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  • 26.05.2025 – Apotheken-Nachrichten von heute: Absichern ohne Abzug, arbeiten mit Belastung, erben ohne Papierkrieg
    26.05.2025 – Apotheken-Nachrichten von heute: Absichern ohne Abzug, arbeiten mit Belastung, erben ohne Papierkrieg
    APOTHEKE | Medienspiegel & Presse | Versicherte fürchten Rentenkürzungen, Apotheken verlieren Filialen, Pflegezeit bleibt ungenutzt, digitale Rezeptvergabe wird zum Risiko,...

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APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |

Apotheken-Nachrichten von heute: Absichern ohne Abzug, arbeiten mit Belastung, erben ohne Papierkrieg


Warum BU-Rente und Erwerbsminderungsrente nebeneinander stehen, Apotheken auf Pflegezeit reagieren müssen und ein zerrissenes Testament das Erbrecht neu sortiert

Wer sich gegen Berufsunfähigkeit absichert oder auf die gesetzliche Erwerbsminderungsrente angewiesen ist, kämpft nicht nur mit der Realität gesundheitlicher Einschränkungen, sondern oft auch mit der Furcht, dass das eine die Auszahlung des anderen schmälert – eine Sorge, die trotz klarer Rechtslage nie ganz verschwindet, weil Unsicherheit in existenziellen Fragen besonders tief sitzt. Gleichzeitig geraten Apothekenfilialverbünde unter Druck, deren Konzept einst als betriebswirtschaftlicher Rettungsanker galt: Statt Synergien zu entfalten, verlieren sie zunehmend Standorte, während die Versorgung in der Fläche brüchig wird und zentrale Modelle an den Rändern versagen. Inmitten familiärer Belastungslagen fehlt Apotheken zudem vielfach das Wissen um arbeitsrechtliche Instrumente wie Pflegezeit oder Familienpflegezeit, obwohl genau diese Schutzmechanismen dringend gebraucht würden. Parallel zeigt der Fall eines männlichen Testkunden, der online ohne Rückfrage ein Rezept für ein Kontrazeptivum erhielt, wie riskant automatisierte Ferndiagnostik im Alltag geworden ist – und dass Plattformen wie DoktorABC strukturelle Lücken nicht mehr kaschieren, sondern reproduzieren. Juristisch macht ein zerrissenes Testament deutlich, dass äußere Form über inneren Willen obsiegt, während das Amtsgericht München im Schadenfall um einen Betonsockel die Eigenverantwortung über Baupflicht stellt. Derweil prüft der SAV den OTC-Switch für Aciclovir, Melatonin und Rupatadin, die BAK verlangt klare Fortbildungsstandards, der ADA kombiniert Stabilität mit strategischer Öffnung und die Krankenkasse KKH schlägt Alarm: Immer mehr Menschen rauchen, immer mehr erkranken an COPD – und immer weniger gelingt, was nötig wäre.

 

Versichert ist versichert, beansprucht ist beansprucht, gekürzt wird nicht

Warum Erwerbsminderungsrente und BU-Leistung nebeneinander bestehen dürfen und was Versicherte unbedingt wissen sollten

Die Angst vor Rentenkürzungen treibt viele, die auf ihre private Berufsunfähigkeitsversicherung vertrauen, ebenso um wie jene, die auf die gesetzliche Erwerbsminderungsrente angewiesen sind. Dass beide Systeme nebeneinander existieren und rechtlich unabhängig voneinander operieren, sorgt in der Praxis dennoch immer wieder für Verunsicherung. Es geht um viel Geld, und es geht um Klarheit. Denn wer einmal den Halt seiner Erwerbsfähigkeit verliert, darf nicht auch noch den Halt in seinen Absicherungsansprüchen einbüßen.

Der zentrale Unterschied zwischen beiden Leistungsarten beginnt bereits bei der Systematik: Die gesetzliche Erwerbsminderungsrente (EMR) ist eine sozialrechtlich kodifizierte Rentenleistung. Sie richtet sich nicht nach der zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit, sondern danach, ob überhaupt noch eine Erwerbstätigkeit – gleich welcher Art – auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeübt werden kann. Wer weniger als drei Stunden täglich arbeitsfähig ist, erhält die volle EMR, wer zwischen drei und sechs Stunden leisten kann, eine teilweise Rente. Es zählt nicht mehr, ob jemand einmal Ingenieurin, Lagerist oder Pianist war – es zählt nur die objektive Restarbeitsfähigkeit. Die private Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) funktioniert hingegen auf vertraglicher Ebene – sie prüft, ob die versicherte Person ihren zuletzt ausgeübten Beruf, gemessen am Gesundheitszustand vor Eintritt der Beeinträchtigung, noch zu mindestens 50 Prozent ausüben kann. Das ist nicht nur ein anderer Maßstab, es ist ein vollkommen anderer rechtlicher Kosmos.

Diese Unterscheidung hat direkte Konsequenzen für die Frage, ob der Bezug der einen Leistung die Auszahlung der anderen mindern kann. Die klare Antwort lautet: nein. Die BU-Rente ist eine Summenversicherung, keine Schadensversicherung. Das bedeutet: Es kommt nicht auf einen tatsächlich eingetretenen wirtschaftlichen Schaden an – sondern einzig auf die vertraglich zugesagte Leistung. Ist die Bedingung der Berufsunfähigkeit erfüllt, wird die vereinbarte Rente ausgezahlt – unabhängig davon, ob daneben noch andere Leistungen bezogen werden, und unabhängig davon, wie hoch das verbleibende Gesamteinkommen des Versicherten ausfällt. Auch eine sogenannte „Überversicherung“ ist nur bei der Antragstellung prüfrelevant, nicht im Leistungsfall.

Anders ist die Situation bei der gesetzlichen Erwerbsminderungsrente. Zwar besteht auch hier kein grundsätzliches „Bereicherungsverbot“, wohl aber konkrete Hinzuverdienstgrenzen. Diese richten sich nach dem Sozialgesetzbuch VI und wurden in den letzten Jahren kontinuierlich angepasst. Maßgeblich sind hierbei nicht nur Erwerbseinkommen im klassischen Sinne, sondern auch steuerrechtliche Gewinne etwa aus Vermietung, Kapitalanlagen oder Gewerbebetrieb. Doch: Die Leistungen aus einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung gelten ausdrücklich nicht als Hinzuverdienst im Sinne des SGB VI. Sie stellen kein Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit dar und unterliegen daher auch keinen Anrechnungsregeln. Selbst bei gleichzeitigem Bezug von BU-Rente und voller Erwerbsminderungsrente bleibt die gesetzliche Leistung ungekürzt – solange keine darüber hinausgehenden Erwerbseinkünfte erzielt werden.

Diese Koexistenz wirft dennoch praktische Fragen auf. Muss der Bezug beider Rentenarten den jeweiligen Trägern mitgeteilt werden? Welche Wechselwirkungen entstehen im Rahmen steuerlicher Betrachtungen oder bei Bezug von Grundsicherungsleistungen? Auch wenn das Leistungsrecht selbst keine Kürzung vorsieht, kann es im Verwaltungsverfahren zu Rückfragen oder Prüfungen kommen – insbesondere wenn hohe BU-Leistungen als regelmäßige Einnahmen den Lebensunterhalt vollständig abdecken. Wichtig ist daher: Alle Leistungsbezüge sollten offengelegt werden, nicht aus juristischer Verpflichtung, sondern aus praktischer Klugheit.

Ein besonderes Augenmerk verdient auch der Punkt der Beitragsbefreiung bei BU-Versicherungen. Diese greift in vielen Policen automatisch bei anerkanntem Leistungsfall und bedeutet, dass keine Beiträge mehr gezahlt werden müssen, ohne dass dies die Höhe der Leistung schmälert. Auch hier gilt: Die gesetzliche Rentenversicherung zieht aus einer solchen Konstellation keine negativen Konsequenzen, solange keine Erwerbstätigkeit aufgenommen wird.

In der rechtlichen Bewertung ist schließlich entscheidend, dass BU- und EMR-Leistungen keine konkurrierenden, sondern komplementäre Instrumente der sozialen und privaten Sicherung darstellen. Sie beruhen auf unterschiedlichen Prinzipien, erfüllen unterschiedliche Zwecke und greifen in unterschiedlichen Lebenslagen. Während die gesetzliche Rente eine Mindestsicherung bei genereller Erwerbsunfähigkeit darstellt, dient die BU-Rente dem Schutz individueller Lebensstandards bei Verlust des spezifischen Berufs. In einem modernen Sozialstaat, der Eigenverantwortung und Solidarität gleichermaßen fördern will, ist diese Unterscheidung nicht nur legitim – sie ist notwendig.

So bleibt im Ergebnis festzuhalten: Wer eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen hat, kann im Falle anerkannter Berufsunfähigkeit auf diese Leistung bestehen – auch wenn parallel eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente bezogen wird. Umgekehrt wird die EMR nicht durch BU-Leistungen gekürzt. Nur tatsächliche Hinzuverdienste aus aktiver Erwerbstätigkeit beeinflussen die gesetzliche Rentenhöhe. Die vermeintliche Gefahr einer „Doppelzahlung“ ist daher ein Mythos. Versichert ist versichert, beansprucht ist beansprucht – und das bleibt auch so.

 

Ketten wachsen nur auf Papier, Filialen schrumpfen im Betrieb, Versorgung verliert vor Ort

Wie Apothekenverbünde zunehmend Standorte verlieren, der wirtschaftliche Druck die Zentralstrukturen unterhöhlt und Versorgungslücken neue Zentren erzwingen

Sie galten einst als Bollwerk gegen das Apothekensterben, als strategischer Gegenentwurf zur Einzelkämpferstruktur, als betriebswirtschaftlich überlegene Antwort auf Honorarstagnation, Personalnot und regulatorischen Dauerstress: die Filialverbünde. Mit dem AMNOG-Jahrzehnt etablierte sich das Modell, das auf Synergien, Aufgabenteilung und wirtschaftliche Skalierung setzte. Wer sich als Inhaber:in eines Filialverbunds etablieren konnte, schien gegen viele Widrigkeiten der Standortsicherung gewappnet. Doch der Trend hat sich gekehrt – schleichend erst, dann dramatisch. Seit 2022 übersteigen die Schließungen im Segment der Filialapotheken erstmals jene bei den Einzelbetrieben. Und das Narrativ der überlegenen Struktur beginnt zu bröckeln.

Die Zahlen zeichnen ein eindeutiges Bild: Während im Zeitraum zwischen 2010 und 2021 die Zahl der Filialbetriebsstätten um rund 30 Prozent zunahm, setzt seit 2022 ein beschleunigter Schrumpfungsprozess ein. Laut DAV-Wirtschaftsbericht 2024 wurden im vergangenen Jahr 318 Apotheken geschlossen – 168 davon Filialen. Erstmals liegt der relative Anteil der Filialschließungen über dem Durchschnitt aller Apothekenschließungen. Der „Kannibalisierungseffekt“ innerhalb der Strukturen, wie es Betriebswirtschaftler:innen nennen, ist ein Warnsignal. Besonders betroffen sind Mittelzentren und suburbane Räume, wo die Investitionsschwelle niedriger war, die Rentabilität aber häufig auf Kante genäht.

Was bedeutet das für die Versorgungslage? Anders als oft angenommen, betrifft der Rückzug aus der Fläche nicht nur ländliche Einzelstandorte. Auch urbane Verdichtungsräume verlieren zunehmend Filialbetriebe – weniger sichtbar, aber folgenschwer. Denn die Filiale ist oft dort positioniert, wo sie ergänzende Aufgaben erfüllt: verlängerte Öffnungszeiten, Notdienstanteil, Spezialversorgung oder Belieferung kooperierender Pflegeeinrichtungen. Bricht sie weg, wird die verbleibende Hauptapotheke nicht selten selbst instabil. Die strukturelle Achse aus Zentrale und ausgelagerter Versorgungseinheit zerfällt – eine neue Form der Versorgungslücke entsteht: die urbane Dezentralisierungslücke.

Ökonomisch wird die Lage nicht einfacher. Filialstrukturen sind auf Effizienzreserven angewiesen – etwa durch gemeinsame Verwaltung, automatisierte Lagerlogistik oder zentrale Rezeptbearbeitung. Doch das amortisiert sich nur bei ausreichendem Umsatzniveau. Steigen Fixkosten – durch Inflation, Lohnanpassungen, Energie oder IT – während gleichzeitig die Erlöse stagnieren oder durch Retaxationen bedroht sind, kehrt sich der betriebswirtschaftliche Vorteil in einen strategischen Klotz am Bein. Hinzu kommt ein weiterer Effekt: die Entwertung des Standorts als Sicherungsmasse. Filialen, die einst als „stiller Wert“ in Finanzierungsstrategien dienten, verlieren an Attraktivität, weil sie keine auskömmliche Rendite mehr bieten. Die Folge: Banken senken die Bewertungsgrundlagen – oder verweigern Anschlussfinanzierungen.

Doch nicht nur die Zahlen sind eindeutig, auch die psychologische Wirkung des Trends ist spürbar: Der Aufbau eines Filialverbundes galt lange als Karriereziel, als sichtbares Zeichen für wirtschaftlichen Erfolg, als unternehmerischer Reifegrad. Heute erzählen viele Inhaber:innen eine andere Geschichte – von Erschöpfung, Managementdruck, Personalproblemen, Regressrisiken und überregulierten Betriebsführungen auf Distanz. Die Verantwortung für drei, vier, fünf Betriebsstätten wird zur mentalen Dauerbelastung. Jede neue gesetzliche Regelung, jedes neue Sicherheitsprotokoll muss fünfmal umgesetzt werden – mit identischer Haftung, aber multipler Fehlerquelle. Nicht wenige ziehen daraus die Konsequenz: Rückbau statt Expansion.

Auch politisch stellt sich die Frage nach der Strategie neu. Lange galt das Filialsystem als Rettungsanker in der flächendeckenden Versorgung. Gesundheitsministerien lobten es als „skalierbares Modell“, das auch bei rückläufiger Apothekenzahl Grundversorgung sichern könne. Doch diese Rechnung geht nicht mehr auf. Wenn Filialbetriebe aus ökonomischen Gründen schließen und die Hauptbetriebe ins Wanken bringen, dann ist die Flächenwirkung negativ. Es bleibt dann nicht ein Restangebot – es kippt der ganze Verbund. Der Rückgang einzelner Filialen ist damit mehr als ein Standortproblem. Er ist ein systemisches Alarmsignal.

Zudem verändert sich der Personalmarkt. Die Filiale war in vielen Fällen ein Einstieg für junge Approbierte, die Leitungsaufgaben übernehmen wollten, ohne gleich Eigentum zu erwerben. Doch die Attraktivität solcher Positionen sinkt, wenn Arbeitsverdichtung, rechtliche Verantwortung und fehlende Entwicklungsperspektiven überwiegen. Der Mangel an Filialleitungen ist längst chronisch – und ein maßgeblicher Grund, warum selbst rentabel laufende Filialen aufgegeben werden müssen. Ohne Leitung keine Filiale – so einfach ist die Gleichung. Und so dramatisch die Wirkung.

Es bleibt ein ernüchternder Befund: Das Modell der Filialverbünde ist an einem Wendepunkt angelangt. Wer glaubt, die Krise der Einzelapotheken lasse sich durch Expansion oder Kettenbildung auffangen, verkennt die strukturelle Krise des Systems. Es braucht neue Antworten: auf die ökonomische Fragilität, auf den kulturellen Verschleiß, auf die personelle Lücke. Ob diese in flexiblen Versorgungsmodellen, mobilen Apotheken, kommunalen Kooperationsstrukturen oder einer neuen Hybridform aus digitalem Backoffice und lokaler Präsenz liegen – das bleibt offen. Sicher ist nur: Die Zeit der Automatikannahme „Mehr Filialen gleich mehr Sicherheit“ ist vorbei.

 

Zerrissener Wille beendet Gültigkeit, klare Form schlägt Vermutung, gesetzliche Erbfolge ersetzt Begünstigung

Wie ein zerstörtes Testament rechtlich entwertet wird, die Beweislast bei vermeintlichen Erben liegt und Gerichte formale Integrität über subjektive Erwartung stellen

Das Papier war zerrissen, die Worte noch lesbar – doch der rechtliche Wille galt als ausgelöscht. Mit seinem Beschluss vom 29. April 2025 (Az. 21 W 26/25) hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main ein juristisch und menschlich bedeutsames Signal gesetzt: Wer sein Testament in der Absicht zerstört, es aufzuheben, verwirkt dessen Wirksamkeit – auch wenn das Dokument weiterhin verwahrt wird, gar sorgfältig in einem Bankschließfach. Für den betroffenen Erbfall bedeutete dies eine schlichte, aber folgenreiche Konsequenz: Die gesetzliche Erbfolge trat in Kraft, der als Alleinerbe im Testament genannte Dritte ging leer aus. Das Urteil bringt damit nicht nur Klarheit zur Reichweite des § 2255 BGB, sondern führt auch plastisch vor Augen, wie sensibel, ja existenziell bedeutungsvoll die äußere Gestalt letztwilliger Verfügungen ist – und welche stummen Zeichen ein Stück Papier senden kann, wenn es von der Hand des Erblassers zerrissen wurde.

Der Fall beginnt mit einer Leerstelle: Nach dem Tod des kinderlosen Erblassers wird die gesetzliche Erbfolge eröffnet – Ehefrau und Mutter treten als Erbengemeinschaft in das Vermögen des Verstorbenen ein. Zwei Monate später wird in einem Bankschließfach ein handschriftliches Testament gefunden. Es benennt eine dritte Person als Alleinerben, ist allerdings mittig auseinandergerissen. Das Schriftstück weist keine äußeren Spuren eines Unfalls auf – keine Wasserschäden, keine Feuermale, keine mechanischen Quetschungen. Stattdessen deutet alles auf eine gezielte Handlung hin. Die Risskanten sind unregelmäßig, das Blatt exakt geteilt, das zerrissene Dokument wurde sorgsam in der Schließfachhülle zurückgelegt. Genau hierin sah das Nachlassgericht – und später das OLG – den entscheidenden Punkt: Die Form des Zerstörens in Kombination mit der Aufbewahrung lege nahe, dass der Erblasser das Testament eigenhändig und willentlich außer Kraft gesetzt habe.

Im Zentrum des Verfahrens steht § 2255 BGB. Er erlaubt den Widerruf eines Testaments durch dessen Vernichtung – sei es durch Zerreißen, Verbrennen oder Zerknüllen. Doch nicht jede Beschädigung führt zur Unwirksamkeit. Es bedarf einer erkennbaren Widerrufsabsicht. Und genau hier entfaltet die Rechtsprechung ihre Interpretationskraft: Denn eine solche Absicht muss nicht ausdrücklich dokumentiert sein – sie kann auch vermutet werden. So entschied das OLG Frankfurt, dass der Zustand des Testaments, seine Lagerung im privaten Bankschließfach und der ungestörte Zugriff ausschließlich durch den Erblasser stark dafür sprechen, dass das Zerreißen Ausdruck einer bewussten Widerrufshandlung war.

Eine rein formale Überlegung? Mitnichten. Der Beschluss berührt die Substanz privater Nachlassregelung, die Fragilität familiärer Vorstellungen – und das Spannungsfeld zwischen persönlicher Autonomie und rechtlicher Struktur. Der durch das Testament begünstigte Dritte hatte gehofft, seine Erbenstellung durchsetzen zu können – nicht zuletzt, weil das Dokument vollständig vorhanden war, nur eben beschädigt. Doch die Gerichte sahen hierin keinen Rettungsanker. Die äußere Form sei nicht bloß ein technisches Merkmal, sondern integraler Teil der Testierfreiheit – wer das Testament zerstört, zerstört die Verfügung. Dass der Erblasser das Dokument weiterhin aufbewahrte, etwa im Schließfach, ändere daran nichts: Der Ort allein könne die Widerrufsabsicht nicht relativieren, zumal keine Anzeichen dafür vorlagen, dass der Erblasser die Zerstörung später revidiert oder das Testament versehentlich beschädigt habe.

Die Entscheidung unterstreicht ein Grundprinzip: Der Wille des Erblassers gilt nur, wenn er auch formal lesbar bleibt – und darf nicht bloß vermutet, sondern muss juristisch sauber dokumentiert sein. Für Erblasser bedeutet das: Wer sein Testament ändern oder widerrufen will, sollte dies nicht nur innerlich beschließen, sondern äußerlich nachvollziehbar vollziehen. Im Umkehrschluss warnt der Fall auch davor, alte Testamente unbedacht aufzubewahren – denn selbst ein nicht mehr gewolltes Dokument kann, wenn es nicht eindeutig widerrufen wurde, zur rechtlichen Grundlage einer Erbschaft werden.

Die Tragweite reicht über den Einzelfall hinaus. Das OLG Frankfurt macht unmissverständlich deutlich: Der Erblasser hatte exklusiven Zugriff auf das Schließfach – Dritte konnten das Dokument nicht beschädigt haben. Genau deshalb sah das Gericht keine Anhaltspunkte, die gesetzliche Vermutung zu entkräften. Wer ein Testament findet, das augenscheinlich vom Erblasser selbst zerrissen wurde, wird es schwer haben, dessen Gültigkeit vor Gericht zu beweisen. Auch wenn kein Ersatztestament existiert – das beschädigte Dokument ist nicht mehr als ein Stück Papier, kein Ausdruck letzter Wille mehr.

In einer alternden Gesellschaft mit komplexen Familienstrukturen, Patchwork-Konstellationen und steigendem Vermögensübergang gewinnt die klare Regelung des Nachlasses zunehmend an Bedeutung. Das OLG Frankfurt liefert mit diesem Beschluss einen Maßstab für die Praxis – und einen Appell an alle, die ihre Erbangelegenheiten regeln wollen: Es genügt nicht, einen Wunsch zu haben. Man muss ihn auch formwirksam sichern – oder ebenso deutlich wieder aufheben.

 

Kein Sichtschutz, kein Anspruch, kein Erfolg

Wie ein unbeachteter Betonsockel zur juristischen Stolperfalle wurde, das Amtsgericht München die Verkehrssicherungspflicht verneinte und Eigenverantwortung über Baupflicht stellte

Die Welt des Verkehrsrechts ist durchzogen von Fällen, in denen scheinbar kleine Details große rechtliche Folgen entfalten. So auch in einem Fall aus München, der exemplarisch zeigt, wie ein kniehoher Betonsockel nicht nur zum Auslöser eines Blechschadens, sondern auch zum Prüfstein für die Reichweite der Verkehrssicherungspflicht werden kann. Das Amtsgericht München (Urteil vom 9. August 2024, Az. 231 C 13838/24) hat dabei deutlich gemacht: Nicht jede unmarkierte Erhebung in einer Tiefgarage begründet eine Haftung – insbesondere nicht, wenn der Fahrer selbst die Sorgfalt vernachlässigt, die das Gesetz von ihm erwartet.

Im Zentrum des Rechtsstreits stand ein Vorfall in der Tiefgarage eines Münchner Unternehmens. Eine Mitarbeiterin, die ihren BMW in dieser Garage regelmäßig parkte, beschädigte beim Aussteigen die Beifahrertür an einem Sockel, der in Kniehöhe vor einer Trägersäule installiert war. Die Frau machte geltend, der Sockel sei unmarkiert, schlecht sichtbar und vermutlich im Zuge jüngerer Umbaumaßnahmen zwischen 2019 und 2022 neu errichtet worden. Der von ihr bezifferte Schaden belief sich auf über 3.200 Euro netto. Sie reichte Klage gegen die mit den Bauarbeiten beauftragte Firma ein und berief sich auf eine angebliche Verletzung der Verkehrssicherungspflicht.

Doch das Amtsgericht München wies die Klage in bemerkenswerter Klarheit ab – und verneinte nicht nur eine Pflichtverletzung der Baufirma, sondern führte auch eine beachtenswerte Argumentationslinie zum Mitverschulden der Klägerin. So konnte nicht belegt werden, dass der Sockel tatsächlich neu errichtet worden war. Vielmehr legte die beklagte Firma dar, dass es sich um ein seit Jahrzehnten vorhandenes Bauelement handle, das im Rahmen der Umbauarbeiten nicht verändert worden sei. Zudem sei nicht bewiesen, dass der Schaden in vollem Umfang durch den Kontakt mit dem Sockel verursacht wurde.

Im Mittelpunkt der rechtlichen Bewertung stand jedoch die Frage, ob eine Verkehrssicherungspflichtverletzung vorlag. Das Gericht verneinte dies mit Verweis auf die übliche Gestaltung von Tiefgaragen. Solche Orte seien – so das Amtsgericht – regelmäßig durch beengte Platzverhältnisse, Stützpfeiler und begrenzte Manövrierflächen gekennzeichnet. Wer sich in ihnen bewege, müsse mit festen Einbauten rechnen und sein Fahrverhalten entsprechend anpassen. Das gelte besonders für regelmäßig wiederkehrende Nutzer, wie in diesem Fall die Klägerin. Fotos zeigten zudem, dass der Sockel breiter war als die dahinterliegende Säule – eine sichtbare Struktur also, kein verstecktes Risiko.

Das Gericht betonte in seiner Begründung, dass nicht jeder bauliche Zustand, der im Ergebnis zu einem Schaden führt, automatisch eine Verkehrssicherungspflicht berührt. Maßgeblich sei, ob objektiv eine erkennbare Gefahrenquelle vorliegt, die über das übliche Maß hinausgeht. Gerade weil sich an dem Sockel bereits andere Lackspuren fanden, verneinte das Gericht eine Hinweispflicht. Solche Spuren zeigten allenfalls, dass andere Fahrer ebenfalls unvorsichtig rangiert hätten – aber nicht, dass das Bauwerk selbst gefährlich oder ungewöhnlich sei. Im Gegenteil: Für die Baufirma war keine Anhaltspunktlage erkennbar, aus der sich eine Warn- oder Kennzeichnungspflicht ergeben hätte.

Ein weiteres zentrales Argument war der Aspekt des Mitverschuldens gemäß § 254 BGB. Die Klägerin nutzte die Garage bereits seit rund zwei Monaten nach den Umbaumaßnahmen – eine Zeitspanne, die es ihr erlaubt hätte, sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu machen. Das Gericht stellte klar: Selbst wenn man unterstellen würde, der Sockel sei im Zuge der Umbauten hinzugefügt worden, wäre das Maß der Eigenverantwortung so hoch, dass es jede etwaige Pflichtverletzung der Beklagten verdrängen würde.

Damit setzt das Urteil einen Akzent im Spannungsfeld zwischen baulicher Verantwortung und individueller Sorgfaltspflicht. Tiefgaragen sind komplexe Räume – strukturell und juristisch. Sie sind geprägt von funktionalen Kompromissen, statischen Notwendigkeiten und geringen Toleranzen beim Manövrieren. Wer sich in diesen Räumen bewegt, trägt einen erheblichen Teil der Verantwortung selbst – nicht zuletzt wegen der eingeschränkten Sichtverhältnisse und der hohen Dichte an Objekten. Das Gericht hat mit seiner Entscheidung nicht nur den konkreten Streitfall gelöst, sondern auch Maßstäbe gesetzt, wie bauliche Elemente zu bewerten sind, die integraler Bestandteil eines Raumkonzepts sind.

In einer Zeit, in der Haftungsansprüche oft weit ausgelegt werden, liefert dieses Urteil ein klares Korrektiv: Sichtbarkeit allein ist nicht entscheidend – entscheidend ist, ob ein Bauelement objektiv gefährlich ist und ob eine besondere Pflicht zur Absicherung besteht. Gerade in halböffentlichen Bereichen wie Tiefgaragen darf von regelmäßigen Nutzern eine erhöhte Aufmerksamkeit verlangt werden.

Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig – aber ihre dogmatische Schärfe dürfte Bestand haben. Und sie ist ein Lehrstück in Sachen Eigenverantwortung, juristischer Maßverhältnisse und baurechtlicher Zumutbarkeit.

 

Pflege organisieren, Kündigungsschutz verstehen, Finanzierungslücken schließen

Was Apotheken über Pflegezeit, Familienpflegezeit und akute Entlastungsoptionen für Beschäftigte wissen müssen

Wenn Apotheken als Arbeitgeber in den nächsten Jahren bestehen wollen, müssen sie nicht nur den Fachkräftemangel bekämpfen, sondern auch Strukturen schaffen, die den wachsenden familiären Belastungen ihrer Beschäftigten Rechnung tragen. Einer der zentralen sozialen Spannungsräume dabei: die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Was auf den ersten Blick wie ein gesellschaftliches Randthema wirkt, wird zunehmend zur strategischen Herausforderung – rechtlich, finanziell und personell. Denn immer mehr Angestellte geraten in familiäre Pflegesituationen, die unplanbar, plötzlich oder dauerhaft den Arbeitsalltag beeinträchtigen – auch in Apotheken. Und gerade hier, wo der Dienst am Menschen zentral ist, kann eine fehlende Entlastung schnell zum betrieblichen Risikofaktor werden. Dass es mit dem Pflegezeitgesetz und dem Familienpflegezeitgesetz zwei gesetzliche Regelwerke gibt, die präzise auf diesen Fall reagieren, ist den meisten Apothekeninhaberinnen und -inhabern nicht einmal bekannt. Dabei könnten diese Gesetze nicht nur zur persönlichen Entlastung beitragen, sondern auch Kündigungsschutz, Planungssicherheit und sogar staatlich gestützte Lohnersatzleistungen ermöglichen. Genau das aber braucht eine Apotheke, die ihre Belegschaft halten will.

Das Pflegezeitgesetz erlaubt Beschäftigten, sich bis zu sechs Monate vollständig oder anteilig vom Beruf freistellen zu lassen – zur häuslichen Pflege naher Angehöriger. Das bedeutet konkret: Wer etwa die Betreuung eines Elternteils oder eines pflegebedürftigen Schwiegervaters übernimmt, kann bis zu einem halben Jahr aus dem Apothekenbetrieb aussteigen – ohne Lohnfortzahlung, aber mit fortlaufender Sozialversicherung und einem vollständigen Kündigungsschutz. Entscheidend ist nicht nur, dass der Pflegebedürftige einen anerkannten Pflegegrad hat oder absehbar erhalten wird, sondern auch, dass die Pflege zu Hause stattfindet. Wer glaubt, dies gelte nur für Familien innerhalb Deutschlands, irrt: Auch Angehörige im Ausland fallen unter den Gesetzesschutz, sofern die häusliche Pflegesituation gegeben ist. Für Arbeitgeber ergibt sich daraus eine klare Planungsanforderung: Personal kann rechtlich abgesichert fehlen – mit einem zehn Tage vorab eingereichten Antrag, formlos, aber verbindlich.

In der Apothekenrealität ist das ein Problem: Kleinbetriebe unter 15 Mitarbeitenden sind vom Geltungsbereich ausgenommen, doch viele angestellte Kolleginnen und Kollegen arbeiten genau in diesen Strukturen. Gesetzlich geregelt ist das nicht – aber freiwillige Regelungen sind selbstverständlich möglich. Wer als Apothekenleitung Vertrauen aufbauen will, muss hier mit gutem Willen vorangehen. Nur so lässt sich verhindern, dass Mitarbeitende aus privaten Gründen kündigen, weil keine flexible Freistellung möglich ist.

Wer dagegen nicht komplett aussteigen möchte, kann auf das Familienpflegezeitgesetz zurückgreifen – eine Regelung, die eine reduzierte Arbeitszeit über bis zu zwei Jahre erlaubt, wenn mindestens 15 Wochenstunden gearbeitet werden. Sie greift in Betrieben mit mehr als 25 Mitarbeitenden, ist also insbesondere für größere Apothekenketten, Klinikapotheken oder Filialverbünde relevant. Auch hier besteht Kündigungsschutz – von der Antragstellung bis zum Ende der Maßnahme. Die Besonderheit: Es gibt ein zinsloses Darlehen vom Bundesamt für Familie, das die Gehaltseinbußen teilweise auffängt. Die Beantragung ist mit einer achtwöchigen Vorlaufzeit verbunden – entscheidend ist die frühzeitige Kommunikation mit der Apothekenleitung.

Was aber, wenn Pflege plötzlich notwendig wird – nach einem Unfall, einer OP, einem Schlaganfall? Auch dafür gibt es eine Lösung: Das Pflegeunterstützungsgeld für die sogenannte kurzzeitige Arbeitsverhinderung. Bis zu zehn Tage kann sich eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter sofort freistellen lassen – und erhält bis zu 70 Prozent des Bruttoeinkommens ersetzt. Der Antrag an den Arbeitgeber kann formlos, sogar telefonisch erfolgen. Diese Möglichkeit ist auch für Kleinbetriebe verpflichtend, solange sie mindestens 15 Angestellte haben.

Doch so klar die gesetzlichen Regelungen sind – ihre praktische Umsetzung hängt fast immer an der Unternehmenskultur. Apothekeninhaber müssen sich fragen: Ermutige ich meine Angestellten zur Nutzung dieser Optionen? Habe ich Notfallkonzepte? Kenne ich die gesetzlichen Spielräume? Und: Schaffe ich Strukturen – etwa über insolvenzgeschützte Zeitwertkonten – die langfristige Planung und Pflegephasen ermöglichen? In vielen Apotheken fehlt es hier nicht am guten Willen, sondern am Wissen. Dabei ist gerade die Gestaltung solcher Freistellungsmodelle ein Wettbewerbsvorteil im Ringen um Fachkräfte. Wer Pflege organisiert, organisiert Bindung.

Die Realität ist: Der demografische Wandel wird in den nächsten Jahren nicht nur die Patientenstruktur, sondern auch die Personalstruktur der Apotheken verändern. Jüngere Kolleginnen und Kollegen werden häufiger Elternpflege leisten müssen, ältere PTA mit pflegebedürftigen Partnern werden weniger belastbar sein, und männliche Mitarbeitende übernehmen zunehmend Verantwortung in der familiären Betreuung. Wer darauf nicht reagiert, verliert. Deshalb ist es höchste Zeit, Pflege nicht als Ausnahmefall, sondern als Strukturaufgabe zu begreifen. Nicht zuletzt, weil sich die gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen in Richtung häuslicher Versorgung verschieben – und Apotheken dabei nicht nur als Medikamentenabgabestellen, sondern als koordinierende Gesundheitsanker gebraucht werden.

 

Rezept, Risiko, Reaktion

Wie ein männlicher Testkunde bei DoktorABC problemlos die Antibabypille erhielt, was das über digitale Rezeptwege verrät und wo die Sicherheitsdebatte ansetzt

Was als persönliches Experiment begann, ist zu einem medizinethischen Weckruf geworden: Apotheker Christoph Rheinheimer bestellte über den Telemedizin-Anbieter DoktorABC ein Rezept für ein orales Kontrazeptivum – unter weiblichem Namen, aber mit männlicher Identität, bewusst ohne Täuschung durch Verkleidung oder Falschangabe im engeren Sinne. Binnen kurzer Zeit erhielt er per Ferndiagnose das Rezept für die Pille, kurz darauf das Medikament – ohne direkte ärztliche Rückfrage, ohne vertiefte Plausibilitätsprüfung, ohne Abgleich zwischen biologischem Geschlecht und Indikation. Was als Testlauf eines engagierten Pharmazeuten begann, offenbart einen beunruhigenden Einblick in das digitale Rezeptwesen: Automatisierte Prozesse, ökonomisierter Zugang, zu wenig Redundanz bei der Kontrolle – mit realem Risiko für Patientensicherheit und Arzneimittelmissbrauch.

Rheinheimer ging es nicht um eine Provokation, sondern um ein Experiment unter realen Bedingungen. Als approbierter Apotheker kennt er die Bedeutung ärztlicher Sorgfalt, pharmakologischer Passgenauigkeit und regulatorischer Kontrolle. Dass ein hormonell wirksames Arzneimittel, das ausschließlich für Frauen mit intakter reproduktiver Funktion zugelassen ist, ohne ein persönliches Gespräch, ohne Untersuchung, ohne Rückversicherung des klinischen Kontextes abgegeben wird, alarmierte ihn – zu Recht. Der Fall wirft grundlegende Fragen auf: Wer prüft Identität, Indikation und Therapiezweck im digitalen Raum? Wie tief darf eine Onlinekonsultation gehen, wenn sie durch standardisierte Formulare ersetzt wird? Und welche Verantwortung tragen Anbieter wie DoktorABC, wenn Systeme, die medizinische Präzision simulieren sollen, reale Fehler ermöglichen?

Die Plattform selbst betont, dass es sich um einen Einzelfall handle. Man verfüge über zahlreiche Schutzmechanismen, darunter strukturierte Anamnesebögen, medizinische Algorithmen, stichprobenhafte Verifikationsverfahren und ärztliche Endkontrollen. Doch der konkrete Ablauf im Fall Rheinheimer zeigt, wie schnell auch gut gemeinte digitale Infrastruktur ins Rutschen geraten kann, wenn operative Standards mit wirtschaftlichen Zielen kollidieren oder Sicherheitsprotokolle nicht lückenlos greifen. Es sei laut Anbieter „nicht auszuschließen“, dass in seltenen Fällen ein Rezept ohne ausreichende Rückversicherung erteilt werde – vor allem, wenn Nutzer:innen keine gravierenden Gesundheitsrisiken angeben und der Algorithmus keine Auffälligkeiten meldet.

Das Problem liegt nicht im Konzept der Telemedizin, sondern in seiner unscharfen Umsetzung. Digitale Diagnostik kann Versorgung verbessern, Wartezeiten verkürzen, Zugänge erleichtern – gerade in unterversorgten Regionen. Doch gerade dort ist die Absicherung durch verlässliche Prüfung noch wichtiger. Dass eine hormonelle Therapie ohne Nachfrage zur Menstruationshistorie, ohne Ausschluss von Kontraindikationen wie Thromboserisiko oder Schwangerschaft, ohne Sichtkontakt oder Rücksprache möglich ist, rückt die regulatorischen Grenzen der Fernbehandlung ins Zentrum der Debatte. Auch haftungsrechtlich stellt sich die Frage: Wer trägt Verantwortung, wenn eine falsche Medikation in Umlauf gerät – die ausstellende Plattform, die Versandapotheke, das IT-System oder der Kunde?

Die Diskussion ist nicht neu, doch der Fall bringt sie auf eine neue Eskalationsstufe. Schon früher hatte es Warnungen vor rezeptgenerierenden Onlineportalen gegeben, etwa bei erektiler Dysfunktion, Schlankheitspräparaten oder Schilddrüsentherapien. Doch ein Szenario, in dem ein Mann problemlos an eine Antibabypille kommt, übersteigt die übliche Fehlermarge – und zeigt, wie trügerisch digitale Effizienz sein kann. Besonders in einem Markt, der auf Zeit- und Preisoptimierung getrimmt ist, dürfen medizinische Prinzipien nicht unter die Räder geraten. Auch für Apotheken, die am Ende die Ware ausgeben, wird das zur Gratwanderung: Sie sind verpflichtet, die Plausibilität zu prüfen, dürfen aber Diagnosen nicht in Frage stellen, wenn ein formal korrektes Rezept vorliegt.

Rheinheimer fordert nach seinem Selbstversuch eine neue Debatte über die strukturellen Risiken digitaler Verschreibung. „Das System ist zu durchlässig“, sagt er, „es braucht mehr Schutzschleifen, mehr medizinische Rückversicherung, mehr Verantwortung.“ Der Gesetzgeber müsse klare Leitplanken definieren, Plattformen stärker in die Pflicht nehmen und digitale Rezeptmodelle endlich an dieselben Sorgfaltsmaßstäbe binden, die für jede Präsenzdiagnostik gelten. Auch Patient:innen müssten sensibilisiert werden: Nur weil etwas bequem ist, ist es nicht automatisch sicher. Die Politik ist gefordert, bevor die Fehler systemisch werden.

 

Qualifizierung braucht Verbindlichkeit, Fortbildung braucht Struktur, Versorgung braucht Vertrauen

Wie die BAK neue Verantwortung einfordert, regulatorische Leerstellen in der Weiterbildung benennt und aus einem Koalitionssignal ein gesundheitspolitisches Reformprojekt macht

Wenn BAK-Präsident Dr. Armin Hoffmann von der Fortbildung spricht, dann meint er nicht bloß Pflichtnachweise für Berufsausübende, sondern die essenzielle Grundlage einer funktionierenden Gesundheitsinfrastruktur – und genau dort, mitten in einer Debatte um Reformbereitschaft und Gestaltungsansprüche, setzt seine jüngste Positionierung ein klares Signal: Die Apothekerschaft will nicht länger reagieren, sondern proaktiv entwickeln, was sie für sich als Kernauftrag definiert. Doch dieser Gestaltungswille prallt auf einen Rahmen, der in Teilen weder eindeutig geregelt noch wirksam unterfüttert ist. Im Zentrum steht dabei die Fortbildung – „wenig reguliert“, wie Hoffmann offen einräumt. Eine Aussage, die überrascht, gerade weil sie aus dem innersten Kreis der Standesvertretung stammt – und genau deshalb Gewicht hat.

Die Bundesapothekerkammer begrüßt den Koalitionsvertrag als konstruktives Signal. Doch sie belässt es nicht beim Applaus für politische Versprechen. Sie fordert eine Umsetzung in klaren Zeitlinien, verbindlichen Maßnahmen und struktureller Anerkennung der Apotheken als zentraler Teil der Versorgungsarchitektur. Hoffmann betont: „Das Papier allein versorgt keine Patientinnen und Patienten.“ Ein Satz, der nicht als rhetorischer Hieb gegen die Politik gemeint ist, sondern als Realitätscheck – dort, wo Apotheken unter strukturellen Lasten ächzen, zwischen regulatorischer Komplexität, wirtschaftlichem Druck und einem rasant wandelnden Anforderungsprofil.

Im Impulspapier der BAK mit dem Titel „In eine gesunde Zukunft mit der Apotheke“ ist dieser Anspruch bereits strategisch vorgezeichnet: Es geht um die Stärkung des Berufsbilds, die Weiterentwicklung des pharmazeutischen Selbstverständnisses und die gleichzeitige Positionierung als systemisch unverzichtbarer Akteur. Dass die Apothekerschaft dafür nicht nur politische Rückendeckung, sondern auch interne Disziplin braucht, lässt Hoffmann durchblicken – besonders beim Thema Fortbildung. Hier sieht er erheblichen Nachholbedarf und fordert, was bislang zu oft ausgeblendet wurde: klare Strukturen, Qualitätssicherung, ein regulatorisches Fundament.

Der Hinweis, dass Fortbildung im apothekerlichen Bereich bislang „wenig reguliert“ sei, ist mehr als ein nüchterner Befund. Er ist eine Einladung zum Diskurs über ein Versorgungsverständnis, das sich nicht auf ökonomische Bewertung oder punktuelle Dienstleistungsförderung reduzieren lässt. Denn genau dort, wo Apotheken Leistungen erbringen – von der Medikationsanalyse bis zum Impfen – entscheidet am Ende die Qualifikation des Personals über Qualität, Vertrauen und Versorgungssicherheit. Wenn diese Qualifikation aber auf freiwilliger Grundlage bleibt, unterliegt sie dem Risiko der Erosion – nicht im Sinne eines akuten Qualitätsabfalls, sondern einer schleichenden Schwächung der professionellen Basis.

Die Bundesapothekerkammer hat hier eine doppelte Rolle: Sie ist fachliche Standardsetzerin – und gleichzeitig politische Impulsgeberin. Das bedeutet auch, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Etwa dass selbstverpflichtende Fortbildung allein nicht ausreicht, wenn sich das System professionalisieren soll. Das Gesundheitssystem ist dynamisch, regulatorisch hochkomplex und zunehmend technologiegetrieben. Fortbildung muss dieser Dynamik folgen – nicht als freiwillige Übung, sondern als verbindliches Qualifizierungsprinzip. Andere Heilberufe, so Hoffmann indirekt, sind hier weiter – weil sie über klare gesetzliche Rahmenbedingungen verfügen.

Dass Hoffmann keinen Denkverboten folgen will, sondern zum offenen Dialog einlädt, ist bemerkenswert. Denn dieser Dialog muss auch schmerzhafte Fragen stellen: Wie soll ein Fortbildungsrahmen ausgestaltet werden, der Qualität garantiert, aber keine Überregulierung schafft? Wie lassen sich intrinsische Motivation und externe Anforderungen in Balance bringen? Und vor allem: Wer trägt die Verantwortung für die Struktur – Kammern, Politik oder Arbeitgeber?

Die derzeitige Gemengelage macht deutlich, dass Fortbildung mehr ist als ein formales Thema. Sie ist der Lackmustest für die Reformfähigkeit eines Berufsstands, der sich selbst immer wieder als Teil der Lösung definiert, zugleich aber die systemischen Voraussetzungen dafür einfordert. Dass die BAK nun in diese Verantwortung geht, ist ein Signal. Doch es wird nur dann wirken, wenn aus dem Signal ein Fahrplan wird – mit politischen Wegmarken, strukturellen Veränderungen und einem gemeinsamen Verständnis dafür, dass Qualifikation keine betriebliche Privatangelegenheit ist, sondern Teil der öffentlichen Gesundheitsverantwortung.

Die Frage ist also nicht, ob Apotheken bereit sind, mehr Verantwortung zu übernehmen – sondern ob das System bereit ist, ihnen dafür die nötige Stabilität und die richtigen Werkzeuge zu geben. Fortbildung ist kein Nebenschauplatz, sondern das Fundament. Und wenn dieses Fundament bröckelt, wackelt die gesamte Versorgungsarchitektur. Genau deshalb braucht die Debatte jetzt nicht nur Wohlwollen, sondern Verbindlichkeit – und einen politischen Schulterschluss mit dem Berufsstand, der längst bereit ist, mehr zu leisten, als er darf.

 

Stabilität demonstriert, Verantwortung erweitert, Interessen strategisch geschärft

Wie der ADA mit alter Spitze und neuer Stimme Kontinuität wahrt, Verantwortung neu sortiert und seine Rolle im Apothekengefüge neu konturiert

Die Vorstandswahl des Arbeitgeberverbands Deutscher Apotheken (ADA) hätte eine Formalie sein können. Doch das Ergebnis der Sitzung, die vergangene Woche am Rande der Gremientagungen der ABDA in Berlin stattfand, gibt Anlass zur vertieften Betrachtung. Nicht nur, weil mit der Bestätigung der amtierenden Vorsitzenden ein deutliches Signal der Stabilität gesendet wurde. Sondern vor allem, weil mit dem Zugang eines neuen Mitglieds im Führungskreis auch eine strategische Weichenstellung vorgenommen wurde, die über bloße Personalpolitik hinausreicht. Der ADA präsentiert sich damit als Verband, der zwar an bewährter Führung festhält, aber offen bleibt für frische Perspektiven – ein Balanceakt, der angesichts der Umbrüche im Apothekenwesen weder trivial noch risikofrei ist.

An der Spitze des ADA bleibt wie erwartet Dr. Thomas Preis, der seit Jahren nicht nur als Vorsitzender des Verbands, sondern auch als Präsident des Apothekerverbands Nordrhein maßgebliche Akzente in der Standesvertretung setzt. Preis verkörpert Kontinuität, aber auch ein pragmatisches Verständnis für politische Machtmechanismen – ein Umstand, der ihm intern sowohl Respekt als auch Kritik einbringt. Mit der Wiederwahl unterstreichen die Mitglieder ihr Vertrauen in seine Fähigkeit, den Verband durch die aktuell unruhigen Gewässer zu steuern: Eine Apothekerschaft zwischen Personalkrise, wirtschaftlichem Druck, politischen Blockaden und transformatorischem Anpassungszwang braucht offenbar jene Führung, die Konflikte kennt – und aushält.

Für Aufmerksamkeit sorgt indes der neue Name im Vorstand: Daniela Drung, bislang eher als regionalpolitisch aktive Apothekerin in Erscheinung getreten, übernimmt künftig Verantwortung auf Bundesebene. Ihr Eintritt steht nicht nur für einen Generationswechsel, sondern auch für die schrittweise Öffnung des Verbandes gegenüber neuen Profilen. Drung bringt keine klassische Funktionärskarriere mit, sondern ein stark betriebspraktisches Profil mit betriebswirtschaftlichem Fokus. Ihr Einzug in den Vorstand ist damit mehr als Symbolpolitik: Er verweist auf die zunehmende Notwendigkeit, Arbeitgeberinteressen nicht nur berufspolitisch, sondern auch unternehmerisch wirksam zu vertreten – gerade in Zeiten, in denen Lohnkosten, tarifliche Bindungen, Arbeitszeitmodelle und Fachkräftemangel das Rückgrat der wirtschaftlichen Existenz bilden.

Dass der ADA sein Führungsteam in dieser Weise stabilisiert und gleichzeitig ergänzt, markiert einen bewussten Richtungsentscheid. Nach außen bleibt die Sprache der Kontinuität dominant, intern jedoch scheint die Erkenntnis gereift zu sein, dass der Verband als Arbeitgebervertretung nicht mehr nur flankierende Standespolitik betreiben kann, sondern zunehmend systemgestaltende Rolle einnehmen muss. Die strukturelle Lücke zwischen wirtschaftlicher Realität in Apotheken und tarifpolitischer Rhetorik war in den letzten Jahren zu deutlich geworden, um sie noch länger mit personeller Monokultur oder bloßem Reaktionsverhalten zu überbrücken. Gerade deshalb erhält die Wahl von Drung Gewicht: Ihre Nominierung steht für eine stärkere betriebsnahe Argumentation, für eine fachliche Justierung des ADA in Richtung Verhandlungsstärke und innerer Differenzierung – gerade in der Vorbereitung auf künftige Aushandlungsprozesse mit Gewerkschaften und Politik.

Denn in Wahrheit wächst der Druck auf den Verband nicht nur durch äußere Entwicklungen – Stichworte: Arbeitsmarktenge, Mindestlohnanpassung, Generation Z –, sondern ebenso durch die Erwartungen der eigenen Basis. Viele Apothekeninhaber:innen fühlen sich von der standespolitischen Großkulisse der ABDA nur unzureichend vertreten, wenn es um die unmittelbaren Nöte ihres Betriebes geht: fehlende Personalbindung, unflexible Tarifmechanismen, bürokratische Überforderungen, wirtschaftlicher Handlungsspielraum unter dem Fixhonorar-Radar. Hier wird der ADA als explizite Arbeitgebervertretung zur strategischen Projektionsfläche – und zum Adressaten zunehmender Ungeduld.

Mit der aktuellen Vorstandskonstellation könnte der Verband nun versuchen, eine doppelte Brücke zu schlagen: institutionelle Anschlussfähigkeit nach innen – durch vertraute Gesichter und gewachsene Netzwerke – sowie neue Impulsfähigkeit nach außen – durch die gezielte Öffnung für Nachwuchs- und Unternehmerperspektiven. Es ist kein Zufall, dass in der Mitgliedschaft zunehmend auch Stimmen laut werden, die eine intensivere Beteiligung des ADA an digitalisierungsrelevanten Themen, Ausbildungsstrategien, Fachkräftegewinnung und innovativen Arbeitszeitmodellen fordern. Der Verband wird daran gemessen werden, ob er diese Forderungen aufnimmt – und übersetzt.

Die Vorstandswahl zeigt also mehr als eine bloße Bestätigung alter Kräfte. Sie demonstriert einen Strategiewechsel in kleinen, aber wirkungsvollen Dosen. Der ADA setzt auf Evolution, nicht Revolution – aber gerade diese stille Neupositionierung birgt Potenzial. In einem Umfeld, in dem viele Akteure um Aufmerksamkeit ringen, kann jene Organisation gewinnen, die ihre Glaubwürdigkeit als gestaltende Instanz glaubhaft unter Beweis stellt. Ob das gelingt, hängt weniger vom institutionellen Rahmen als vom politischen Willen ab, aus dem Wahlakt auch einen Gestaltungsauftrag zu machen. Die Zeit der bloßen Flankierung ist vorbei – das System braucht konkrete arbeitsrechtliche, tarifpolitische und betriebspraktische Antworten. Der neue ADA-Vorstand ist nun gefordert, sie zu liefern.

 

Aciclovir vor der Freigabe, Melatonin im Fokus, Rupatadin in der Diskussion

Wie der SAV drei Wirkstoffe neu bewerten will, warum die Bukkaltablette strategisch bedeutsam ist und wieso die Wirkstoffangabe erneut zur Gretchenfrage wird

Noch ist nichts entschieden, doch die Agenda steht: Mitte Juli tritt der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht (SAV) zu einer Sitzung zusammen, deren Tragweite weit über die drei dort zur Diskussion stehenden Wirkstoffe hinausreicht. Aciclovir 50 mg als Bukkaltablette, Melatonin 3 mg zur oralen Anwendung sowie Rupatadin 10 mg stehen auf der Liste möglicher OTC-Switches. Was nach Routine klingt, könnte sich in der Perspektive als gesundheitspolitischer Paradigmenwechsel erweisen – mit Folgen für Selbstmedikation, Rezeptpraxis und die Stellung ärztlicher Verordnungen. Denn neben der Entlassung aus der Rezeptpflicht kehrt auch ein heikles Thema zurück auf den Tisch: die verpflichtende Wirkstoffangabe bei Fertigarzneimittel-Verordnungen – ein Vorstoß, der schon einmal vertagt wurde, weil er mehr Fragen aufwarf als beantwortete.

Die eigentliche Brisanz aber liegt in einem vermeintlich kleinen Wirkstoff mit überschaubarer Dosis: Aciclovir 50 mg. Nicht als Tablette zum Schlucken, sondern in Form einer Bukkaltablette, die gezielt lokal im Mundraum Herpes-simplex-Infektionen behandeln soll. Diese Darreichung ist in Deutschland bislang nicht erhältlich, wird in Frankreich jedoch seit Jahren erfolgreich in der Selbstmedikation eingesetzt. Sie stellt eine ungewöhnlich präzise Dosierung dar – niedrig genug, um keine systemische Gefährdung zu erzeugen, aber hoch genug, um lokal antiviral zu wirken. Gerade in Zeiten zunehmender Antibiotikaresistenz und wachsender Versorgungsengpässe könnten solche punktgenauen Präparate eine neue Qualität der Selbstbehandlung etablieren. Der mögliche OTC-Switch für Aciclovir ist deshalb mehr als eine juristische Anpassung: Er ist ein Testfall für das Vertrauen in mündige Patient:innen und das Mutmaßungsprinzip medizinischer Sicherheit.

Das Gleiche gilt – wenngleich unter anderen Vorzeichen – für Melatonin. Seit Jahren gibt es Nahrungsergänzungsmittel in einer Vielzahl von Formen, von Sprays über Gummibärchen bis zu Kapseln, oft in Dosierungen, die über denen der zugelassenen Arzneimittel liegen. Der Antrag für einen OTC-Switch bei der 3-mg-Tablette ist nicht nur eine logische Fortsetzung dieser Entwicklung, sondern zugleich eine dringend notwendige Aufräumarbeit auf regulatorischer Ebene. Während die 2-mg-Retardtablette verschreibungspflichtig ist, lassen sich Präparate mit 5 mg in Drogerien kaufen – jedoch mit anderer Kennzeichnung. Die geplante Entlassung aus der Rezeptpflicht würde diesen Zustand nicht nur legalisieren, sondern auch vereinheitlichen – sofern eine klare Abgrenzung zwischen Nahrungsergänzung und Arzneimittel gelingen sollte. Doch gerade hier liegt die Schwierigkeit: In einer rechtlichen Grauzone werden Verbraucher:innen seit Jahren mit Werbeversprechen konfrontiert, die therapeutische Erwartungen wecken, ohne haftbar zu sein.

Rupatadin wiederum ist ein klassisches Beispiel für den Wandel von Blockbuster-Medikamenten zu Alltagssubstanzen. Als Antihistaminikum der zweiten Generation wird es bereits seit Jahren zur Behandlung allergischer Rhinitis eingesetzt. Seine Vorteile – geringe Sedierung, gute Verträglichkeit – sprechen ebenso für einen OTC-Switch wie sein Sicherheitsprofil. Doch der SAV wird sich nicht nur mit pharmakologischen Aspekten befassen müssen. Die Frage steht im Raum, ob ein OTC-Switch neue Versorgungsimpulse setzen kann oder lediglich bestehende Antihistaminika substituiert – mit unklarer Marktwirkung und möglicher Verunsicherung bei Patient:innen. Besonders, wenn es zu Wechselwirkungen mit anderen Antihistaminika kommt oder die Indikation in die Selbstdiagnose übergeht, wie etwa bei allergischen Reaktionen ohne klaren Auslöser.

Parallel dazu gewinnt ein anderes Thema erneut an Brisanz: die verpflichtende Angabe des Wirkstoffnamens bei der Verordnung von Fertigarzneimitteln. Was auf den ersten Blick als IT-Detail erscheint, hat bei näherer Betrachtung das Potenzial, die Verordnungspraxis tiefgreifend zu verändern. Der Fall eines 15-Jährigen, dem aufgrund alphabetischer Nähe zweier Präparate in der Praxissoftware statt des Antibiotikums CEC (Cefaclor) das Zytostatikum Cecenu (Lomustin) verordnet wurde, hat die Diskussion neu entfacht. Der damalige Anlauf, § 2 der Arzneimittelverschreibungsverordnung entsprechend zu erweitern, wurde nicht abgeschlossen – aus Sorge vor Missverständnissen und wegen offener Umsetzungsfragen.

Doch das Dilemma bleibt: Wie lässt sich ärztliche Entscheidungsfreiheit mit Patientensicherheit und Systemstabilität vereinen? Eine verpflichtende Wirkstoffangabe würde einerseits Medikationsfehler durch Verwechslung minimieren, andererseits aber die ärztliche Autonomie bei der Produktwahl tangieren – und zugleich dem Druck Vorschub leisten, günstigere, generische Präparate zu bevorzugen, was wiederum den Zielkonflikt zwischen Therapieindividualität und Wirtschaftlichkeit verschärft.

Der Juli-Termin des SAV wird daher zur Weichenstellung. Nicht nur für drei Wirkstoffe mit symbolischer Reichweite. Sondern auch für die Frage, wie viel Vertrauen eine Gesellschaft ihrer Bevölkerung bei der Selbstmedikation zutraut, welchen Beitrag die digitale Infrastruktur zur Arzneimittelsicherheit leisten kann – und ob Regulierung primär als Schutzmechanismus oder als Gestaltungskraft verstanden werden soll. Die Antwort darauf wird nicht allein pharmakologisch sein. Sie wird politisch sein müssen.

 

Zahl steigt, Risiko wächst, Hilfe bleibt rar

Wie Deutschland beim Tabakkonsum versagt, die COPD-Raten explodieren und Aufklärung am Widerstand der Gewohnheit scheitert

Rauchen ist zurück – nicht als Mode, sondern als ungebrochene Gesundheitslast. Während der Tabakkonsum in vielen westlichen Ländern stagniert oder rückläufig ist, zeigt sich in Deutschland ein gegenteiliger Trend, der das gesamte Präventionssystem in Frage stellt. Zwischen 2013 und 2023 stieg die Zahl der medizinisch erfassten Starkraucher um fast die Hälfte. Ein Befund, der nicht nur statistisch bedrohlich, sondern auch gesundheitspolitisch alarmierend ist: Denn mehr als jede fünfte dieser Personen leidet inzwischen an einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung, kurz COPD – mit steigender Tendenz. Das zeigt eine aktuelle Auswertung der KKH Kaufmännische Krankenkasse auf Basis von Versichertendaten.

Die exzessive Nikotinabhängigkeit ist dabei längst nicht nur ein individuelles Problem. Sie ist ein Versagen auf mehreren Ebenen: in der Prävention, der Aufklärung, der Sozialpolitik. Der mediale Fokus auf E-Zigaretten und Lifestyle-Alternativen hat den Blick getrübt für das, was Rauchverhalten in seiner klassischen Form bedeutet – nämlich die systematische Zerstörung von Lungengewebe, Atemwegen, Kreislaufsystemen. Die Folgen sind nicht abstrakt. COPD ist keine bloße Abkürzung, sondern für Millionen Menschen in Deutschland eine lebendige Diagnose: lebensverkürzend, schmerzhaft, teuer. Was früher als "Raucherhusten" verharmlost wurde, ist heute ein klinischer Pfad mit absehbarem Verlauf: Atemnot, Sauerstofftherapie, Krankenhausaufenthalte – und häufig ein früher Tod.

Besonders perfide ist die Dynamik in den Details. Der Anteil der COPD-Erkrankten unter den Starkrauchern stieg innerhalb von zehn Jahren von 19,5 auf 22,8 Prozent – ein Anstieg, der nicht auf verbesserte Diagnostik zurückgeht, sondern auf reale Morbidität. Und das ist nur die sichtbare Spitze. Denn die Dunkelziffer dürfte erheblich höher liegen, wie der Suchtbeauftragte Michael Falkenstein betont. Viele Fälle blieben unentdeckt, weil ärztliche Diagnosen ausblieben oder Raucher nicht zugeben, was sie eigentlich wissen: Dass es keine harmlose Zigarette gibt.

Auch in der Region verschärft sich das Bild. Während Hamburg mit einem moderaten Zuwachs von 26 Prozent über das Jahrzehnt hinweg fast wie eine Präventionshochburg wirkt, verzeichnet Thüringen einen Zuwachs um fast 100 Prozent. Die Ursachen sind vielfältig: strukturelle Unterschiede in der Gesundheitsversorgung, sozioökonomische Faktoren, bildungspolitische Versäumnisse – und nicht zuletzt die immer noch unzureichende Wirkung staatlicher Aufklärungskampagnen. Die erschreckend hohe Prävalenz in einzelnen Bundesländern belegt die Ungleichverteilung gesundheitlicher Risiken. Dass im Saarland mehr als ein Viertel der Starkraucher an COPD leidet, während es andernorts „nur“ 16 Prozent sind, zeigt ein Systemversagen, das sich an regionalen Lebensrealitäten bricht.

Dabei liegt die Lösung auf der Hand – und sie ist zugleich radikal simpel wie gesellschaftlich schwer durchzusetzen: aufhören. Ganz, nicht halb. Wer den Glimmstängel nicht vollständig hinter sich lässt, bleibt im Teufelskreis aus Entzündung, Verengung und Zerstörung. „Reduktion“ ist keine Therapie, sondern eine Form von Aufschub – sowohl medizinisch als auch psychologisch. Nur der vollständige Nikotinverzicht lässt die Lunge regenerieren, verringert das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und verbessert die Lebensqualität. Diese Wahrheit ist unbequem, aber unumstößlich.

Falkenstein mahnt: Auch das „Dampfen“ ist kein Ausweg. E-Zigaretten und Wasserpfeifen – oft romantisiert als modernere oder vermeintlich weniger schädliche Alternativen – führen genauso zur Inhalation schädlicher Substanzen. Der Körper erkennt keine Designvarianten, sondern nur toxische Partikel. Der Trugschluss eines risikoarmen Dampfens ist ein Marketingmärchen, das Menschenleben kostet.

Gleichzeitig zeigt sich ein strukturelles Dilemma: Die Zahl der ärztlich behandelten Tabakabhängigen lag 2023 bei rund sechs Millionen – doch das sind nur jene, die als solche erfasst wurden. Wer nie diagnostiziert wurde oder seine Sucht nicht einräumen kann oder will, taucht nicht in den Statistiken auf – und bleibt damit auch ohne therapeutisches Angebot. Gerade in vulnerablen Gruppen ist die Schwelle zur Versorgung oft zu hoch. Der Zugang zu Programmen ist begrenzt, die finanzielle Förderung unklar, und die Langzeitbegleitung von Entwöhnung zu schwach implementiert. Das deutsche System kennt die Risiken – aber es trägt die Verantwortung nur halbherzig.

Die politische Antwort? Fehlanzeige. Während neue Produkte wie Cannabis in der öffentlichen Debatte breiten Raum einnehmen, fehlt eine offensive Tabakstrategie. Raucherschutzgesetze stagnieren, Steuerpolitik wird zaghaft reformiert, und Präventionsinitiativen bleiben oft unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle. Der öffentliche Raum ist zwar weniger verraucht als vor 30 Jahren – aber das Bewusstsein für die tödlichen Langzeitfolgen des Rauchens ist keineswegs überall geschärft.

Der Wandel müsste umfassend sein: Schulen, Arbeitgeber, Krankenkassen, Medien – sie alle müssten klarer, lauter, konsequenter intervenieren. Aufhören lohnt sich in jedem Alter, so lautet Falkensteins entscheidender Appell. Und die Evidenz spricht für sich: Schon wenige Wochen nach dem Rauchstopp beginnt die Lunge sich zu regenerieren, das Herz-Kreislauf-System stabilisiert sich, Infektanfälligkeit und Atemnot nehmen ab. Wer auch mit 60 oder 70 noch aufhört, gewinnt Jahre – an Leben, an Lebensqualität, an Unabhängigkeit.

Was bleibt, ist die Erkenntnis: Der wachsende Tabakkonsum ist kein bloßes Gesundheitsproblem, sondern ein Spiegel struktureller Hilflosigkeit in einem Land, das besser wissen müsste. Zwischen Präventionsversprechen und Versorgungsrealität klafft eine Lücke, die sich zunehmend mit Lungenemphysemen, Krankenhausrechnungen und verlorenen Lebensjahren füllt. Diese Lücke zu schließen ist keine Frage des Willens, sondern der Systemverantwortung. Und die Zeit, sie zu schließen, läuft ab – mit jedem Zug.

Von Engin Günder, Fachjournalist

 

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