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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |
Ein Rechenzentrum gerät ins Visier, Apotheken fürchten um ihre Glaubwürdigkeit, und Ministerin Warken verteidigt digitale Pläne – das Gesundheitswesen steht an einem neuralgischen Punkt, an dem technische Schwächen, wirtschaftliche Erosion und politische Versäumnisse ineinander greifen. Während das ARZ Darmstadt einen mutmaßlichen Betrugsfall öffentlich machen muss, zeigt der neue Apothekenwirtschaftsbericht in aller Härte, dass betriebliche Stabilität vielerorts längst der Ausnahmefall ist. Zugleich geraten Rezeptfälschungen erneut in den Fokus der Strafverfolgung, diesmal im großen Stil in Nordrhein-Westfalen – mit Milliardenrisiko. Die Einführung der ePA wird von technischen Ausfällen überschattet, während auf dem Ärztetag sowohl Primärarztsystem als auch KI-Einsatz diskutiert werden. Rückrufe wie jener zu Homosalat-Produkten und der Rückzug von Sandoz bei Salbutamol-Sprays zeigen, wie Umweltrecht und Marktversagen Versorgung gefährden können. Und auch bei Metformin droht durch EU-Regulierungen ein Rückzug zentraler Anbieter. Parallel geraten Cannabis-Plattformen ins juristische Abseits, Apothekenteams ringen um Führung und Stabilität, die STIKO warnt vor Zoster-Risiken bei JAK-Inhibitoren, und eine US-Studie stellt die Frage, ob HSV-1 an Alzheimer beteiligt sein könnte. In Summe ergibt sich ein Befund: Die Systeme wanken, die Risiken steigen – und Apotheken stehen im Zentrum der Entwicklung.
Rechenzentrum meldet Kontrolle, Ermittler sehen Missbrauch, Apotheker bangen um Vertrauen
Wie das ARZ Darmstadt mit dem Betrugsfall umgeht, warum technische Sicherheit nicht vor Reputationsschäden schützt und Apotheken ihre Abrechnungsrisiken neu bewerten müssen
Es klang zunächst wie ein gewöhnlicher Verdachtsfall, wie er im deutschen Gesundheitswesen bedauerlich häufig geworden ist: Ein Arzt, ein Unternehmen, einige gefälschte Rezepte – und ein möglicher Schaden, der sich wie üblich in Millionenhöhe summieren könnte. Doch der aktuelle Fall rund um das Apothekenrechenzentrum (ARZ) Darmstadt markiert einen Punkt, an dem sich drei Linien schneiden: Die technische Integrität eines zentralen IT-Dienstleisters für Apotheken, das zunehmend fragil gewordene Vertrauen in die Sicherheitsarchitektur pharmazeutischer Abrechnung – und die Frage, welche Haftungssysteme tatsächlich greifen, wenn der digitale Filter versagt. Während sich das Rechenzentrum nach außen hin demonstrativ gelassen gibt, dürfte der Imageschaden längst messbar sein. Das größere Risiko aber tragen andere: die Apothekenbetriebe.
Denn was auf den ersten Blick wie ein Fall interner Compliance wirkt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als systemischer Stresstest. Der Verdacht lautet: gewerbsmäßiger Betrug und Urkundenfälschung durch mindestens sieben Beschuldigte – Geschäftsführer von Unternehmen aus dem Bereich Pharmabedarf, die über Scheinrezepte für Sprechstundenbedarf Leistungen in zweistelliger Millionenhöhe abgerechnet haben sollen. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Köln laufen seit Monaten, mit Durchsuchungen von Wohnungen, Praxisräumen und Unternehmenssitzen. Auch das ARZ Darmstadt steht im Fokus, wenngleich das Unternehmen betont, weder Ziel noch Adressat dieser Maßnahmen gewesen zu sein.
Dabei liefert das Rechenzentrum selbst die entscheidende Wendung der Geschichte: Man habe den Betrugsversuch rechtzeitig erkannt, intern aufgearbeitet, die Behörden informiert – und weder ein finanzielles Risiko noch eine Beeinträchtigung der eigenen Abläufe erlitten. Auch das Treuhandvermögen der Kunden sei zu keiner Zeit gefährdet gewesen. Diese Darstellung ist sauber, formal korrekt – aber kommunikativ brisant. Denn wer zu lange schweigt, riskiert, in den Strudel der Verdächtigungen zu geraten, selbst wenn er sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Gerade in einem Markt, in dem Vertrauen in digitale und prozessuale Zuverlässigkeit alles ist, wiegt das Kommunikationsverhalten oft schwerer als die eigentliche Rolle im Ermittlungsfall.
Aus Sicht vieler Apotheken beginnt genau hier das eigentliche Problem: Der Fall betrifft nicht nur das ARZ, sondern alle Betriebe, die ihre sensiblen Daten, Rezeptabrechnungen und finanziellen Mittel in die Hände externer Dienstleister legen – in der Annahme, dass dort nicht nur technische, sondern auch organisatorische Redundanz herrscht. Die Erkenntnis, dass potenziell gefälschte Rezepte trotz standardisierter Prüfroutinen zunächst akzeptiert und verarbeitet wurden, lässt den Rückschluss zu: Selbst in vermeintlich geschlossenen Systemen gibt es operative Lücken. Lücken, die Apotheken teuer zu stehen kommen können, wenn etwa Rückforderungen der Krankenkassen drohen oder Versicherungen mangels klarer Haftungslage in Regress gehen.
Und während sich das ARZ Darmstadt um Schadensbegrenzung bemüht, müssen Apotheken ganz eigene Konsequenzen ziehen: Prüfkaskaden neu aufsetzen, Verträge mit Abrechnungsdienstleistern auf Haftung und Reaktionszeiten hin untersuchen, Rückversicherungsklauseln schärfen – und im Zweifel selbst Strafanzeige stellen, sobald Verdachtsmomente auftauchen. Denn wer sich auf die Kontrolle anderer verlässt, übernimmt im Ernstfall dennoch die Verantwortung für sein eigenes Unternehmen. Das gilt auch für den Fall, dass man – wie offenbar das ARZ – nur „mittelbar betroffen“ ist.
Die wichtigste Lehre des Falls ist nicht juristischer, sondern struktureller Natur: Wenn selbst hochgradig digitalisierte Abrechnungsprozesse durch handfeste Fälschungen unterlaufen werden können, dann braucht es ein neues Zusammenspiel aus technischer Kontrolle, menschlicher Aufmerksamkeit und versicherungsrechtlicher Absicherung. Die bloße IT-Redundanz reicht nicht mehr aus, um Vertrauen zu schaffen – weder bei Kunden, noch bei Partnern, noch bei Ermittlungsbehörden. Für das ARZ Darmstadt beginnt damit eine neue Ära der Transparenzpflicht – für Apotheken die Phase der präventiven Selbstverantwortung.
Apothekenlandschaft ohne nachhaltige Stabilität, wirtschaftlicher Kraftverlust ohne Gegenlenkung, Reformvorschläge ohne Wirkungstiefe
Was der Apothekenwirtschaftsbericht 2024 sichtbar macht, welche Kennzahlen auf strukturelle Schieflagen verweisen und warum politisches Handeln zu spät kommt
Die wirtschaftliche Lage der Apotheken in Deutschland gleicht einem Dauerlauf im Nebel: immer neue Belastungen, keine klare Richtung, kaum Aussicht auf stabile Perspektiven. Der neue Apothekenwirtschaftsbericht des Deutschen Apothekerverbands (DAV) legt schonungslos offen, wie tief die strukturellen Risse inzwischen reichen – und dass das System längst nicht mehr durch bloße Effizienzkompensation zu stabilisieren ist. Die Analyse der wichtigsten Eckdaten aus dem Berichtsjahr 2022 – dem aktuellen Referenzjahr des DAV – offenbart eine angespannte Balance zwischen steigenden Kosten, stagnierenden Einnahmen und politisch unzureichend wirksamen Gegenmaßnahmen.
Ein zentrales Problem: Die gesetzlich fixierte Vergütung für verschreibungspflichtige Arzneimittel stagniert trotz nachweislich gestiegener Anforderungen und Betriebskosten. Das Rohergebnis pro Rx-Arzneimittel liegt weiterhin bei 8,35 Euro – ein Fixbetrag, der sich seit 2013 kaum verändert hat und mittlerweile real deutlich entwertet ist. Zwar erzielten Apotheken laut Bericht einen durchschnittlichen Jahresumsatz von rund 2,49 Millionen Euro, doch diese Zahl täuscht über die realwirtschaftliche Drucksituation hinweg. Denn gleichzeitig stiegen die Personalkosten im Mittel auf 441.000 Euro – ein Plus von über 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr – während das durchschnittliche Betriebsergebnis der Apotheken um knapp 10 Prozent zurückging. Die Marge schrumpft, obwohl die Leistung wächst.
Der DAV-Bericht dokumentiert nicht nur betriebswirtschaftliche Kennzahlen, sondern liefert auch Hinweise auf regionale Schieflagen und Differenzierungstendenzen im Markt. Die Zahl der Apotheken mit Filialen liegt bei 18,5 Prozent, während die Gesamtanzahl der Betriebe erneut gesunken ist. Gleichzeitig verschärft sich die Schere zwischen großen, wirtschaftlich resilienten Standorten und kleineren, personalintensiven Landapotheken. In Kombination mit Lieferengpässen, wachsendem Beratungsbedarf und strukturell überalterten Inhaberstrukturen ergibt sich eine Gemengelage, die das System zunehmend destabilisiert. Der DAV selbst spricht in seinem Bericht von „anhaltender wirtschaftlicher Erosion“, ohne dabei allerdings konkrete politische Forderungen mit Nachdruck zu platzieren.
Gerade an dieser Stelle beginnt die eigentliche Brisanz der Analyse: Denn der Bericht zeigt zwar die Symptome, enthält aber kaum substanzielle Vorschläge zur systemischen Behebung. Die in politischen Kreisen diskutierten Erhöhungen des Fixums, pauschale Zuschläge für pharmazeutische Dienstleistungen oder Entlastungen im Retaxationswesen greifen entweder noch nicht oder bleiben punktuelle Flickwerke. Dass der DAV im eigenen Bericht mehr die rückblickende Darstellung als die politische Offensive wählt, lässt Raum für Kritik – gerade vor dem Hintergrund, dass sich immer mehr Apotheken aus dem Markt zurückziehen und die Nachfolgelücken rapide wachsen.
Flankierend zur wirtschaftlichen Auswertung lässt sich auch eine tiefere soziopolitische Analyse anschließen: Die Apothekenlandschaft wird nicht nur von ökonomischen Kräften geprägt, sondern auch von einem gesellschaftlichen Vertrauensverlust in die politische Steuerung des Gesundheitssystems. Die schleppende Umsetzung des E-Rezepts, zunehmende regulatorische Belastung und fehlende Digitalisierungsperspektiven führen zu einer kollektiven Erschöpfung in den Betrieben. Parallel steigen die Anforderungen an Beratung, Medikationsmanagement und Notdienstfähigkeit – alles Aufgaben, die ohne strukturelle Gegenfinanzierung langfristig nicht mehr leistbar sind. Die Daten im Bericht belegen genau das, ohne es klar zu benennen.
Dabei wäre gerade jetzt die Zeit für ein reformpolitisches Kraftsignal: Ein modernes Apothekenvergütungsmodell, das Beratung, Versorgungssicherheit und Personalbindung abbildet, fehlt nach wie vor. Das Modell „Rx-Fixum plus Dienstleistungen“ bleibt auf halbem Weg stehen, weil es die Kernfrage nach Investitionsfähigkeit nicht adressiert. Der DAV-Bericht spricht zwar vom „Bemühen, neue Versorgungsformen zu integrieren“, bleibt aber vage, was Umsetzung, Wirkung und Skalierbarkeit angeht. Dass im Jahr 2022 nur etwa 4 Prozent der Apotheken ein pDL-Angebot in nennenswerter Form etablierten, zeigt die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
In diesem Kontext ist auch das politische Umfeld zu betrachten. Während Gesundheitsminister Lauterbach auf nationaler Bühne verstärkt über Krankenhaustransformation und Digitalstrategie spricht, wird die Apothekenlandschaft strukturell ignoriert oder auf vereinzelte Versorgungsprogramme reduziert. Eine nachhaltige Strategie für inhabergeführte Apotheken als wohnortnahe Säule des Gesundheitssystems bleibt aus – trotz nachweislicher Resilienz in Pandemie und Krisen. Der aktuelle DAV-Bericht liefert in dieser Gemengelage zwar wichtige Zahlen, doch keine Durchschlagskraft. Was bleibt, ist ein betriebswirtschaftliches Protokoll des Stillstands.
Denn die zentrale Erkenntnis aus der Analyse lautet: Die wirtschaftliche Basis der Apotheken bröckelt – schleichend, aber stetig. Ohne politischen Paradigmenwechsel, der über bloße Zuschüsse hinausgeht und langfristig strukturelle Investitionssicherheit herstellt, wird sich das Apothekensterben fortsetzen. Die Daten im Bericht machen das unmissverständlich klar – sie brauchen nur die richtige politische Lesart.
Gefälschte Rezepte, Millionenbetrug, Ermittlungen gegen Abrechnungszentren
Wie sich ein mutmaßliches Betrugsnetz in NRW entfaltet, Rechenzentren ins Visier geraten und der Sprechstundenbedarf zum Tatmittel wird
Es sind keine Einzelfälle mehr – es ist ein System. Die aktuellen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Köln werfen ein grelles Licht auf ein Geschäftsmodell, das mit gefälschten Rezepten für den Sprechstundenbedarf über Jahre hinweg Millionenbeträge aus dem Gesundheitswesen gezogen haben soll. Das mutmaßliche Netzwerk, das inzwischen mindestens sieben Personen umfasst, arbeitete offenbar planvoll, arbeitsteilig und mit einer Präzision, die nur deshalb aufflog, weil einzelne Kontrollinstanzen doch noch griffen. Doch die Frage, wie solche Vorgänge überhaupt über die Rezeptschwelle in die Abrechnung gelangen konnten, rückt nun Rechenzentren, Praxen und Apotheken zugleich in den Fokus.
Am Dienstagmorgen schlugen die Ermittler zu. Im Rhein-Erft-Kreis, in Köln und im Sauerland durchsuchten sie Wohnräume, Geschäftssitze und eine Arztpraxis. Im Zentrum steht der Verdacht: Scheinverordnungen für Sprechstundenbedarf wurden ausgestellt, eingereicht, abgerechnet – ohne je real in Anspruch genommen worden zu sein. Drei der sieben Beschuldigten sitzen inzwischen in Untersuchungshaft. Der Tatvorwurf: gewerbsmäßiger, gemeinschaftlich begangener Betrug sowie Urkundenfälschung. Der finanzielle Schaden, so die Staatsanwaltschaft, liege bereits jetzt bei mindestens 6,6 Millionen Euro – eine Summe, die angesichts der breiten Ermittlungen noch wachsen dürfte.
Sprechstundenbedarf gilt in der medizinischen Versorgung als sensibles, aber notwendiges Instrument: Hierüber beziehen Praxen Materialien, Arzneimittel oder Diagnostika, die nicht patientenbezogen, sondern zur generellen Versorgung in der Praxis bestimmt sind. Die Verordnung erfolgt zulasten der gesetzlichen Krankenkassen, wobei die ärztliche Praxis, das Rezept, die Apotheke und das Abrechnungszentrum ineinandergreifen müssen. Genau an dieser Schnittstelle – zwischen ärztlicher Verordnung und kassenfinanzierter Abrechnung – scheint das mutmaßliche Netzwerk angesetzt zu haben.
Was dabei besonders brisant ist: Laut dem Sprecher der Staatsanwaltschaft Köln wurden Verordnungen nicht nur gefälscht, sondern auch systematisch über Abrechnungszentren verarbeitet. Diese Rechenzentren stehen nun ebenfalls im Fokus der Ermittlungen. Denn sie übernahmen nicht nur die formale Rechnungsstellung gegenüber den Krankenkassen, sondern dienten offenbar als entscheidendes Nadelöhr, durch das die gefälschten Dokumente in das GKV-System eingespeist wurden – unbemerkt, unkontrolliert, jahrelang. Dass diese Stelle versagt haben könnte, weckt Erinnerungen an frühere Betrugsfälle im Gesundheitswesen, bei denen Kontrollmechanismen nur auf dem Papier existierten.
Die nun sichergestellten Verordnungen dienen als zentrales Beweismaterial. Ermittler prüfen derzeit, in welchem Umfang Rezepte tatsächlich manipuliert wurden – und ob diese innerhalb der Abrechnungszentren bewusst durchgewunken wurden oder ob strukturelle Defizite im Kontrollsystem den Missbrauch begünstigten. Das wirft auch Fragen an die Betreiber der Rechenzentren auf: Wer trägt die Verantwortung, wenn systematisch gefälschte Dokumente über ihre Infrastruktur abgerechnet werden? Können sie sich auf eine rein formale Prüfung zurückziehen – oder sind sie haftbar, wenn ein Schaden in Millionenhöhe entsteht?
Währenddessen wächst der Druck auf die gesamte Abrechnungskette. Nicht nur Krankenkassen, auch Apotheken könnten betroffen sein – insbesondere dann, wenn sie unwissentlich Lieferungen auf Basis gefälschter Verordnungen ausgeliefert und abgerechnet haben. Ob sie in gutem Glauben handelten oder Teil des Netzwerks waren, wird Teil der weiteren Ermittlungen sein. Branchenintern heißt es, dass es sich wohl nicht um eine spontane Einzelaktion handelte, sondern um ein längeres, tiefgreifendes Konstrukt. Ein Insider aus der Apothekenbranche spricht von „vorgefertigten Mustern“, bei denen alle Beteiligten genau wussten, an welchem Punkt im System sich eine Lücke auftat.
Auch gesundheitspolitisch könnte der Fall Kreise ziehen. Die Frage, wie sicher die Abrechnungssysteme in Deutschland tatsächlich sind, stellt sich nicht nur in Bezug auf Apotheken, sondern auch auf die digitalisierte Infrastruktur. Gerade im Zuge der Einführung des E-Rezepts wurde mehrfach betont, dass digitale Prozesse mehr Sicherheit und Nachverfolgbarkeit bringen würden. Wenn sich nun herausstellt, dass selbst analoge Prüfmechanismen reihenweise versagen, dürfte das Vertrauen in die digitale Zukunft nicht automatisch steigen.
Ein weiterer Aspekt ist die Rolle der Kassenärztlichen Vereinigungen, die zwar nicht direkt in die Abrechnung involviert sind, aber als Kontrollinstanzen fungieren. Ob und inwieweit dort Warnsignale registriert wurden, ist bislang nicht bekannt. Ebenso offen ist, ob und wie Krankenkassen nun versuchen werden, sich gegenüber Rechenzentren oder Apotheken schadlos zu halten – und ob sich daraus eine neue Klagewelle ergeben könnte.
Für die Staatsanwaltschaft Köln ist der Fall noch lange nicht abgeschlossen. Im Gegenteil: Man befinde sich in einem sehr frühen Stadium, so ein Sprecher. Es sei davon auszugehen, dass sich der Komplex ausweitet, weitere Tatbeteiligte identifiziert und zusätzliche Beweismittel ausgewertet werden. Gleichzeitig ist zu erwarten, dass sich die betroffenen Institutionen um Schadensbegrenzung bemühen – in einem System, das von Vertrauen lebt, aber gerade dieses Vertrauen zunehmend eingebüßt hat.
Verantwortung klären, Klarheit schaffen, Motivation entfachen
Wie Führungsstruktur, Kommunikationsregeln und Verhaltenssicherheit Apothekenteams stärken, Fachkräfte binden und Konflikte vermeiden helfen
Sie sind rar, begehrt und kaum zu ersetzen: qualifizierte Mitarbeitende in Apotheken. Wer sie hat, versucht sie zu halten – wer sucht, kämpft gegen Windmühlen. Doch während vielerorts der Mangel an Fachkräften beklagt wird, bleibt eine zentrale Frage oft unbeantwortet: Warum bleiben Menschen? Und unter welchen Bedingungen wachsen sie über sich hinaus? Apothekeninhaber Nicolas Klose hat dafür eine einfache, aber tiefgreifende Antwort: durch klare Führung, explizite Erwartungen und verlässliche Regeln, die nicht stören, sondern Orientierung geben.
In vielen Apotheken herrscht kein Mangel an fachlichem Können, sondern an strukturierter Führung. Klose sieht darin den wahren Engpass der Branche. Nicht zu wenig Engagement, sondern zu viel Unklarheit sei das Problem: „Wenn ich nicht weiß, was meine Chefin von mir erwartet, wo meine Rolle aufhört und was gute Leistung bedeutet, kann ich weder sicher handeln noch motiviert bleiben.“ Genau hier setzt seine Strategie an: Führung muss vorleben, strukturieren, Rückhalt geben. Nur wer sich in einem klar definierten Rahmen bewegt, kann Verantwortung übernehmen.
Dabei ist Führung für Klose nicht autoritäres Durchgreifen, sondern ein Werkzeug der Befähigung. Im Zentrum stehen Alltagssicherheit, offene Kommunikation und eine geregelte Fehlerkultur. Der berühmte Zettel mit der Aufschrift „Bitte sauber hinterlassen“ über dem Pausenraumspülbecken mag trivial erscheinen – aber in Wahrheit signalisiert er: Ordnung ist nicht optional, sondern Teil der Kultur. Wer Regeln benennt, entlastet Beziehungen. Was gesagt ist, muss nicht mehr zwischen den Zeilen erahnt werden.
Klose fordert einen Wandel weg von der unausgesprochenen Erwartungshaltung hin zu einem aktiven Führungsdialog. In Apothekenteams, die unter Personaldruck stehen, entsteht schnell Frust, wenn Leistungen ungesehen bleiben oder Konflikte nicht geklärt werden. Hier helfe nur: Ansprechen statt Anstauen. Und das nicht situativ, sondern strukturell verankert. Regelmäßige Teamgespräche, klare Zuständigkeiten, definierte Übergaben – das sind keine Managementmoden, sondern Grundpfeiler psychologischer Sicherheit.
Dazu gehört auch, sich selbst als Führungskraft zu hinterfragen. „Bin ich verfügbar? Gebe ich Rückmeldung? Reagiere ich berechenbar?“ – wer diese Fragen verlässlich mit Ja beantworten kann, legt den Grundstein für ein loyales Team. Klose beschreibt es als Führung durch Vertrauen – aber nicht blindes, sondern strukturiertes Vertrauen. Mitarbeitende brauchen nicht mehr Freiraum, sondern mehr Klarheit darüber, wo der Freiraum beginnt und wo er endet.
Diese Klarheit wirkt sich auch auf die Außensicht aus. In Bewerbungsgesprächen ist es längst nicht mehr nur das Gehalt, das zählt, sondern die Frage: Werde ich ernst genommen? Ist das Team stabil? Gibt es erkennbare Regeln oder werde ich in ein Chaos geworfen? Wer darauf keine Antwort hat, verliert schon vor dem ersten Arbeitstag. Umgekehrt, so Klose, lassen sich selbst skeptische Kandidat:innen überzeugen – wenn sie spüren, dass Führung kein Zufallsprodukt ist.
Gerade in kleinen Betrieben, in denen Inhaber:innen gleichzeitig wirtschaftliche Verantwortung, Kundenbindung und Personalführung stemmen müssen, wird Führung schnell zur Überforderung. Doch wer sich auf die Regelkommunikation konzentriert, gewinnt Zeit: weil weniger Missverständnisse entstehen, weil Entscheidungen vorbereitet sind, weil Rollen nicht ständig neu verhandelt werden. Der Aufwand liegt am Anfang – die Entlastung kommt später.
Die Kunst liegt dabei im richtigen Maß: Regeln dürfen nicht erdrücken, sondern müssen entlasten. Je stärker das Team eingebunden wird, desto besser funktionieren auch Veränderungen. Klose empfiehlt deshalb, gemeinsam mit dem Team Verhaltensgrundlagen zu entwickeln – etwa für den Umgang mit Fehlern, die Besetzung der Offizin oder das Verhalten in Stoßzeiten. Das schafft Akzeptanz und Verbindlichkeit.
Eine solche Führungskultur hat nichts mit Hierarchie zu tun, sondern mit Verlässlichkeit. In einer Branche, die unter Fachkräftemangel und digitalem Wandel gleichzeitig leidet, braucht es keine Perfektionisten an der Spitze – aber Klarheit, Konsistenz und Kommunikationsbereitschaft. Wer das leistet, baut kein System des Gehorsams, sondern ein Team mit Rückgrat.
Damit verändert sich auch das Bild der Apotheke als Arbeitsplatz. Sie wird zur Strukturinsel in einem fragmentierten Gesundheitswesen, zum sicheren Hafen für Menschen, die wissen, dass Arbeit nicht nur ein Ort ist, sondern ein Rahmen. Und genau das macht den Unterschied – zwischen Fluktuation und Loyalität, zwischen Überforderung und gemeinsamer Stärke.
Digitalisierung fordert Verlässlichkeit, politischer Wille trifft Systemgrenzen, Akzeptanz braucht Vertrauen
Warum Ministerin Warken an der ePA-Pflicht festhält, technische Ausfälle das Projekt gefährden und die Ärzteschaft vor ungelösten Praxisfragen steht
Es war ein demonstrativer Appell zur Unzeit, den Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU) bei der Eröffnung des Deutschen Ärztetags in Leipzig vortrug. „Wir halten am Zeitplan fest“, sagte sie mit fester Stimme und blickte dabei in ein Auditorium, das nicht nur aus Überzeugung klatschte. Es war Dienstagmittag – und die elektronische Patientenakte (ePA), das Herzstück der digitalen Gesundheitsvision der Bundesregierung, war zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als zwölf Stunden nur eingeschränkt funktionsfähig. Ausgerechnet die Komponente zur Übernahme von Rezeptdaten war betroffen – und damit eine der zentralen Schnittstellen zur Apothekenpraxis.
Dass ausgerechnet die Gematik, zuständig für die Telematikinfrastruktur, diesen Ausfall nur mit vagen Informationen kommunizieren konnte, machte die Lage nicht besser. „Es besteht eine Störung an einer technischen Komponente, die für die ePA relevant ist“, hieß es in der Mitteilung vom späten Montagabend. Am Dienstag um 13 Uhr war das Problem weiterhin ungelöst. Betroffen: Versicherte bei Kassen wie DAK, Allianz, KKH, IKK und anderen – und damit Hunderttausende, die theoretisch seit April auf die ePA zugreifen können sollten.
Der Kontrast zwischen Warkens politischer Rhetorik und der realen Systemlage ist bezeichnend für den digitalen Gesundheitsdiskurs in Deutschland. Während die Ministerin von „Zukunft“ spricht, ringen Arztpraxen, Apotheken und IT-Dienstleister um Alltagstauglichkeit. Die Ärztetagsdelegierten quittierten die Worte der Ministerin mit höflicher Aufmerksamkeit, aber ohne erkennbare Euphorie. In den Reihen der Delegierten sitzt eine Berufsgruppe, die längst verstanden hat, dass digitale Infrastruktur kein politisches Bekenntnis ist, sondern funktionierende Technik.
Dabei war der Zeitpunkt der Eröffnungsrede bewusst gewählt. Mit der Pflichtnutzung der ePA ab 1. Oktober 2025 steht ein Meilenstein bevor – und eine Debatte, ob dieser Termin realistisch bleibt. Die ePA ist kein neues Projekt. Bereits unter Jens Spahn wurde sie entworfen, später unter Karl Lauterbach verfeinert. Nun ist Nina Warken die dritte Gesundheitsministerin, die an der Umsetzung gemessen wird. Und sie setzt auf Durchhalteparolen: „Helfen Sie uns, die ePA besser zu machen!“, lautete ihr Aufruf an die Ärzteschaft – ein Appell, der die Verantwortung wieder einmal an die Basis delegiert.
Doch wie tragfähig ist dieser Zeitplan in einer Struktur, die auf föderale IT-Systeme, heterogene Praxissoftware, unvollständige Schulung und unausgereifte Anwendungen trifft? Die Probleme beginnen bei der Technik – und reichen bis zur Logik der Datennutzung. Noch immer ist unklar, wie ein standardisierter Datenzugriff bei Mehrfachversicherungen, Behandlungsbrüchen oder sektorübergreifenden Diagnosen funktionieren soll. Datenschutzrechtliche Fragen sind ungelöst, ebenso wie die Haftung bei fehlenden oder falschen ePA-Einträgen.
Apotheken beklagen fehlende Schnittstellen, Arztpraxen klagen über zusätzliche Belastungen, und Versicherte berichten von Verwirrung – denn die Informationskampagnen zur ePA sind kaum sichtbar. Währenddessen laufen Feldtests mit realen Patientendaten in einer Umgebung, die mehr Experiment als Infrastruktur ist. Die Bitmarck-Störung in dieser Woche zeigt erneut: Die Verlässlichkeit der Grundsysteme bleibt die größte Schwachstelle der Digitalisierung. Und genau hier liegt der Widerspruch zur politischen Zielsetzung. Denn ohne Redundanz, Fehlertoleranz und Krisenreaktionsmechanismen ist ein verpflichtendes System nicht nur riskant – es gefährdet das Vertrauen in digitale Medizin insgesamt.
In der Ärzteschaft mehren sich Stimmen, die nicht grundlegend gegen die ePA sind, wohl aber gegen einen politisch verordneten Zeitdruck ohne realistische Planung. „Wir brauchen keine Fristen, wir brauchen Funktionalität“, sagte ein Delegierter am Rande der Veranstaltung. Und in der Tat: Die Geschwindigkeit, mit der ein digitales System eingeführt wird, sagt nichts über dessen Qualität – oder Akzeptanz – aus.
Ministerin Warken hingegen setzt auf politisches Momentum. Nach dem Rückzug Lauterbachs ist sie entschlossen, Digitalprojekte mit symbolischer Wucht voranzutreiben. Doch genau darin liegt auch das Risiko: Wenn Symbolik Technik ersetzt, wächst die Distanz zwischen Anspruch und Alltag. Die ePA könnte zu einem Projekt werden, das politisch überhöht und praktisch unterläuft – mit weitreichenden Folgen für die digitale Glaubwürdigkeit der Regierung. Denn wer ein Gesundheitsprojekt mit öffentlichem Zwang versieht, muss auch in der Lage sein, dessen Funktionsfähigkeit zu garantieren.
Am Ende bleibt ein Satz aus Warkens Rede hängen: „Die ePA ist die Zukunft.“ Vielleicht. Aber nur, wenn sie auch die Gegenwart übersteht.
Abgabe ist nicht gleich Überschreitung, Normbereich ist nicht gleich Willkür, Rahmenvertrag ist nicht gleich Ausnahme
Warum Apotheken auch bei Abweichungen rechtssicher handeln können, wie Normgrößen die Abgabepraxis definieren und was der Rahmenvertrag wirklich erlaubt
Es ist eine der am häufigsten gestellten Rückfragen im Apothekenalltag – und zugleich ein juristisches Minenfeld: Dürfen statt der verordneten 98 Tabletten auch 100 abgegeben werden? Die einfache Antwort wäre ein „Nein“ – keine Überschreitung der ärztlich verordneten Menge. Doch die Realität folgt anderen Regeln. Zwischen Packungsgrößenverordnung, Sozialgesetzbuch und Rabattvertragslogik entsteht ein interpretierbarer Raum, in dem Apotheken entscheiden – und haften – müssen. Gerade deshalb lohnt ein genauer Blick auf das System hinter den Packungszahlen.
Im Zentrum steht der Begriff des „Normbereichs“. Die Packungsgrößenverordnung (PackungsV), einst als Vereinheitlichung gedacht, fungiert als Kompass. Sie teilt Wirkstoffe in definierte N-Größen ein – etwa N1, N2 und N3 –, denen wiederum Stückzahlspektren zugeordnet sind. Für Pantoprazol beispielsweise: 30 Tabletten für N1, 55 für N2 und 100 für N3. Was aber, wenn der Arzt explizit 98 Tabletten verordnet hat – und nur eine rabattierte N3 zu 100 Stück vorrätig ist? Laut SGB V, § 31, darf die Abgabe erfolgen – sofern 98 Tabletten dem N3-Korridor zuzurechnen sind. Dieser wiederum reicht von 95 bis 100 Stück. Damit ist eine Abweichung formal erlaubt, ohne dass eine Überschreitung im haftungsrechtlichen Sinne vorliegt. Die Tablettenanzahl liegt innerhalb des gesetzlich definierten Rahmens.
Was so technisch klingt, hat konkrete Folgen: Apotheken können und dürfen in diesen Fällen rechtssicher mehr Tabletten abgeben als auf dem Rezept vermerkt – sofern die Verordnung nicht die Abgabe explizit ausschließt, etwa durch handschriftliche Begrenzung. Kritisch wird es jedoch, wenn die Stückzahl außerhalb des Normbereichs liegt. Ein Rezept über 104 Tabletten, bei dem nur eine N3 mit 100 Stück verfügbar ist, ist kein Fall normbasierter Austauschbarkeit – sondern der Beginn einer Abweichung, die haftungsrelevant sein kann.
In der Praxis mischt sich zu dieser rechtlichen Grundlage der Einfluss des Rahmenvertrags gemäß § 129 Abs. 2 SGB V. Der aktuelle Vertrag zwischen GKV-Spitzenverband und DAV regelt unter § 8, wann Packungen auch bei bloßer Angabe einer Stückzahl ausgetauscht werden dürfen. Entscheidend ist: Wenn die verordnete Menge einer N-Größe zugeordnet werden kann, dürfen alle in diesem Bereich definierten Packungen abgegeben werden – auch bei nominell abweichender Stückzahl. Genau dies öffnet in Fällen wie der 98-Tabletten-Verordnung die Tür zur Abgabe einer N3 mit 100 Stück – sofern Aut idem nicht ausgeschlossen wurde und kein anderslautender Rabattvertrag besteht.
Die Ausnahme zur Regel: Ist ein Rabattvertrag aktiv, hat dieser Vorrang – selbst vor der Normbereichsdefinition. Die Apotheke muss das rabattierte Produkt abgeben, sofern es dem Wirkstoff, der Stärke, der Darreichungsform und dem Anwendungsgebiet entspricht. Ist der Vertragspartner im sogenannten Mehrpartnermodell vertreten – etwa mit zwei Packungsgrößen innerhalb desselben Normbereichs –, kann die Apotheke wählen. Ein Beispiel: Es gibt eine rabattierte 98er- und eine 100er-Packung. Beide liegen innerhalb des N3-Bereichs, also ist die Entscheidung freigestellt.
Gerade bei Antiinfektiva ist der Spielraum eng, aber relevant. Verordnet wird etwa ein 7-Tage-Regime mit zweimal täglicher Einnahme, was 14 Tabletten erfordert. Wird gleichzeitig N1 auf dem Rezept genannt, ist die Abgabe zulässig, sofern der N1-Bereich diesen Wert abdeckt. Für Amoxicillin liegt er etwa bei 10 bis 14 Stück – also rechtskonform. Die N-Bezeichnung fungiert in diesen Fällen als gesetzlich definierter Toleranzrahmen.
Doch wo Spielraum ist, entsteht Unsicherheit. Nicht selten sehen sich Apotheker:innen mit Rückfragen konfrontiert – von Patientenseite, Ärzt:innen oder Kassen. Der Rahmenvertrag dient dann als juristisches Rückgrat, aber die Praxis verlangt Fingerspitzengefühl. Denn Fehler – ob bei zu geringer Abgabe oder versehentlicher Überschreitung außerhalb des Normbereichs – können Retaxationen nach sich ziehen. Gerade in Zeiten wachsender wirtschaftlicher Anspannung ist jede Unsicherheit ein Risiko.
Deshalb braucht es klare Kommunikation – nicht nur zwischen Apotheke und Arzt, sondern auch in der Auslegung regulatorischer Vorgaben. Was heute als "innerhalb des Normbereichs" zählt, kann morgen durch eine Rabattvertragsanpassung oder eine aktualisierte Packungsgrößenverordnung neu bewertet werden. Juristisch bindend ist die jeweils aktuelle Fassung – was das tägliche Monitoring von Verträgen, Packungsgrößen und Zulassungen zur Daueraufgabe macht.
Das Ideal einer vollständigen, genauen, normbasierten Verordnung wird selten erreicht. Umso mehr sind Apotheken gefordert, sich in der Grauzone zwischen regulatorischer Flexibilität und rechtlicher Präzision sicher zu bewegen. Der Fall „98 versus 100“ ist kein Einzelfall – sondern ein Symptom des strukturellen Zwiespalts im deutschen Arzneimittelversorgungssystem: normiert, aber nicht normfest; geregelt, aber nicht eindeutig; erlaubt, aber nicht folgenlos.
Kommunikation braucht Vertrauen, Reformen brauchen Haltung, Versorgung braucht Struktur
Wie Nina Warken den Ärztetag mit Dialogversprechen eröffnet, Reinhardt auf Selbstverwaltung pocht und das Primärarztsystem zur Richtungsfrage wird
Am historischen Ort der Nikolaikirche in Leipzig hat Bundesgesundheitsministerin Nina Warken am Dienstag ein Signal der Öffnung gesetzt: In ihrer Eröffnungsrede zum 129. Deutschen Ärztetag betonte sie mehrfach die Dialogbereitschaft ihres Hauses. Der politische Ton: verbindlich. Der gesundheitspolitische Anspruch: umfassend. Der adressierte Adressat: die Ärzteschaft als systemprägende Säule im geplanten Reformprozess. Doch es blieb nicht bei wohlmeinenden Worten. Warken zeigte sich entschlossen, das vielschichtige Geflecht aus Krankenhausstruktur, digitaler Transformation, bürokratischer Belastung und hausärztlicher Steuerung neu zu verknüpfen – unter Einbeziehung aller Leistungserbringer. Es war ein Debüt, das nicht auf Konfrontation setzte, aber klare Richtungen aufzeigte.
Zentraler Angelpunkt: das Primärarztsystem. In ihrer Rede warb die CDU-Ministerin für das Modell, das Patientinnen und Patienten künftig regelhaft zuerst zu Hausärzten führen soll. Die Lotsenfunktion der Primärversorgung sei geeignet, Doppelstrukturen zu vermeiden, die Versorgung zielgerichteter zu gestalten und zugleich Ressourcen effizienter zu steuern. In der Ärzteschaft allerdings ist der Vorschlag nicht unumstritten. Ärztepräsident Klaus Reinhardt nannte das Modell zwar „einen Baustein“, lehnt aber ein „Gatekeeping“ nach klassischem Muster ab. Die Frage, wie frei Patientinnen und Patienten künftig in ihrer Arztwahl sein sollen, bleibt einer der strittigsten Punkte der kommenden Monate.
Warken, seit wenigen Wochen im Amt, wiederholte ihren bereits im Bundestag formulierten Appell, Heilberufe substanziell von Bürokratie zu entlasten. Sie lobte das Koalitionspapier als „Basis“ für mehr Eigenverantwortung und Vertrauen. Zugleich umriss sie die digitale Agenda mit der ihr eigenen Klarheit. Die elektronische Patientenakte (ePA) sei nicht mehr nur Vision, sondern gelebte Realität – trotz Anlaufschwierigkeiten. Auch das Thema Künstliche Intelligenz blieb kein Nebensatz: Warken betonte, dass KI das Gesundheitswesen entlasten könne, wenn Datenschutz und Systemstabilität gesichert seien. Es war eine Ansprache, die Mut zur Komplexität zeigte – aber sich nicht in Detailverliebtheit verlor.
Dass die Ministerin auch an der Krankenhausreform festhalten will, wurde in Leipzig mit Interesse und Skepsis zugleich aufgenommen. Die Pläne ihres Amtsvorgängers Lauterbach hatte sie nicht grundsätzlich infrage gestellt, aber „Ergänzungen und Weiterentwicklungen“ angekündigt. Das Ziel bleibe: eine verbesserte, nicht ausgedünnte Versorgung. Ein Sofortprogramm für angeschlagene Krankenhäuser sei in Vorbereitung – flankiert durch Gespräche mit Ländern und Selbstverwaltung. Der Schulterschluss mit den Praktikern solle nicht erst bei der Umsetzung beginnen, sondern die Grundlage der Planungsarchitektur bilden.
Klaus Reinhardt wiederum betonte in seiner eigenen Rede den politischen Auftrag der Ärzteschaft: Die Selbstverwaltung sei kein Selbstzweck, sondern garantiere Gemeinwohlorientierung – sofern ihr genügend Raum gegeben werde. Die Kritik am Reformtempo war unüberhörbar. Prüfaufträge der Politik seien ein „rhetorisches Schlafmittel“, so der BÄK-Präsident mit sarkastischem Unterton. Deutlich äußerte sich Reinhardt auch zur angedachten Termingarantie: Ohne tragfähige Strukturen könne man keine gesetzlichen Versprechen einlösen. Das geplante MVZ-Regulierungsgesetz hingegen fand Zustimmung: Transparenz bei Trägerstrukturen und Eigentumsverhältnissen sei überfällig.
In einem prägnanten Seitenhieb auf den SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil monierte Reinhardt, dass versicherungsfremde Leistungen weiterhin nicht aus Steuermitteln, sondern aus dem GKV-System finanziert würden – entgegen früherer Planungen. Der Koalitionsvertrag lasse hier Lücken. Dennoch zeigte sich der Ärztepräsident grundsätzlich bereit, in konstruktiven Austausch zu treten. Entscheidend sei die gemeinsame Entwicklung von Lösungen, nicht das bloße Abarbeiten von Programmpunkten.
Leipzig ist damit nicht nur Gastgeber eines traditionsreichen Kongresses, sondern Kulisse für eine mögliche gesundheitspolitische Neuausrichtung. Während die neue Ministerin den Dialog sucht und auf strukturelle Neugestaltung setzt, betont die Ärzteschaft ihre Rolle als Mitgestalterin – nicht als Erfüllungsgehilfin. Der Ärztetag dauert noch bis zum 30. Mai. Ob daraus ein echter Schulterschluss erwächst, wird sich nicht an den Worten in der Nikolaikirche entscheiden – sondern an den politischen Taten in den kommenden Monaten.
Kosmetikrecht verschärft Sicherheitsgrenzen, Apotheken tragen Rückruflast, UV-Schutz steht unter toxikologischer Prüfung
Wie neue Grenzwerte Homosalat-Produkte aus dem Handel drängen, Apothekenlogistik bis zur Abgabesperre gefordert ist und warum der UV-Filter regulatorisch unter Druck steht
Uhr tickt für bestimmte Produkte der Marke Bepanthol, und zwar nicht aus betriebswirtschaftlichen, sondern aus regulatorischen Gründen: Der Rückruf mehrerer Chargen, darunter Lipsticks und Gesichtscremes mit Lichtschutzfaktor, markiert den Schlusspunkt eines länger schwelenden Konflikts zwischen kosmetischer Praxis und toxikologischer Bewertung. Konkret geht es um den UV-Filter Homosalat, auch bekannt unter dem chemischen Namen Homomenthylsalicylat, der jahrelang als unspektakulärer Standardbestandteil von Sonnenschutzprodukten diente – bis Sicherheitsbedenken aufkamen, die inzwischen in verbindliches EU-Recht gegossen wurden.
Seit dem Inkrafttreten der Verordnung (EU) 2022/2195 gelten für Homosalat verschärfte Konzentrationsgrenzen in Kosmetikprodukten: Maximal 7,34 Prozent sind nun erlaubt – und das ausschließlich in Produkten zur Anwendung im Gesicht. Ausschlusskriterium bleibt dabei die Kombination mit Treibgassprays, bei denen das Inhalationsrisiko nicht abschließend bewertet wurde. Diese Neuregelung beruht auf einer Neubewertung durch das Wissenschaftliche Gremium für Verbrauchersicherheit (SCCS), das dem Filterstoff potenziell nierenschädigende Eigenschaften attestierte. Die daraufhin beschlossene Reduktion des zulässigen Gehalts bedeutete das Aus für viele bestehende Formulierungen – insbesondere für Produkte, deren Entwicklung noch vor der Neubewertung stattfand.
Der Fall Bepanthol illustriert exemplarisch, wie regulatorische Anpassungen auch etablierte Marken zu akuten Rückrufmaßnahmen zwingen können. Die betroffenen Produkte – darunter der Bepanthol Lipstick (mehrere Chargen mit und ohne Faltschachtel) sowie die Feuchtigkeitsspendende Gesichtscreme LSF 25 – dürfen noch bis zum 30. Juni 2025 an Endverbraucher abgegeben werden, danach ist die Marktpräsenz gesetzlich untersagt. Apotheken sind deshalb aufgerufen, ihre Lagerbestände zu überprüfen und sämtliche Altchargen rechtzeitig über den pharmazeutischen Großhandel zu retournieren. Zwar sind laut Hersteller bereits neue Formulierungen ausgeliefert worden, doch die Verantwortung für die ordnungsgemäße Abgabe liegt – wie üblich – bei den Apotheken.
Während dieser Rückruf auf formaler Ebene eher unspektakulär erscheint, öffnet er die Tür zu einer grundlegenderen Debatte über den Umgang mit älteren Inhaltsstoffen in der Kosmetikindustrie. Homosalat war lange unverdächtig – als bewährter UV-B-Filter mit einem Absorptionsmaximum im Bereich von 295 bis 315 nm und hoher photostabiler Wirkung. Doch mit dem Aufkommen neuer toxikologischer Studien geraten Substanzen wie Homosalat zunehmend unter regulatorischen Druck, insbesondere wenn Hinweise auf endokrine oder organspezifische Wirkungen auftreten.
Diese Entwicklung stellt die Kosmetikbranche, aber auch Apotheken vor neue Herausforderungen. Einerseits geht es um Verbraucherschutz und regulatorische Verantwortung, andererseits um Logistik, Informationspflichten und wirtschaftliche Restmengenrisiken. Für Apotheken, die in ihrer täglichen Praxis ohnehin zwischen Rezeptabrechnung, Lieferengpässen und Dokumentationspflichten navigieren müssen, sind zusätzliche Rückrufaktionen dieser Art keine Randerscheinung mehr, sondern betriebliche Realität.
Was sich am Beispiel Homosalat zeigt, ist ein Paradigmenwechsel: Der Trend geht klar in Richtung präventiver Regulatorik, bei der nicht mehr nur akute Gefahren, sondern auch potenzielle Langzeitrisiken zur Normsetzung führen. Dies bedeutet für Hersteller kürzere Innovationszyklen, für Behörden wachsenden Prüfaufwand und für Apotheken ein höheres Maß an Kontrolle im Abverkaufsprozess – bei gleichzeitig sinkendem Spielraum zur Einlagerung kosmetischer Sortimente.
Die gegenwärtige Debatte um Homosalat ist damit mehr als ein Stoffeinzelfall. Sie steht exemplarisch für die wachsende Kluft zwischen kosmetischer Praxis, toxikologischer Forschung und regulatorischem Vorsorgeprinzip. Denn mit jeder neuen Bewertung steigt auch der Druck auf andere etablierte UV-Filter wie Octocrylen oder Oxybenzon, die ebenfalls im Fadenkreuz der Aufsichtsbehörden stehen. Für Apotheken bedeutet das vor allem eins: Die kosmetische Beratung und Produktauswahl wird zunehmend zur fachlichen Disziplin – und das Monitoring regulatorischer Änderungen zur täglichen Pflicht.
Plattformen provozieren Regulierung, Kammer erzwingt Kontrolle, Rechtsprechung zieht Grenzen
Wie die AKNR gegen Cura medics vorgeht, welche juristischen Argumente greifen und warum die Fernverschreibung von Medizinalcannabis zur politischen Zeitbombe wird
Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel mit juristischen Waffen, institutioneller Hartnäckigkeit und digitalem Dilemma: Die Apothekerkammer Nordrhein (AKNR) bleibt bei ihrem Kurs, Telemedizin-Plattformen mit unmittelbarer Nähe zum Vertrieb von Medizinalcannabis systematisch anzugehen. Im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzung steht die Webseite cura-medics.de, deren Geschäftsmodell auf die klassische Kombination aus Onlinefragebogen, Fernrezept und Direktversand von Cannabisblüten hinauslief – ein Modell, das sich seit der teilweisen Legalisierung von Genusscannabis zur Schattenstruktur eines para-legitimen Versorgungswegs entwickelt hat. Während politische Instanzen wie die neue Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) einen restriktiveren Kurs ankündigen, vollzieht sich die tatsächliche Regulierung durch Gerichtsbeschlüsse und Kammerinterventionen – wie nun erneut am Landgericht Köln.
Der konkrete Fall ist dabei mehr als nur ein juristisches Einzelereignis: Er offenbart, wie lückenhaft die Verknüpfung von heilmittelrechtlicher Regulierung, Wettbewerbsrecht und digitalem Plattformhandel nach wie vor ist – und welche Risiken damit für Apotheken entstehen, deren Versandhandelserlaubnis von Dritten technisch oder juristisch mitgenutzt wird. Die AKNR hatte bereits im April 2025 Kenntnis vom Geschäftsmodell der Plattform „Cura medics“ erlangt. Die Seite war eindeutig auf eine Zielgruppe ausgerichtet, die sich durch minimale Barrieren Cannabisblüten auf Privatrezept sichern wollte – über ein vereinfachtes telemedizinisches Verfahren. Verantwortlich schien zunächst eine Apotheke mit Sitz in Nordrhein-Westfalen zu sein, zumindest führte das Impressum in diese Richtung. Der betroffene Apotheker selbst bestritt indes jede operative Beteiligung und verwies auf ähnlich gestaltete Auftritte anderer Marktteilnehmer.
Ungeachtet dieser Einlassung beantragte die Kammer eine einstweilige Verfügung – mit Erfolg. In der mündlichen Verhandlung folgte das Landgericht Köln ihrer Argumentation, die sich auf Verstöße gegen das Heilmittelwerbegesetz (HWG) stützte. Im Zentrum standen dabei mehrere rechtliche Hebel: Die Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel, die Förderung fernärztlicher Behandlungen ohne konkreten persönlichen Erstkontakt und die werbliche Darstellung medizinischer Heilverläufe über Patientenerfahrungen – allesamt nach geltendem Recht untersagt oder nur unter strengen Voraussetzungen zulässig. Die Verfügung wurde ohne Begründung erlassen, was in solchen Verfahren nicht unüblich ist, aber die Signalwirkung nicht mindert.
Bemerkenswert ist allerdings, dass sich die Plattform durch ein geändertes Impressum mit niederländischem Bezug und den Verzicht auf besonders kritische Werbeelemente bislang weiterhin im Netz behauptet. Diese Verschiebung der Verantwortlichkeit ins Ausland und das schnelle Reagieren auf regulatorische Sanktionen werfen ein Schlaglicht auf die Dynamik solcher Geschäftsmodelle: Legalitätsgrenzen werden nicht frontal durchbrochen, sondern seitlich umgangen. Genau dies ist der Grund, weshalb die AKNR das Thema nicht als erledigt betrachtet, sondern weiter auf strukturelle Kontrolle drängt – auch durch politische Klarstellungen, wie sie nun von Bundesministerin Warken angekündigt wurden.
Dass der betroffene Apotheker die Verantwortung von sich weist, mag juristisch eine gewisse Bedeutung entfalten – in der öffentlichen Wirkung jedoch überwiegt die Frage nach der betrieblichen Sorgfalt. Denn unabhängig von der formellen Betreiberrolle ist klar: Ohne die Mitwirkung einer nach § 11a Apothekengesetz zugelassenen Versandapotheke könnten Plattformen wie Cura medics kein Cannabis verschicken. Hier setzt das eigentliche Spannungsfeld an – zwischen unternehmerischer Verantwortung, regulatorischer Reichweite und der Frage, wie weit Apotheken bereit sind, ihre Betriebserlaubnis an digitale Vermittlungsmodelle zu koppeln. Die Antwort wird zunehmend durch Gerichte erzwungen, wie das aktuelle Verfahren zeigt.
Und die politische Flanke bleibt offen: Die Legalisierung von Genusscannabis hat einen Nebeneffekt produziert, den viele in dieser Geschwindigkeit nicht erwartet hatten – eine Entgrenzung der Indikationsstellung im Graubereich zwischen tatsächlichem medizinischem Bedarf und dem Wunsch nach legalem Konsum. Der frühere Gesundheitsminister Lauterbach tolerierte dieses System faktisch, sein Nachfolgerin signalisiert nun Kurskorrektur. Doch solange kein klarer Rechtsrahmen geschaffen wird, bleibt die Verantwortung bei Kammern und Gerichten – und die Unsicherheit bei Apotheken und Patienten.
Versorgung braucht Struktur, Medizin braucht KI, Transformation braucht Vertrauen
Wie Ärztetag und Bitkom das Gesundheitssystem neu denken, Primärärzte stärken und künstliche Intelligenz gezielt nutzbar machen wollen
Es ist ein Satz, der hängen bleibt: Deutschland ist das einzige Land der Welt, in dem Patienten völlig frei entscheiden, zu welchem Arzt sie gehen – ohne System, ohne Struktur, ohne Lotse. Bundesärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt sprach ihn am Morgen des ersten Sitzungstags des Deutschen Ärztetags in Leipzig aus, um einen zentralen Systemfehler zu illustrieren: die fehlende Koordination in der medizinischen Versorgung. Doch die Debatte ist mehr als ein Ruf nach Hausärzten – sie ist Teil eines umfassenden Reformprozesses, der auch digitale Transformation, ethische Verantwortung und technologischen Fortschritt mit einbezieht. Künstliche Intelligenz ist dabei kein Fremdkörper mehr im Gesundheitswesen, sondern zunehmend ein realer Akteur – einer, der Diagnose erleichtert, Abläufe beschleunigt und Versorgung effizienter machen soll. Vorausgesetzt, sie wird richtig eingesetzt.
Reinhardts Diagnose ist dabei ebenso einfach wie drastisch: Das deutsche Gesundheitssystem ist überkomplex, fragmentiert und stellt die Patienten vor ein Versorgungsdickicht, das selbst Fachleuten schwer fällt zu durchdringen. In anderen Ländern übernehmen sogenannte Primärarztsysteme die Navigation – meist in der Form, dass Allgemeinmediziner als erste Anlaufstelle fungieren und die weitere Behandlung koordinieren. Dass eine solche Struktur fehlt, ist für Reinhardt kein Zeichen von Freiheit, sondern ein Versorgungsrisiko. Gerade in Zeiten wachsender Personalknappheit, explodierender Therapiekosten und medizinischer Hochspezialisierung müsse man die Menschen an die Hand nehmen, nicht im System verlieren.
Doch neben der Strukturfrage steht in Leipzig ein Thema im Zentrum, das viele bis vor wenigen Jahren für Zukunftsmusik hielten: Künstliche Intelligenz. Der Bitkom-Verband spricht in seiner aktuellen Analyse davon, dass KI bereits heute in fast jeder siebten Praxis zum Einsatz kommt – sei es zur Diagnostik, in der Verwaltung oder zur Verbesserung organisatorischer Abläufe. In Kliniken hat sich der KI-Einsatz seit 2022 verdoppelt. Besonders bei bildgebenden Verfahren, aber auch bei der Risikobewertung und Therapieüberwachung hilft KI bereits, ärztliche Entscheidungen zu unterstützen. Dabei geht es laut Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst nicht um Ersatz menschlicher Expertise, sondern um eine zielgerichtete Entlastung – damit Mediziner mehr Zeit für Patienten haben und sich weniger in Bürokratie verlieren.
Für Reinhardt ist das keine technische Spielerei, sondern eine essenzielle Strategie für ein belastetes System. 78 Prozent der Ärztinnen und Ärzte sehen in KI eine große Chance. Und die Bereitschaft zur Integration steigt: 12 Prozent der niedergelassenen Ärzte nutzen KI zur Diagnosestellung, 8 Prozent zur Praxisorganisation – Tendenz steigend. Voraussetzung sei aber, dass der Einsatz ethisch reflektiert, technisch stabil und ärztlich verantwortet erfolgt. „KI darf nicht zum Selbstzweck werden“, so Reinhardt. Sie müsse zur Verbesserung der Versorgung dienen – und nicht zur Verlagerung von Verantwortung.
Eine entscheidende Rolle spielt dabei auch die Politik: Der europäische AI-Act setzt erstmals verbindliche Rahmenbedingungen für den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Gesundheitswesen. Doch Papier allein reicht nicht, betont Wintergerst. Entscheidend sei, wie praxistauglich die Umsetzung erfolge. Denn nur wenn Ärztinnen und Ärzte sicher, transparent und alltagstauglich mit KI umgehen könnten, werde sich ihr Potenzial wirklich entfalten. Dazu brauche es nicht nur Regulierung, sondern vor allem Schulung, Standards und eine systemische Integration in bestehende Versorgungsprozesse.
Im Zentrum der Debatte steht damit ein doppelter Wandel: Einerseits geht es um die medizinische Grundordnung – wer steuert Versorgung, wer koordiniert, wer entscheidet? Andererseits um die technologische Revolution – wie lassen sich Algorithmen, Daten und automatisierte Prozesse sinnvoll in eine ethisch getragene Heilkunde einbinden? Der Ärztetag 2025 in Leipzig markiert in dieser Hinsicht mehr als nur eine Standortbestimmung. Er ist Ausdruck einer Zeitenwende: Weg von der rein ärztlich-analogen Organisation, hin zu einem hybriden System, das Verantwortung, Menschlichkeit und Technologie miteinander verbindet.
Und vielleicht liegt genau in dieser Kombination die Zukunft der Versorgung: strukturierter, empathischer, effizienter.
Atemnot, Umweltdruck, Marktversagen
Warum der Sandoz-Ausstieg bei Salbutamol-Sprays eine Versorgungslücke reißt, der Green Deal zum Kostentreiber wird und Regulierung ohne Anreiz ins Leere läuft
Die Entscheidung von Sandoz, sich aus der Produktion von Salbutamol-haltigen Notfallsprays zurückzuziehen, ist keine isolierte Industrieentscheidung – sie markiert einen Kipppunkt in der Schnittmenge von Umweltregulierung, Arzneimittelversorgung und pharmazeutischer Standortpolitik. Während das Unternehmen die geplante Produktionsaufgabe auf die F-Gas-Verordnung der EU und die damit verbundenen Kosten für eine Umstellung auf klimafreundlichere Treibmittel zurückführt, gerät eine seit Monaten fragile Versorgungslage in Bewegung, deren gesellschaftliche und gesundheitspolitische Tragweite weit über die Produktionshallen von Rudolstadt hinausreicht.
Seit Ende 2023 verzeichnen Apotheken eine spürbare Knappheit bei Asthma-Notfallsprays mit dem Wirkstoff Salbutamol – einem essenziellen Arzneimittel, das sowohl auf der WHO-Liste der unentbehrlichen Medikamente als auch im Alltag von Millionen Betroffenen weltweit fest verankert ist. Die Ursachen lagen bisher primär in einer gestiegenen Nachfrage, etwa durch zunehmende Atemwegserkrankungen in der Bevölkerung oder saisonale Schwankungen, nicht jedoch in Produktionsausfällen. Nun droht mit dem angekündigten Ausstieg eines der letzten großen Anbieter in Europa eine strukturelle Verengung der Marktverfügbarkeit. Sandoz produziert bislang rund sechs Millionen Dosieraerosole pro Jahr in Deutschland – ein Volumen, das nicht ohne Weiteres substituierbar ist.
In der Begründung des Unternehmens klingt ein industriepolitisches Dilemma an, das symptomatisch für eine regulatorische Schieflage geworden ist: Die Umstellung auf klimaneutrale Treibmittel sei technisch zwar möglich, aber wirtschaftlich untragbar – vor allem, weil Arzneimittelpreise in Deutschland strikt reguliert sind und keine Dynamik zur Refinanzierung innovativer oder umweltgerechter Produktionsanpassungen bieten. Thomas Weigold, Geschäftsführer von Sandoz Deutschland, bringt es auf den Punkt: „Steigende Kosten können wir nicht über Preisanpassungen abbilden – das rechnet sich nicht.“ Damit steht eine umweltpolitisch erwünschte Maßnahme vor dem ökonomischen Scheitern, weil sie nicht von einem begleitenden wirtschaftlichen Steuerungsinstrument flankiert wird.
Regulierung ohne Anreizmechanismus – dieses Muster begegnet der Branche zunehmend häufiger. Die F-Gas-Verordnung ist Teil eines umfassenden europäischen Green Deals, der die Emissionen fluorierter Treibhausgase drastisch reduzieren will. Neben der Kälte- und Klimatechnik sind auch pharmazeutische Aerosole betroffen, die bislang auf HFKW als Treibmittel angewiesen sind. Die Alternativen – etwa auf Propan- oder CO₂-Basis – existieren, sind aber mit komplexen Neuzulassungen, Sicherheitsprüfungen und kostspieligen Umrüstungen der Produktionslinien verbunden. Ohne Preiskompensation oder regulatorische Flexibilisierung geraten Hersteller in einen Zielkonflikt: Klimapolitische Verpflichtung kollidiert mit wirtschaftlicher Realität.
Der Rückzug von Sandoz ist dabei kein Betriebsunfall, sondern eine systemische Reaktion. Er offenbart eine Leerstelle im politischen Ordnungsrahmen, die schon seit Jahren in Fachkreisen kritisiert wird: Umweltrechtliche Innovationsanforderungen werden nicht auf Versorgungsrelevanz und Marktdynamik rückgekoppelt. Damit drohen genau jene Produkte zu verschwinden, die zur Grundausstattung jeder Notfallapotheke gehören – Salbutamol ist für viele Patientinnen und Patienten kein Zusatz, sondern Überlebensgarantie.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gibt sich aktuell noch gelassen. Die geplante Produktionsaufgabe von Sandoz sei dem Institut nicht offiziell mitgeteilt worden, man gehe weiterhin von einer ausreichenden Verfügbarkeit aus, zumal es laut »Welt«-Bericht zwei Neuzulassungsanträge für Salbutamol-haltige Sprays gebe. Doch diese Form der Risikobewertung blendet aus, dass Neuzulassungen allein keine Produktionskapazitäten ersetzen – und dass bestehende Anbieter angesichts derselben Umrüstpflichten mittelfristig vor derselben Entscheidung stehen könnten wie Sandoz.
Das Bundesgesundheitsministerium räumt ein, dass die EU-Vorgaben eine erhebliche Herausforderung darstellten. Derzeit befinde man sich im engen Austausch mit Industrie und Behörden, um Lösungen zu finden. Doch weder das Ministerium noch die europäischen Instanzen haben bislang ein Instrumentarium vorgestellt, das Innovation bei gleichzeitiger Versorgungssicherheit tatsächlich incentiviert. Was fehlt, ist ein Transformationsfonds für umweltkritische Arzneimittelproduktion, ein regulatorischer Schnellweg für Treibmittelzulassungen und – nicht zuletzt – eine differenzierte Preispolitik für systemrelevante Medikamente unter Umweltauflagen.
Wie bei so vielen systemrelevanten Produkten offenbart sich auch bei Salbutamol das Vakuum zwischen ordnungsrechtlicher Ambition und versorgungspraktischer Wirklichkeit. Bleibt der politische Rahmen unverändert, werden weitere Rückzüge folgen – nicht aus Opportunismus, sondern aus betrieblicher Notwendigkeit. Die Frage ist längst nicht mehr, ob einzelne Arzneimittel verschwinden – sondern welche systemischen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit Arzneimittelproduktion in Europa nicht zur Ausnahme wird.
Versorgung wankt, Umweltauflagen steigen, Diabetesbehandlung droht zu kippen
Warum Metformin durch die Kommunale Abwasserrichtlinie unter Druck gerät, welche Kostenlawine auf das System zukommt und was das für Millionen Betroffene bedeutet
Sie gilt als Meilenstein der Umweltpolitik, könnte aber eine Versorgungskatastrophe auslösen: Die Kommunale Abwasserrichtlinie der EU, kurz KARL, fordert eine vierte Reinigungsstufe für Kläranlagen, um unter anderem Arzneimittelrückstände aus dem Abwasser zu filtern. Doch was als Beitrag zum Gewässerschutz gedacht war, droht sich nun als Risiko für die flächendeckende Arzneimittelversorgung zu entpuppen – und zwar ausgerechnet dort, wo es um ein zentrales, kostengünstiges Medikament geht: Metformin. Für Millionen von Menschen mit Typ-2-Diabetes ist es das Mittel der ersten Wahl. Doch mit den drohenden Mehrkosten von bis zu 4,5-facher Produktionssteigerung kündigt ausgerechnet einer der größten Anbieter, Zentiva, einen möglichen Rückzug an – mit verheerenden Folgen für Patienten, Kassen und Marktstruktur. Ein Lehrstück, wie gut gemeinte Umweltpolitik ohne systemische Korrektur zur gesundheitspolitischen Zeitbombe werden kann.
Jährlich soll die KARL-Richtlinie rund eine Milliarde Euro kosten, wobei ein Großteil dieser Summe durch die Arzneimittelhersteller zu tragen ist. Die Umwelttoxizität und das Produktionsvolumen dienen dabei als Grundlage der Umlage – was Substanzen wie Metformin, die in großer Menge verbraucht und ausgeschieden werden, besonders teuer macht. Der Wirkstoff ist nicht nur Hauptbestandteil in mehr als 40 Prozent der Antidiabetika-Verordnungen, sondern auch eines der wenigen hochwirksamen Generika mit einem Herstellungspreis von weniger als zwei Cent pro Tablette. Selbst kleinste Zusatzbelastungen unterminieren also die ohnehin fragile Marge.
„Wir produzieren fünf Millionen Packungen pro Jahr allein in Indien – wenn die neuen Belastungen kommen, ist das wirtschaftlich nicht mehr haltbar“, warnt Josip Mestrovic, Geschäftsführer von Zentiva. Für Deutschland hieße ein Rückzug: 40 Prozent des Metformin-Angebots fallen weg – mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne unmittelbaren Ersatz. Denn die Produktion lässt sich nicht beliebig skalieren, schon gar nicht bei gleichzeitig steigenden Umweltanforderungen für alle Hersteller. Anders gesagt: KARL könnte flächendeckende Lieferengpässe provozieren, gerade weil die Regelung am Volumen ansetzt.
Dabei ist Metformin kein beliebiges Medikament. Es steht auf der WHO-Liste der essenziellen Arzneimittel, ist weltweit in sämtlichen Leitlinien zur Therapie des Typ-2-Diabetes fest verankert – und gilt nicht nur als günstig, sondern auch als gut verträglich und langfristig bewährt. „Ein einfaches Austauschen ist nicht möglich“, sagt Professor Baptist Gallwitz, Sprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Gliflozine oder DPP-4-Hemmer seien zwar wirksam, aber teurer, komplexer und mit anderen Nebenwirkungen behaftet. Sulfonylharnstoffe bergen Hypoglykämierisiken, Insulintherapien bedeuten eine massive Veränderung der Patientenführung.
Das System ist auf Metformin angewiesen – wirtschaftlich, therapeutisch, strukturell. Für Patientinnen und Patienten würde ein Wegfall bedeuten: Umstellung auf weniger etablierte Wirkstoffe, mehr Arztkontakte, höhere Komplikationsraten, zusätzliche psychische Belastung. Für die Krankenkassen drohen nach aktuellen Berechnungen von Pro Generika Zusatzkosten von bis zu 1,5 Milliarden Euro jährlich. Ausgehend von derzeit 350 Millionen Euro für Metformin-Verordnungen würde die Summe auf bis zu 1,8 Milliarden Euro steigen, wenn Alternativmedikamente nötig würden. Eine Umverteilung, die den GKV-Finanzausgleich hart trifft.
Vor allem aber wirft der Fall Metformin eine grundlegende Frage auf: Ist es gerecht und systemstabilisierend, wenn umweltpolitische Auflagen Arzneimittelversorgung sabotieren? Und wie lässt sich eine Balance zwischen Nachhaltigkeit und Gesundheitsversorgung herstellen, ohne die Verantwortung einseitig zu externalisieren? „Es ist ein politischer Konstruktionsfehler, wenn der Schutz von Wasserressourcen ausgerechnet durch gefährdete Patientensicherheit erkauft wird“, kritisiert Bork Bretthauer von Pro Generika. Seine Forderung: Eine Neuausrichtung der KARL-Finanzierung – etwa durch Fondsmodelle, gestaffelte Rückvergütungen oder staatliche Kofinanzierung – statt pauschaler Umlage auf Hersteller, die am Ende Produktionsentscheidungen gegen den Standort Europa treffen.
Hinzu kommt, dass Preisbildungsmechanismen in Deutschland eine Gegenfinanzierung praktisch unmöglich machen: Erstattungsbeträge sind gesetzlich fixiert, individuelle Preisanpassungen nicht vorgesehen, Rabattverträge drücken die Vergütung auf teilweise unter einen Cent. Das bedeutet: Selbst Innovationsbereitschaft oder Umstellung auf umweltfreundlichere Verfahren würde für Hersteller betriebswirtschaftlich nicht belohnt, sondern im Gegenteil bestraft.
Was bleibt, ist die politische Frage, ob mit KARL eine rote Linie überschritten wird. Denn sobald essentielle Arzneimittel durch ökologische Sekundärfolgen vom Markt gedrängt werden, steht nicht nur ein Wirkstoff zur Disposition – sondern das Vertrauen in die Versorgungssicherheit insgesamt. Der Fall Metformin zeigt dabei nur den Anfang eines Problems, das auch andere Wirkstoffe wie Ibuprofen, Diclofenac oder Fluorchinolone treffen könnte. Ein regulatorischer Dominoeffekt, der die ohnehin fragile Balance zwischen Versorgung, Finanzierung und Marktverfügbarkeit endgültig kippen lassen könnte.
Impfen schützt vor Reaktivierung, Therapie steigert das Risiko, Apotheke muss aktiv werden
Warum JAK-Inhibitoren das Zoster-Risiko anheben, die STIKO Impfpflichten neu gewichtet und Apotheken zur Prävention beitragen müssen
Kaum ein Erreger ist in Europa so weit verbreitet und zugleich so tückisch wie das Varizella-Zoster-Virus (VZV). Rund 95 Prozent der erwachsenen Bevölkerung tragen es lebenslang in sich, meist ohne es zu merken. Doch sobald das Virus seine latente Ruhe aufgibt, kann es sich auf schmerzhafte Weise bemerkbar machen: durch einen Herpes Zoster – besser bekannt als Gürtelrose. Während das Erkrankungsrisiko natürlicherweise mit dem Alter oder psychischem Stress ansteigt, sorgt eine bestimmte Arzneimittelgruppe zunehmend für zusätzliche Aufmerksamkeit: die JAK-Inhibitoren. Dass Apotheken in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle übernehmen müssen, betonte kürzlich Prof. Dr. Thomas Weinke beim Pharmacon Meran mit einem klaren Appell an die Offizinpraxis – und einer Warnung vor trügerischer Sicherheit im Umgang mit modernster Rheuma- und Entzündungstherapie.
JAK-Inhibitoren (Januskinase-Hemmer) gehören zur jüngeren Generation zielgerichteter Immunmodulatoren, die zunächst in der Rheumatologie, inzwischen aber auch bei chronisch-entzündlichen Darm- und Hauterkrankungen wie Colitis ulcerosa oder atopischer Dermatitis eingesetzt werden. Sie blockieren zentrale Signalwege innerhalb der Zellen, die normalerweise Entzündungsprozesse antreiben. Was aus Sicht der Entzündungskontrolle wünschenswert ist, kann in der Virusabwehr zur Achillesferse werden: Die Hemmung der Januskinasen reduziert die körpereigene Fähigkeit, virale Reaktivierungen effizient zu unterdrücken – darunter auch das Wiederaufflammen der in Nervenganglien schlummernden VZV.
Weinke erinnerte an eine Metaanalyse aus dem Jahr 2019, die bei über 5900 Patient:innen unter JAK-Therapie eine Herpes-Zoster-Inzidenz von 3,2 pro 100 Patientenjahre nachwies – ein deutlich erhöhtes Risiko, das die STIKO seither in ihre Impfempfehlungen aufgenommen hat. Was in klinischen Leitlinien festgeschrieben steht, muss aber in der Versorgungspraxis erst lebendig werden: Gerade in Apotheken, wo viele Patient:innen zum ersten Mal mit ihren neuen Medikamenten erscheinen, ist eine gezielte Impfberatung keine Kür, sondern Notwendigkeit. „Wir müssen diese Menschen aufklären, nicht in zwei Jahren, sondern jetzt“, so Weinke.
Konkret empfiehlt die STIKO die Impfung gegen Herpes Zoster mit dem adjuvantierten Subunit-Totimpfstoff Shingrix® allen Menschen über 60 Jahren sowie jenen ab 50, die aufgrund einer Grunderkrankung – wie rheumatoider Arthritis – oder einer immunsuppressiven Therapie besonders gefährdet sind. JAK-Inhibitoren erfüllen dieses Kriterium ohne Zweifel. Dennoch erhalten viele Patient:innen die notwendige Information erst spät oder gar nicht. Hier bietet sich für Apotheken eine bedeutende Schnittstelle zwischen Pharmakotherapie und Prävention: JAK-Inhibitor abgeben – und gleichzeitig zur Impfung raten. Diese einfache Maßnahme könnte unzählige Fälle von Zoster und deren Komplikationen verhindern.
Weinke verwies in seinem Vortrag auch auf die Modalitäten der Impfung: Zwei Dosen sind notwendig, im Abstand von zwei bis sechs Monaten. Dass Shingrix® relativ häufig lokale Reaktionen auslöst, darunter starke Schmerzen an der Einstichstelle, sei kein Grund zur Impfabstinenz – insbesondere nicht für vulnerable Gruppen. Die Botschaft an die Apothekenmitarbeiter:innen lautet: aufklären, vorbereiten, motivieren. Wer nur die erste Dosis erhält, bleibt ungeschützt.
Zudem ist nicht jede Impfung unter immunsuppressiver Therapie problemlos möglich. Der Vorteil von Shingrix® liegt darin, dass es sich um einen Totimpfstoff handelt – er kann daher auch bei Immunsupprimierten sicher verabreicht werden. Dennoch empfiehlt es sich, die Impfung vor Beginn der JAK-Therapie einzuplanen, sofern dies medizinisch vertretbar ist.
Die Verantwortung liegt nicht allein bei den Fachärzten, so Weinke, sondern auch bei Apotheken. Sie haben direkten Zugang zur Medikation und sehen häufig als Erste, was Patient:innen einnehmen. Das schafft einen Informationsvorsprung – und mit ihm eine Verantwortung. Wer in der Offizin schweigt, lässt eine Gelegenheit verstreichen, gesundheitliche Schäden zu vermeiden, die vermeidbar wären.
Zoster ist keine Bagatelle: Neben den akuten Schmerzen und Hautveränderungen droht vielen Patient:innen die sogenannte postherpetische Neuralgie, ein chronischer Schmerz, der Monate bis Jahre nach Abklingen der Hautsymptome anhalten kann. Er beeinträchtigt die Lebensqualität erheblich – und trifft ausgerechnet jene, die durch ihre Grunderkrankung oder deren Therapie ohnehin geschwächt sind.
Apotheken sollten sich daher nicht auf die passive Rolle des Rezeptverwalters zurückziehen, sondern aktiv an der Versorgungssicherheit mitwirken. Präventive Impfberatung – insbesondere bei Risikomedikation – ist Teil der pharmazeutischen Daseinsvorsorge. JAK-Inhibitoren sind ein Paradebeispiel dafür, wie moderne Therapien neue Anforderungen an interprofessionelle Zusammenarbeit und Patientenedukation stellen.
Virus in den Neuronen, Risiko im Alter, Hoffnung durch antivirale Therapie
Wie Herpes-simplex mit Alzheimer verknüpft wird, antivirale Medikamente neue Perspektiven eröffnen und Daten aus den USA eine längst fällige Debatte anstoßen
Das menschliche Gehirn vergisst – doch was, wenn das Vergessen nicht nur biologischer Zufall ist, sondern virale Ursache hat? Diese Frage gewinnt angesichts einer US-amerikanischen Kohortenstudie neue Relevanz. Im Zentrum der Untersuchung steht das Herpes-simplex-Virus Typ 1 (HSV-1), das weltweit verbreitet ist und jahrzehntelang als eher harmlose Infektion mit gelegentlichen Lippenbläschen galt. Doch seit mehreren Jahren verdichten sich Hinweise, dass HSV-1 deutlich tiefgreifendere Effekte auf das zentrale Nervensystem haben könnte. Im Fokus steht dabei eine mögliche Verbindung zur Alzheimer-Krankheit – jener neurodegenerativen Erkrankung, die Gedächtnis, Persönlichkeit und Lebensqualität systematisch zerstört.
Der Verdacht, dass HSV-1 über eine latente Persistenz in neuronalen Strukturen Entzündungsprozesse oder Plaque-Bildung mitinitiieren könnte, ist nicht neu. Doch was bislang fehlte, war ein epidemiologisch belastbarer Nachweis, der über Mausmodelle und pathophysiologische Spekulationen hinausging. Die nun publizierte Auswertung von Versicherungsdaten aus den USA bringt Bewegung in die Debatte: Sie zeigt nicht nur ein erhöhtes Alzheimer-Risiko bei HSV-Infizierten, sondern identifiziert zugleich antivirale Therapien als potenziell protektiven Faktor. Patienten, die regelmäßig mit Wirkstoffen wie Aciclovir oder Valaciclovir behandelt wurden, entwickelten seltener eine Alzheimer-Diagnose – insbesondere, wenn die Therapie frühzeitig begann und über längere Zeiträume fortgeführt wurde.
Das wirft grundsätzliche Fragen auf – sowohl zum medizinischen Verständnis von Alzheimer als auch zur Versorgungspraxis. Die Studie greift auf die Datensätze von mehreren Millionen Versicherten zurück, analysiert Diagnosen, Medikationshistorien und Begleiterkrankungen. Dabei wurde berücksichtigt, ob eine dokumentierte HSV-Infektion vorlag, welche Therapieformen angewendet wurden und wann im Lebensverlauf eine Demenzdiagnose gestellt wurde. Ergebnis: Unter denjenigen mit nachgewiesener HSV-1-Infektion hatten Patienten ohne antivirale Therapie ein signifikant höheres Alzheimer-Risiko als jene, die regelmäßig behandelt wurden. Der Effekt zeigte sich in mehreren Altersgruppen und war besonders ausgeprägt bei Therapiebeginn in der mittleren Lebensphase.
Kritiker dieser Theorie verweisen auf mögliche Confounder: etwa, dass Patienten mit antiviraler Therapie insgesamt gesundheitlich besser überwacht seien oder dass andere Faktoren wie Bildung, Lebensstil oder genetische Prädispositionen nicht ausreichend kontrolliert wurden. Doch selbst unter Berücksichtigung dieser Einwände bleibt ein statistisch belastbarer Zusammenhang bestehen, der in zukünftigen randomisierten Studien weiter zu prüfen wäre. Zudem passen die Befunde in eine länger werdende Kette an Hinweisen: Frühere neuropathologische Studien hatten Herpes-DNA in Plaque-Ablagerungen gefunden, In-vitro-Modelle zeigten eine Plaque-ähnliche Wirkung von HSV auf Neuronen, und Beobachtungsstudien aus Skandinavien deuteten schon in den 2010er Jahren auf eine Korrelation zwischen antiviraler Therapie und Demenzreduktion hin.
Das bisherige Alzheimer-Paradigma war lange rein neurozentriert: Amyloid-Plaques, Tau-Proteine, neuroinflammatorische Prozesse. Doch zunehmend zeigt sich, dass diese Phänomene auch durch externe Auslöser verstärkt oder initiiert werden könnten. Viren – und insbesondere HSV-1 – gehören zu den heißesten Kandidaten. Der Pathomechanismus ist dabei nicht eindeutig geklärt. Möglicherweise führt die Reaktivierung des Virus in Hirnzellen zu chronischen Mikroschäden, einer verstärkten Immunantwort oder gar zur direkten Induktion amyloider Strukturen. Möglich ist auch eine indirekte Wirkung: über systemische Entzündung, Störung der Blut-Hirn-Schranke oder epigenetische Modulation neuronaler Gene.
Die therapeutische Relevanz dieses Ansatzes ist enorm – insbesondere, da antivirale Medikamente bereits seit Jahrzehnten zugelassen, kostengünstig und gut verträglich sind. Sollte sich der protektive Effekt in weiteren Studien bestätigen, wäre eine präventive Therapie für bestimmte Risikogruppen denkbar – etwa bei genetischer Prädisposition oder familiärer Demenzanamnese. Die Idee: Statt erst zu reagieren, wenn Symptome manifest sind, könnte frühzeitig interveniert werden, um neuronale Strukturen zu schützen. Damit würde sich ein völlig neuer Zugang zur Alzheimer-Prävention eröffnen, der über klassische Lifestyle-Interventionen und kognitive Übungen hinausgeht.
Doch der Weg dorthin ist weit. Bislang gibt es keine Leitlinie, die eine antivirale Dauertherapie zur Alzheimerprävention empfiehlt. Auch fehlen prospektive Studien, die Wirkung und Nebenwirkungen einer solchen Langzeitbehandlung systematisch erfassen. Was die aktuelle Studie jedoch liefert, ist ein plausibles Argument, diesen Weg ernsthaft zu prüfen. Die Frage, ob ein einfaches Herpesmittel das Risiko für eine der folgenschwersten Erkrankungen des Alterns senken kann, ist zu wichtig, um sie unbeantwortet zu lassen.
Der Blick auf das Virus als neurodegenerativer Trigger ist auch politisch und ökonomisch bedeutsam. Alzheimer gehört zu den teuersten Erkrankungen des Gesundheitssystems – mit wachsender Tendenz durch die alternde Bevölkerung. Eine kostengünstige Präventionsmaßnahme wäre nicht nur medizinisch relevant, sondern auch volkswirtschaftlich ein Durchbruch. Umso dringlicher ist es, die Erkenntnisse aus Studien wie der vorliegenden nicht im akademischen Diskurs verhallen zu lassen. Der nächste Schritt ist klar: gezielte Interventionsstudien, differenzierte Risikogruppenanalysen und eine offene Debatte über die Neubewertung antiviraler Therapieformen im geriatrischen Kontext.
Was heute noch wie eine These klingt, könnte in wenigen Jahren zur medizinischen Realität gehören – wenn die Forschung den Mut hat, sich von alten Denkschulen zu lösen. Der Herpesvirus war nie nur ein kosmetisches Problem. Vielleicht ist er – im schlimmsten Fall – ein stiller Zerstörer des Gedächtnisses.
Von Engin Günder, Fachjournalist
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