswertung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) fühlt sich mehr als jedes fünfte Kind im Grundschulalter zumindest gelegentlich einsam – eine Zahl, die nachdenklich macht. 17 Prozent geben an, hin und wieder von Einsamkeit betroffen zu sein, 5 Prozent erleben sie sogar häufig oder sehr häufig. Diese Werte stammen aus Erhebungen von 2023 und stehen nun im Zentrum der Aktionswoche »Gemeinsam aus der Einsamkeit«. Der Zeitpunkt ist bewusst gewählt, denn das Thema ist dringend – und komplex.
Die neue Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU) betonte zum Auftakt der Aktionswoche, dass Einsamkeit nicht bloß eine soziale, sondern auch eine gesundheitliche Herausforderung darstellt. Ihre Strategie: die Arbeit der Vorgängerin Lisa Paus fortsetzen, zugleich aber mit neuen Impulsen versehen. Das klingt nach Kontinuität, doch die Herausforderung hat sich längst verschärft. Denn Einsamkeit bei Kindern ist kein Randphänomen mehr – sie ist ein Symptom wachsender struktureller Brüche im Lebensumfeld der Jüngsten.
Insbesondere Kinder aus Trennungs- und Stieffamilien trifft es überdurchschnittlich häufig. 28 Prozent der Kinder, die bei nur einem Elternteil leben, berichten von Einsamkeit, bei Kindern in Stieffamilien sind es sogar 34 Prozent – ein Anstieg, der sich nicht allein durch subjektive Wahrnehmung erklären lässt. Die Soziologin Alexandra Langmeyer verweist auf die emotionale Erschütterung, die eine elterliche Trennung bei Kindern hinterlässt. Diese könne das Gefühl des Verlassenseins auslösen, auch wenn objektiv Fürsorge vorhanden sei. Es ist die gefühlte Unsicherheit, die das soziale Grundvertrauen erschüttert.
Verstärkt wird dieser Effekt durch ökonomische Sorgen. Kinder, die in Familien mit finanziellen Engpässen leben, erleben Einsamkeit signifikant häufiger. In Haushalten, die sich Alltagsausgaben kaum leisten können, fühlen sich 29 Prozent der Kinder mindestens manchmal einsam – verglichen mit 21 Prozent in finanziell stabileren Verhältnissen. Geldmangel ist damit mehr als nur eine materielle Einschränkung. Er übersetzt sich in Stress, Zeitmangel, unausgesprochene Konflikte – kurz: in ein beeinträchtigtes Familienklima, das kindliche Isolation begünstigt.
Auch psychische Belastungen spielen eine Rolle. Kinder, die von ihren Eltern als verhaltensauffällig eingeschätzt wurden, berichten häufiger über Einsamkeitserfahrungen. Die Richtung dieses Zusammenhangs bleibt allerdings offen. Die Co-Autorin der Studie, Christine Entleitner-Phleps, warnt davor, vorschnell Kausalitäten anzunehmen: Möglicherweise sei Einsamkeit ein Auslöser für soziale Rückzüge, vielleicht aber auch eine Folge von psychischen Auffälligkeiten. Beide Wege seien plausibel – beide bräuchten differenzierte Forschung.
Doch genau hier liegt das Problem. Deutschland verfügt bislang über keine belastbare Langzeitstudie, die kindliche Einsamkeit systematisch über Jahre hinweg analysiert. Die DJI-Erhebung ist ein wichtiger Indikator, aber keine Grundlage für konkrete Interventionsprogramme. Notwendig wären Studien, die biografisch ansetzen, Entwicklungsverläufe sichtbar machen und so politische Programme besser steuern könnten. Denn bisher fehlt eine evidenzbasierte Strategie, die über punktuelle Aktionswochen hinausreicht.
Der politische Wille zur Veränderung scheint zwar gegeben – doch es fehlt an struktureller Verbindlichkeit. Wenn Karin Prien verspricht, die Einsamkeitsstrategie neu zu beleben, dann braucht das mehr als gute Absichten. Es braucht Budget, Fachpersonal, Forschungszugang – und vor allem: einen interdisziplinären Schulterschluss zwischen Sozialforschung, Bildungspolitik und Kinderpsychologie. Nur so lässt sich verhindern, dass Kinder Einsamkeit als Normalität erleben – und nicht mehr als Ausnahme.
Denn Einsamkeit ist nicht nur ein Zustand. Sie ist eine biografische Prägung. Wer als Kind dauerhaft soziale Isolation erlebt, dessen neuronale Bahnungen, dessen Selbstbild und soziale Kompetenzen entwickeln sich anders – häufig in Richtung Misstrauen, Rückzug, Passivität. Frühkindliche Einsamkeit ist daher nicht nur ein akutes Symptom, sondern eine Vorform späterer psychischer Erkrankungen. Die Langzeitfolgen können gravierend sein – von depressiven Verstimmungen bis hin zu schwer behandelbaren Angststörungen.
Die politische Aufgabe ist also klar: Einsamkeit bei Kindern darf nicht als individuelles Problem verklärt werden. Sie ist ein Spiegel struktureller Schwächen – in der Familienpolitik, der sozialen Sicherung, der Bildungslandschaft. Wer sie bekämpfen will, muss an vielen Stellen zugleich ansetzen. Und vor allem: muss Kinder endlich als eigenständige Subjekte ernst nehmen – mit sozialen Bedürfnissen, die nicht auf Schule, Betreuung und Bildschirmzeit reduziert werden dürfen.
Von Engin Günder, Fachjournalist
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