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  • 24.04.2025 – Apotheken-Nachrichten von heute: Plattformdruck, Leitlinien, Sucht und Systemlücken
    24.04.2025 – Apotheken-Nachrichten von heute: Plattformdruck, Leitlinien, Sucht und Systemlücken
    APOTHEKE | Medienspiegel & Presse | Digitale Gesundheitsportale, medizinische Leitlinien, Arzneimittelsicherheit und chronische Erkrankungen: Der Überblick zeigt, wie regula...

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ApoRisk® Nachrichten - APOTHEKE:


APOTHEKE | Medienspiegel & Presse |

Apotheken-Nachrichten von heute: Plattformdruck, Leitlinien, Sucht und Systemlücken

 

Digitale Abhängigkeit, neue Krankheitsbilder und politische Versäumnisse fordern das Versorgungssystem heraus.

Die digitale Transformation des Gesundheitswesens schreitet voran – mit tiefgreifenden Folgen. Terminplattformen versprechen einfache Arztbuchungen, führen aber zu einer gefährlichen Privatisierung von Zugangswegen. Während Leitlinien wie zur transgeschlechtlichen Jugendmedizin für Standards sorgen, verschärfen neue EU-Pläne zur Arzneimittelsicherheit die Bürokratiedebatte. Gleichzeitig wächst der Druck auf die Apotheken, etwa durch neue Notdienststrukturen und Finanzierungsfragen. Die steigende Cannabisnutzung und die Anerkennung des Typ-5-Diabetes werfen Fragen nach Versorgungsgerechtigkeit auf. Forschungsergebnisse zu persistierenden Zellwandfragmenten bei Lyme-Borreliose beleuchten mögliche Ursachen chronischer Leiden, während die EU beim Kampf gegen HIV und Hepatitis hinter Zielen zurückbleibt. Zugleich treibt die FDA in den USA neue Wirkstoffe voran, Europa bleibt abwartend. Trotz Alternativen dominieren Tierversuche weiter den Forschungsalltag, und legale Drogen wie Alkohol und Tabak fordern mehr Tote als jede Pandemie – bei gleichzeitigem politischen Stillstand.

 

Digitale Terminportale im Gesundheitswesen: Kritik an wachsender Abhängigkeit von kommerziellen Anbietern

Die wachsende Nutzung von Online-Terminportalen zur Vereinbarung ärztlicher Behandlungen ruft zunehmend Verbraucherschützer und Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherungen auf den Plan. Zwar bieten digitale Plattformen eine flexible Möglichkeit, Arzttermine auch außerhalb der regulären Sprechzeiten zu buchen, doch warnen Experten vor einer strukturellen Verschiebung der Terminvergabe in den kommerziellen Bereich – mit potenziell gravierenden Folgen für die soziale Gerechtigkeit in der Gesundheitsversorgung.

Nach einem Marktcheck des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv) sehen sich immer mehr gesetzlich Versicherte gezwungen, auf private Anbieter zurückzugreifen, weil sie telefonisch keine Erreichbarkeit in den Praxen vorfinden. Nach Angaben des vzbv gaben rund 38 Prozent der befragten Internetnutzerinnen und -nutzer an, in den zwölf Monaten vor der Umfrage einen Arzttermin über ein Online-Portal gebucht zu haben. Etwa die Hälfte von ihnen nannte eine fehlende telefonische Erreichbarkeit der Praxis als Grund. Die damit einhergehende Abhängigkeit von digitalen Geschäftsmodellen wirft Fragen zur Barrierefreiheit und zur Verlagerung öffentlicher Aufgaben auf.

Verbraucherschützer fordern deshalb klare Mindeststandards für kommerzielle Plattformen und den parallelen Ausbau nicht-kommerzieller Terminvermittlungen. Kritisiert wird insbesondere, dass Patienten mitunter zur Einrichtung eines Kundenkontos gezwungen werden oder nur über Portale überhaupt einen Termin erhalten. Der Zugang zur medizinischen Grundversorgung dürfe nicht von wirtschaftlichen Interessen bestimmt werden, so der Tenor. Auch Vertreter der gesetzlichen Krankenversicherungen plädieren für einen verpflichtenden Ausbau digitaler Terminvergabe durch die Praxen selbst – ergänzt um eine zentrale, unabhängige Vermittlungsstelle mit einheitlichen Vorgaben für alle Anbieter.

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung verweist auf die bestehenden Angebote der Terminservicestellen unter der bundesweiten Nummer 116 117, über die bereits Millionen Termine vergeben werden. Diese Infrastruktur sei nicht-kommerziell und könne durch weitere Digitalisierung ausgebaut werden. Voraussetzung sei jedoch eine gesamtgesellschaftliche Finanzierung, da der Ausbau über die Ressourcen der Praxen hinausgehe. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz mahnt an, dass insbesondere ältere, chronisch kranke und pflegebedürftige Menschen nicht von digitalen Lösungen ausgeschlossen werden dürften. Für sie müsse auch weiterhin ein niedrigschwelliger Zugang über Telefon oder persönliche Kontakte gewährleistet sein.

In der politischen Debatte wird das Thema zunehmend aufgegriffen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Matthias Mieves sieht in der Einführung eines sogenannten Primärarztsystems mit Termingarantie und Überweisungsvorbehalt für Fachärzte einen möglichen Lösungsweg. Ziel sei es, die Steuerung des Zugangs zur spezialisierten Versorgung zu verbessern, ohne dabei Patientinnen und Patienten durch komplexe Buchungssysteme zusätzlich zu belasten. Das Konzept ist Bestandteil des Koalitionsvertrags, die Ausgestaltung steht jedoch noch aus.

Die Diskussion um Online-Terminportale verdeutlicht die tiefgreifenden Spannungen zwischen digitalem Fortschritt, ökonomischen Interessen und sozialstaatlichem Anspruch in der medizinischen Versorgung. Während innovative Buchungssysteme die Organisation erleichtern können, bleibt die Herausforderung bestehen, ein gleichberechtigtes, niedrigschwelliges und solidarisch getragenes System zu gewährleisten.

Die Digitalisierung der Terminvergabe im Gesundheitswesen ist ein Symptom für ein tieferliegendes Strukturproblem: Der Zugang zur medizinischen Versorgung wird zunehmend zu einer Frage technischer Ausstattung, digitaler Kompetenz und indirekt auch finanzieller Ressourcen. Was auf den ersten Blick als pragmatische Lösung für überlastete Telefonleitungen erscheint, offenbart bei näherer Betrachtung eine stille Privatisierung eines bislang öffentlich verstandenen Guts: die ärztliche Grundversorgung.

Kommerzielle Terminportale füllen Lücken, die das bestehende System hinterlässt. Dass sie dabei mit professioneller Nutzerführung, rund um die Uhr erreichbaren Oberflächen und smarten Funktionen punkten, ist unbestritten. Doch ihre Marktstellung beruht nicht auf technischer Überlegenheit allein, sondern vor allem auf strukturellen Defiziten im Versorgungssystem. Dass gesetzlich Versicherte oft gar keine andere Möglichkeit haben, als sich bei kommerziellen Anbietern einzuloggen, um überhaupt einen Arzttermin zu bekommen, markiert einen gesellschaftspolitisch bedenklichen Wendepunkt.

Die Verantwortung für diese Entwicklung liegt nicht allein bei den Plattformen, die aus der Situation ein Geschäftsmodell gemacht haben, sondern vor allem bei den politischen und gesundheitspolitischen Entscheidern. Über Jahre hinweg wurden Versäumnisse in der Digitalisierung der vertragsärztlichen Versorgung und im Ausbau neutraler, öffentlicher Strukturen nicht behoben. Die Terminservicestellen unter der 116 117 wären eine geeignete, nicht-kommerzielle Alternative – aber ihr Ausbau stockt, weil Finanzierung, politische Priorisierung und technische Modernisierung zu lange vernachlässigt wurden.

Gerade in einer alternden Gesellschaft mit hoher Zahl chronisch Kranker und Pflegebedürftiger ist es ein fundamentaler Fehler, den Zugang zur Versorgung an digitale Schnittstellen zu knüpfen, die nicht alle erreichen können. Wer digitale Exklusion billigend in Kauf nimmt, verschärft bestehende soziale Ungleichheiten und verstößt gegen das Solidarprinzip, auf dem das deutsche Gesundheitssystem eigentlich beruhen sollte. Der politische Wille, diese Schieflage zu korrigieren, ist bislang nur in Teilen erkennbar – etwa im Vorschlag eines Primärarztsystems mit Termingarantie. Doch auch dieses Konzept darf nicht zur neuen Barriere für vulnerable Gruppen werden, sondern muss systemisch integriert, sozial flankiert und mit ausreichend Ressourcen ausgestattet sein.

Die Debatte um Terminportale steht exemplarisch für die Frage, wie sehr sich ein Gesundheitssystem an Effizienzmetriken und privatwirtschaftlicher Logik orientieren darf – und wo die Grenze zum sozialstaatlichen Auftrag verläuft. Eine klare gesetzgeberische Rahmensetzung für alle Anbieter, verbunden mit dem gleichzeitigen Ausbau öffentlicher Angebote, ist längst überfällig. Denn digitale Lösungen dürfen kein Ersatz für gerechte Versorgung sein, sondern müssen deren Ermöglichung dienen.

  

Neue Leitlinie zur Trans-Jugendgesundheit: Klare Vorgaben für medizinische Entscheidungen

Mit der Veröffentlichung einer medizinischen Leitlinie zur Behandlung von transgeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen liegt in Deutschland erstmals ein systematisch erarbeitetes Regelwerk vor, das die medizinische, psychotherapeutische und psychosoziale Versorgung dieser besonders sensiblen Patientengruppe vereinheitlicht. Herausgegeben wurde die sogenannte S2k-Leitlinie von 26 Fachgesellschaften und zwei Patientenvertretungen. Ziel ist es, dem komplexen Bedarf junger Menschen mit Geschlechtsinkongruenz gerecht zu werden und Fehlbehandlungen zu vermeiden.

Im Zentrum der Empfehlungen steht die individuelle Begleitung der betroffenen Jugendlichen durch erfahrene Fachkräfte. Eine medizinische Behandlung kommt nur dann infrage, wenn ein anhaltender Leidensdruck besteht und eine stabile geschlechtliche Identifikation über mehrere Jahre vorliegt. Vor allem bei geschlechtsangleichenden Hormontherapien wird ein hohes Maß an Entscheidungsfähigkeit und Reife gefordert. Jugendliche sollen eigenständig entscheiden können, ob sie eine solche Behandlung beginnen wollen, während die Sorgeberechtigten in den Prozess einbezogen werden.

Für den Einsatz von Pubertätsblockern sieht die Leitlinie keine starre Altersgrenze vor, wohl aber eine sorgfältige Diagnostik durch spezialisierte Kinder- und Jugendpsychiaterinnen oder -psychologen. Die Blockade der Pubertät gilt als reversibel und dient dem Zweck, den Jugendlichen Zeit für die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität zu verschaffen. Eine Verpflichtung zur Psychotherapie als Voraussetzung für medizinische Maßnahmen lehnt die Leitlinie ab. Vielmehr soll therapeutische Unterstützung niederschwellig angeboten werden – zwanghafte Vorgaben gelten als kontraproduktiv.

Die Autoren der Leitlinie betonen, dass nur wenige hundert Jugendliche pro Jahr in Deutschland mit einer solchen Behandlung beginnen. Die medizinischen Kriterien bleiben streng, die Entscheidungspfade differenziert. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass sowohl ein zu frühes Eingreifen als auch ein unnötiges Abwarten schwerwiegende Folgen haben können. Entscheidend sei ein individueller, erfahrungsgeleiteter und respektvoller Umgang mit jedem einzelnen Fall.

Damit reagiert die Leitlinie auf langjährige Kritik an der mangelnden Einheitlichkeit und Transparenz in der Versorgung transgeschlechtlicher Minderjähriger. In einer polarisierten gesellschaftlichen Debatte schafft sie nun eine fundierte Grundlage für medizinisches Handeln – jenseits ideologischer Frontlinien.

Die neue Leitlinie zur Behandlung transgeschlechtlicher Jugendlicher markiert einen bedeutenden Fortschritt in einem medizinischen und gesellschaftspolitischen Feld, das bislang von Unsicherheit, Widersprüchen und struktureller Intransparenz geprägt war. Ihre Bedeutung liegt weniger in spektakulären Neuerungen als in der präzisen Ausbalancierung zwischen individueller Selbstbestimmung und fachlicher Verantwortung.

Transgeschlechtliche Jugendliche befinden sich in einer doppelten Vulnerabilität: Sie stehen im Zentrum persönlicher Identitätsfindung und sind zugleich einem Gesundheitssystem ausgeliefert, das lange keine einheitlichen Standards für ihre spezifischen Bedürfnisse kannte. Dass nun evidenzbasierte Kriterien und einheitliche Diagnosepfade festgelegt wurden, bedeutet nicht nur eine Verbesserung der medizinischen Versorgung, sondern auch eine Absage an willkürliche Einschätzungen, ideologisierte Positionen und pauschale Pathologisierungen.

Zugleich mahnt die Leitlinie zu einem realistischen Blick auf die Praxis. Die Zahl der tatsächlich behandelten Jugendlichen bleibt gering. Was in der öffentlichen Debatte häufig als gesellschaftlicher Umbruch inszeniert wird, ist medizinisch eine präzise definierte Ausnahme. Der Fokus auf Erfahrung, differenzierte Diagnostik und langfristige Beobachtung konterkariert populistische Narrative, die von vorschnellen Eingriffen oder einem „Trans-Hype“ sprechen.

Doch die Verantwortung liegt nicht nur bei medizinischen Fachpersonen. Auch Gesundheitspolitik und Bildungsinstitutionen sind gefordert, für flächendeckende Versorgungsstrukturen zu sorgen und kompetente Ansprechpartner bereitzustellen. Die Abhängigkeit von wenigen spezialisierten Zentren ist ein strukturelles Risiko. Wenn Jugendliche in Regionen ohne ausreichende Expertise leben, kann selbst die beste Leitlinie nur begrenzt wirken.

Darüber hinaus wird deutlich: Die gesellschaftliche Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt steht in einem Spannungsverhältnis zur medizinischen Systematisierung. Während die Leitlinie Schutzräume definieren und Prozesse absichern will, erleben Betroffene im Alltag häufig Ablehnung, Unverständnis oder Misstrauen – nicht selten auch von Seiten medizinischen Personals. Hier zeigt sich ein tief liegendes Strukturproblem: Medizinisches Wissen allein genügt nicht, wenn es nicht von einer Haltung der Offenheit, Achtung und Selbstreflexion begleitet wird.

Die neue Leitlinie ist deshalb mehr als ein Regelwerk. Sie ist ein Prüfstein für das Selbstverständnis eines Gesundheitssystems, das Vielfalt nicht nur tolerieren, sondern professionell begleiten will. Ihre Umsetzung wird zeigen, ob die medizinische Praxis bereit ist, transgeschlechtlichen Jugendlichen nicht nur mit Expertise, sondern auch mit Respekt zu begegnen.

  

Gesundheitspass der Apothekerkammer: Strukturhilfe für die Vor-Ort-Versorgung

Die Apothekerkammer Niedersachsen hat mit dem Gesundheitspass ein Instrument entwickelt, das die Betreuung von Patientinnen und Patienten in öffentlichen Apotheken stärken soll. Der Pass dient der strukturierten Erfassung von Gesundheitsdaten wie Blutdruckwerten und der Dokumentation von Terminen für pharmazeutische Dienstleistungen. Ziel ist es, die Rolle der Apotheken im Gesundheitssystem zu schärfen und zugleich Patientinnen und Patienten zur aktiven Mitgestaltung ihrer Versorgung zu befähigen.

Der Gesundheitspass steht Mitgliedern der Apothekerkammer kostenlos zur Verfügung. In der Praxis soll er dazu beitragen, den Austausch zwischen Apothekenteams und Patientinnen und Patienten zu intensivieren. Regelmäßige Kontakte etwa im Rahmen von Blutdruckmessungen oder Medikationsanalysen sollen zu einer kontinuierlichen Begleitung führen, die über die reine Abgabe von Arzneimitteln hinausgeht. Der Pass kann darüber hinaus auch Kontaktdaten von Hausarztpraxen und Krankenkassen enthalten, was die sektorenübergreifende Kommunikation erleichtern soll.

Die Initiative reagiert auf politische Impulse, die den heilberuflichen Charakter der Apotheke betonen und sie stärker in die Entwicklung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung einbinden wollen. In der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion wird wiederholt auf die Bedeutung niedrigschwelliger, wohnortnaher Versorgungsstrukturen verwiesen. Der Gesundheitspass soll in diesem Kontext einen Beitrag leisten, den Zugang zu pharmazeutischen Dienstleistungen sichtbar zu machen und systematisch zu dokumentieren.

Besondere Relevanz besitzt das analoge Instrument für Bevölkerungsgruppen, die von digitalen Anwendungen wie der elektronischen Patientenakte bislang kaum profitieren. Ältere Menschen oder Familien mit Kindern erhalten ein praxisnahes Mittel zur strukturierten Selbstorganisation ihrer Gesundheitsversorgung. Gleichzeitig sendet der Pass ein Signal an die Nutzerinnen und Nutzer: Pharmazeutische Dienstleistungen sind nicht Zusatz, sondern Bestandteil einer regelhaft abrechenbaren Versorgung durch die gesetzlichen Krankenkassen.

Die Maßnahme soll zudem helfen, die Position der öffentlichen Apotheken im Wettbewerb mit Versand- und Plattformanbietern zu stärken. Durch die persönliche, kontinuierliche Betreuung vor Ort und die gezielte Sichtbarmachung von Leistungen wird die Kundenbindung ausgebaut und die heilberufliche Kompetenz unterstrichen. Der Gesundheitspass wird damit zum Baustein einer langfristig angelegten Versorgungsstrategie.

Der Gesundheitspass der Apothekerkammer Niedersachsen ist mehr als ein neues Formular. Er ist Ausdruck eines strukturellen Richtungswechsels in der öffentlichen Apotheke – hin zu einer systematisierten, dokumentierten und an Versorgungsprozessen ausgerichteten Patientenbeziehung. In einer Zeit, in der Gesundheitsdaten zunehmend digitalisiert und zentral erfasst werden sollen, setzt der Gesundheitspass auf ein analoges Konzept, das gezielt jene Bevölkerungsgruppen einbindet, die von der digitalen Transformation bislang ausgeschlossen bleiben. Gerade hierin liegt seine gesellschaftspolitische Relevanz.

Der Staat fordert von Apotheken zunehmend heilberufliches Engagement, ohne gleichzeitig die strukturellen Bedingungen zu verbessern. Der Gesundheitspass kann diese Lücke nicht schließen, aber er markiert eine Handlungsebene, auf der Apothekerinnen und Apotheker eigene Akzente setzen. Die Verantwortung dafür, dass solche Angebote mehr sind als symbolische Gesten, liegt allerdings nicht allein bei den Apotheken. Auch Krankenkassen und Gesundheitspolitik sind gefordert, diesen Weg zu flankieren – etwa durch gezielte Aufklärungskampagnen oder durch den Abbau administrativer Hürden bei der Inanspruchnahme pharmazeutischer Dienstleistungen.

Dass die Digitalisierung der Patientenakte flächendeckend nicht funktioniert, ist kein neues Problem – wohl aber ein andauerndes. Wenn Apotheken hier durch analoge Brückenlösungen kompensieren, übernehmen sie erneut Aufgaben, die das System selbst nicht leistet. Der Gesundheitspass macht sichtbar, was bislang unsichtbar war: Die kontinuierliche Arbeit der Vor-Ort-Apotheke an der Schnittstelle zwischen Versorgung, Beratung und Dokumentation. Diese Sichtbarkeit ist notwendig, um das Berufsbild nicht im Schatten digitaler Marktlogiken verschwinden zu lassen.

Doch der Pass ist auch ein Test: Wie viele Patientinnen und Patienten nehmen ihn an? Wie viele Apotheken integrieren ihn in ihre Abläufe? Und wie reagiert die Politik auf diesen Vorstoß – als lobenswertes Engagement oder als Beleg dafür, dass zusätzliche gesetzliche Regelungen unnötig seien? Der Gesundheitspass ist ein vorsichtiger, aber bedeutsamer Versuch, Versorgung greifbar zu machen. Ob er zum Modell wird oder zum Nischenprodukt verkümmert, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die gesundheitspolitische Rhetorik in konkrete Unterstützung mündet. Bis dahin bleibt der Pass ein Beispiel dafür, wie Heilberufe Verantwortung übernehmen, bevor die Strukturen nachziehen.

  

EU-Gesetz zu Arzneimittelsicherheit unter Druck: Industrie warnt vor Bürokratie statt Versorgungssouveränität

Mit dem Critical Medicines Act (CMA) will die Europäische Kommission die Arzneimittelversorgung in der Europäischen Union langfristig krisenfester machen. Durch eine gezielte Diversifizierung von Lieferketten, den Ausbau strategischer Produktionskapazitäten und ein erweitertes Versorgungsmonitoring sollen insbesondere Engpässe bei wichtigen Medikamenten vermieden werden. Doch in der deutschen Pharmabranche stößt der Gesetzesentwurf auf erhebliche Bedenken. Han Steutel, Präsident des Verbands der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa), warnt vor zusätzlicher Bürokratie und unbeabsichtigten Nebenwirkungen für den Zugang zu innovativen Arzneimitteln.

Der vfa erkennt die grundsätzliche Notwendigkeit an, die strukturelle Widerstandsfähigkeit der europäischen Arzneimittelversorgung zu erhöhen. Gleichzeitig betont der Verband, dass jede Maßnahme zur Sicherung der Grundversorgung mit Bedacht ausgestaltet werden müsse, um keine Kollateralschäden bei der Entwicklung und Verfügbarkeit neuartiger Medikamente zu verursachen. Laut Steutel werde kein Unternehmen leistungsfähiger, indem man es mit neuen Berichtspflichten und bürokratischen Lasten überzieht.

Besonders kritisch bewertet der Verband das geplante Versorgungsmonitoring. Anstatt neue Meldepflichten zu schaffen, solle die EU bestehende Datensysteme effizient nutzen. Das European Medicines Verification System (EMVS), das unter anderem durch die deutsche Plattform securPharm mit Informationen gespeist wird, sei bereits heute ein zentrales Frühwarnsystem bei drohenden Lieferengpässen und müsse lediglich konsequenter einbezogen werden.

Zudem sieht der vfa die Idee gemeinsamer EU-Beschaffungsverfahren nur in Ausnahmefällen als sinnvoll an. Diese sollten auf hochdringliche Einzelfälle beschränkt bleiben und nur mit ausdrücklicher Zustimmung der Hersteller erfolgen. Eine Ausweitung auf Länder mit funktionierenden Gesundheitssystemen könne bestehende Versorgungsstrukturen destabilisieren und den Zugang zu innovativen Therapien ungewollt behindern. Um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, fordert der Verband verbindliche Vertraulichkeit bei Preisverhandlungen und eine klare Regulierung des Parallelhandels.

Die zentrale Forderung des vfa bleibt der Ausbau strategischer Produktionskapazitäten in Europa. Versorgungssouveränität sei nur erreichbar, wenn Unternehmen unabhängig von ihrer Größe gefördert würden, sofern sie substanziell zur Versorgungssicherheit beitragen. Notwendig sei ein industrieoffener, investitionsfreundlicher Rahmen – nicht mehr Bürokratie, sondern strukturelle Stärkung.

Der CMA-Entwurf befindet sich derzeit in der Konsultationsphase. Noch bis Mitte Juni sind Unternehmen, Verbände und andere Akteure aufgerufen, ihre Einschätzungen und Verbesserungsvorschläge einzubringen. Ob das Vorhaben tatsächlich zu einer robusteren europäischen Arzneimittelversorgung führt, wird maßgeblich davon abhängen, wie stark technokratischer Übereifer und wirtschaftspolitische Realität in Einklang gebracht werden können.

Die Absicht, mit dem Critical Medicines Act Europas Abhängigkeit von fragilen Lieferketten zu verringern und Versorgungssicherheit neu zu denken, ist politisch nachvollziehbar und angesichts weltweiter Krisenlagen auch dringend geboten. Doch der Gesetzesentwurf offenbart eine strukturelle Schwäche europäischer Regulierung: das Missverhältnis zwischen politischem Willen und operativer Umsetzbarkeit. Die pharmazeutische Industrie – insbesondere die forschungsgetriebenen Unternehmen – sieht sich nicht zu Unrecht in die Rolle des bloßen Erfüllungsgehilfen gedrängt, der unter dem Deckmantel europäischer Solidarität neue Pflichten auferlegt bekommt, ohne dass zentrale Fragen der Investitionssicherheit oder Innovationsfreiheit beantwortet wären.

Das Problem ist nicht der politische Impuls, sondern die Ausgestaltung. Der reflexhafte Ruf nach neuen Meldepflichten verkennt die bereits existierende Dateninfrastruktur, etwa das EMVS, das ohne nennenswerte Mehraufwände für ein wirksames Monitoring nutzbar wäre. Wer hier zusätzliche Berichtslasten schafft, handelt nicht im Sinne der Versorgungssicherheit, sondern betreibt Symbolpolitik auf dem Rücken der operativen Versorgung. Der Verweis des vfa auf Effizienz statt Redundanz ist daher nicht nur berechtigt, sondern zwingend.

Kritisch ist auch die Vorstellung einer zentralisierten EU-Beschaffung, die das Prinzip der freiwilligen Kooperation durch ein regulatorisches Korsett ersetzt. Für Länder mit stabilen Versorgungssystemen wie Deutschland birgt das die Gefahr einer Abwärtsspirale: Preisdruck, Parallelhandel und politisch motivierte Preisdeckelungen könnten den Zugang zu hochspezialisierten Therapien verzögern oder ganz verhindern. Der Versuch, Solidarität administrativ zu erzwingen, missachtet die Vielgestaltigkeit der nationalen Gesundheitssysteme und führt zu strukturellen Verwerfungen, die das Gegenteil des angestrebten Effekts bewirken könnten.

Versorgungssouveränität ist kein Resultat von Bürokratie, sondern von Investitionsbereitschaft, technologischer Autonomie und partnerschaftlicher Verantwortung zwischen Politik und Industrie. Wer Unternehmen dazu bewegen will, ihre Produktionskapazitäten in Europa auszubauen, muss Planungssicherheit schaffen und Fördersysteme so ausgestalten, dass auch mittelständische Akteure zum Zuge kommen. Die einseitige Fokussierung auf Kontrolle, Zentralisierung und Berichtspflichten konterkariert diesen Ansatz.

Die Verantwortung liegt jetzt bei der EU-Kommission, in der laufenden Konsultation nicht nur wohlmeinende Prinzipien zu formulieren, sondern realistische, differenzierte und investitionsfreundliche Strukturen zu entwickeln. Der Critical Medicines Act darf kein Instrument zur Systemangleichung um jeden Preis werden. Er muss ein Impulsgeber für eine widerstandsfähige, innovationsfähige und plural strukturierte europäische Arzneimittelversorgung sein – andernfalls droht ein bürokratischer Kollateralschaden, der die ursprüngliche Zielsetzung in ihr Gegenteil verkehrt.

  

Digitale Notdienstplanung und Beitragssystem im Fokus – Apothekerkammer Niedersachsen stellt zentrale Weichen

Auf der jüngsten Kammerversammlung der Apothekerkammer Niedersachsen in Hannover wurden gleich mehrere strategisch bedeutsame Themen behandelt. Im Zentrum der Beratungen stand die künftige Organisation der Notdienstbereitschaft sowie die Struktur des Beitragssystems für Kammerangehörige. Beide Punkte führten zu intensiven Debatten und markierten den Anspruch der Kammer, die berufspolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Apothekerberufs in Niedersachsen zukunftsfähig zu gestalten.

Im Bereich der Notdienstplanung prüft die Kammer die Einführung eines digitalen Verfahrens. Dieses soll zu einer gerechteren Verteilung der Dienste auf Wochentage, Wochenenden und Feiertage führen und gleichzeitig die Zahl der absolvierten Notdienste reduzieren. Marion Eickhoff, Leiterin der Geschäftsstelle, erläuterte die Vorteile wie auch die möglichen Nachteile eines solchen Systems. Während eine gleichmäßigere Belastung und bessere Planbarkeit angestrebt wird, könnten individuelle Wünsche und die Möglichkeit zum Tausch von Diensten eingeschränkt werden. Die Einführung ist für das Jahr 2027 vorgesehen, eine Pilotphase im Vorfeld soll bereits 2026 beginnen.

Heftig diskutiert wurde auch über die zukünftige Bemessungsgrundlage für den Kammerbeitrag. Zur Debatte stand die Frage, ob der Beitrag weiterhin am Umsatz oder künftig am Rohertrag bemessen werden soll. Letzterer würde die wirtschaftliche Realität vieler Apotheken differenzierter abbilden, sei aber laut Eickhoff administrativ schwer zu erheben. Während die frühere Kammerpräsidentin Magdalene Linz für ein Mischmodell plädierte, wurde schließlich ein Prüfauftrag beschlossen, um die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen für eine mögliche Systemumstellung zu analysieren.

Darüber hinaus spielte die Rolle der Apothekerinnen und Apotheker als Experten für Gesundheitsfragen eine zentrale Rolle. Der Fortbildungsausschuss stellte Pläne für 33 Seminare im Jahr 2025 vor, darunter Angebote zu pädiatrischer und geriatrischer Pharmazie sowie Ernährungstherapie. Die Nachfrage nach digitalen Formaten hat seit der Corona-Pandemie deutlich zugenommen. Neue Wege, etwa Podcasts oder Wissensquizformate, sollen künftig erprobt werden, um das fachliche Profil der Berufsgruppe weiter zu schärfen.

Auch die Krankenhausversorgung wurde thematisiert. Eine Umfrage unter niedersächsischen Krankenhausapotheken zeigte, dass unzureichende Honorierung pharmazeutischer Tätigkeiten auf den Stationen negative Auswirkungen auf andere Bereiche wie die Eigenherstellung haben kann. Diese Erkenntnis unterstreicht die wachsende Bedeutung wirtschaftlicher Rahmenbedingungen für die Qualität pharmazeutischer Versorgung.

Finanziell richtet sich die Kammer auf größere Vorhaben aus. Der Vorsitzende des Finanzausschusses, Ole Goos, präsentierte den Haushalt für 2025, in dem sowohl das 125-jährige Kammerjubiläum als auch die auf drei Jahre angelegte Sanierung des Zentrallabors mit einem Finanzvolumen von rund drei Millionen Euro vorgesehen ist. Die Kammer Niedersachsen wird sich daran mit über einer halben Million Euro beteiligen.

Die Versammlung machte deutlich, dass strukturelle Reformen und gezielte Investitionen erforderlich sind, um die Leistungsfähigkeit der Apotheken in Niedersachsen dauerhaft zu sichern und ihre Rolle im Gesundheitssystem zu stärken.

Die jüngste Kammerversammlung der Apothekerkammer Niedersachsen steht exemplarisch für eine Berufsgruppe, die unter wachsendem ökonomischem, politischen und gesellschaftlichem Druck nach Orientierung sucht. Die diskutierten Themen – digitale Notdienstplanung, Beitragssystem, Fortbildungsstrategie und finanzielle Weichenstellungen – spiegeln die komplexen Herausforderungen wider, vor denen Apotheken heute stehen. Dabei wird deutlich: Es geht längst nicht mehr nur um operative Verbesserungen, sondern um das Selbstverständnis eines Berufsstandes in der Transformation.

Die Digitalisierung der Notdienstplanung erscheint auf den ersten Blick als pragmatische Antwort auf Überlastung und Unwuchten im Dienstsystem. Doch sie berührt sensible Fragen kollegialer Selbstbestimmung und regionaler Besonderheiten. Ein algorithmisches Verfahren mag effizient sein, doch es reduziert auch Handlungsspielräume – ein Zielkonflikt, der nicht technokratisch gelöst werden kann. Die Kammer ist hier gefordert, eine breite Konsensbildung herzustellen und die betroffenen Apothekerinnen und Apotheker nicht nur als Datenpunkte, sondern als Mitgestaltende einzubeziehen.

Noch fundamentaler ist die Debatte um die Beitragsstruktur. Die Idee, den Kammerbeitrag nicht pauschal nach Umsatz, sondern differenzierter nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu bemessen, ist gerechtigkeitsorientiert und ökonomisch sinnvoll. Der Rückgriff auf den Rohertrag als Bezugsgröße würde insbesondere strukturschwachen Betrieben mit geringen Margen entgegenkommen. Doch der Vorschlag offenbart zugleich die strukturelle Trägheit institutioneller Systeme, die sich vor administrativem Mehraufwand scheuen. Wenn Transparenz und Fairness im Beitragswesen jedoch ernst gemeint sind, muss sich auch die Kammer der Frage stellen, ob einfache Erhebung wichtiger ist als gerechte Verteilung.

Der Ausbau digitaler Fortbildungsangebote und die geplanten Investitionen in das Zentrallabor zeigen eine erfreuliche Bereitschaft zur Modernisierung. Doch diese Maßnahmen allein reichen nicht aus, um die öffentliche Rolle der Apothekerschaft neu zu definieren. Die immer wieder beschworene »Stärkung der Expertenrolle« bleibt ohne strukturelle Rückendeckung ein Papiertiger. Sichtbarkeit entsteht nicht durch wohlklingende Absichtsbekundungen, sondern durch reale Handlungsmacht im Gesundheitswesen. Hier stehen auch Politik und Krankenkassen in der Verantwortung, Rahmenbedingungen zu schaffen, die apothekerliche Kompetenz nicht nur rhetorisch würdigen, sondern auch praktisch nutzbar machen.

Besonders problematisch ist der Umgang mit der Krankenhausversorgung. Dass pharmazeutische Tätigkeiten auf Stationen offenbar unterbewertet sind und infolgedessen andere Aufgaben wie die Eigenherstellung ins Hintertreffen geraten, offenbart eine gefährliche Fehlentwicklung. Gerade in einem Bereich, der für die Arzneimitteltherapiesicherheit hochsensibel ist, darf ökonomischer Druck nicht zur Ausdünnung zentraler Leistungsbereiche führen.

Die Kammer Niedersachsen steht somit vor einer doppelten Aufgabe: Sie muss einerseits betriebliche Realität mitgestalten und andererseits die strategische Rolle des Berufsstands im Gesundheitssystem aktiv formulieren. Dafür braucht es mehr als Reformen im Detail. Es braucht ein klares Bewusstsein für die gesellschaftliche Verantwortung von Apotheken – als wohnortnahe Versorgungseinrichtungen, als kompetente Gesundheitsberater und als wirtschaftliche Akteure mit spezifischen Belastungen. Die bisherigen Diskussionen zeigen, dass das Problembewusstsein vorhanden ist. Entscheidend wird sein, ob es auch in entschlossene Politik und tragfähige Strukturen übersetzt wird.

  

Zunahme des Cannabiskonsums in Deutschland: Höherer THC-Gehalt und steigende Suchthilfezahlen

Der Cannabiskonsum in Deutschland hat in den vergangenen Jahren spürbar zugenommen, sowohl in Bezug auf die allgemeine Verbreitung als auch hinsichtlich des problematischen Gebrauchs. Aktuell geben knapp fünf Millionen erwachsene Personen an, in den letzten zwölf Monaten Cannabis konsumiert zu haben. Dies entspricht einem Anteil von 8,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Männer konsumieren häufiger als Frauen und sind nahezu doppelt so oft von problematischem Konsum betroffen. Der Anteil liegt bei Männern bei 3,4 Prozent, bei Frauen bei 1,6 Prozent. Die Entwicklung deutet auf eine stetige Normalisierung des Cannabiskonsums hin, verbunden mit einer wachsenden Zahl an Fällen, in denen der Gebrauch mit gesundheitlichen und sozialen Beeinträchtigungen einhergeht.

Insbesondere die Zahl der Menschen, die aufgrund cannabinoidbezogener Störungen Hilfe bei Suchteinrichtungen suchen, ist auffällig gestiegen. Diese Störungen sind nach alkoholbezogenen Erkrankungen inzwischen der zweithäufigste Anlass für den Zugang zu entsprechenden Hilfsangeboten. Im ambulanten Bereich hat sich die Zahl der behandelten Patientinnen und Patienten seit dem Jahr 2000 verdreifacht, im stationären Bereich sogar versiebenfacht. Der Bedarf an spezialisierten Therapieangeboten wächst kontinuierlich, was die Notwendigkeit standardisierter Behandlungsleitlinien unterstreicht.

Vor diesem Hintergrund wird derzeit eine interdisziplinäre S3-Leitlinie zur Cannabisabhängigkeit erarbeitet. Ziel ist es, evidenzbasierte Empfehlungen für Diagnostik und Behandlung zu formulieren, die sowohl Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche berücksichtigen. Für Erwachsene gilt die Kombination aus kognitiver Verhaltenstherapie und Maßnahmen zur Motivationsförderung derzeit als wirksamster Ansatz. Für pharmakologische Interventionen hingegen steht bislang kein überzeugendes Wirkstoffspektrum zur Verfügung. Medikamente, die etwa bei Entzugssymptomen, Craving oder zur Rückfallprophylaxe helfen könnten, fehlen bislang.

Ein besonderes Augenmerk liegt auch auf der veränderten Potenz von Cannabisprodukten. Während der durchschnittliche THC-Gehalt von Cannabiskraut und Blütenständen in den letzten zehn Jahren relativ konstant blieb, ist bei Cannabisharz ein massiver Anstieg zu verzeichnen. Der durchschnittliche THC-Gehalt dieser Form stieg im Zehnjahresverlauf um 174 Prozent auf zuletzt 26,6 Prozent. Im Vergleich dazu enthalten Blütenstände im Mittel 14,4 Prozent THC. Nach einem vorübergehenden Rückgang in den Jahren 2020 und 2021 setzte sich der Anstieg des Wirkstoffgehalts in den Jahren 2022 und 2023 fort und erreichte neue Höchstwerte.

Trotz dieser qualitativen Veränderungen blieben die Straßenhandelspreise für Cannabisprodukte über die letzten fünf Jahre weitgehend stabil. Dies bedeutet, dass Konsumentinnen und Konsumenten mittlerweile potenteres Cannabis zu vergleichbaren Preisen erwerben können – ein Umstand, der potenziell das Risiko für Abhängigkeit, psychische Beeinträchtigungen und akute Vergiftungen erhöht. Die beobachteten Entwicklungen werfen damit nicht nur Fragen der Drogenprävention und Behandlung auf, sondern auch solche der Regulierung, Aufklärung und gesellschaftlichen Verantwortung.

  

Typ-5-Diabetes offiziell anerkannt: Internationale Fachgesellschaft stuft Mangelernährungs-Diabetes als eigenständige Erkrankung ein

Der Internationale Diabetesverband (IDF) hat die bislang als „Malnutrition-related Diabetes mellitus“ (MRDM) bekannte Stoffwechselstörung offiziell als eigenständigen Typ-5-Diabetes anerkannt. Die Entscheidung wurde im Rahmen des Welt-Diabetes-Kongresses in Bangkok vorgestellt und markiert einen bedeutsamen Schritt in der internationalen Klassifikation diabetologischer Krankheitsbilder. Laut Schätzungen sind weltweit rund 20 bis 25 Millionen Menschen betroffen, vornehmlich in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in Afrika und Asien.

Typ-5-Diabetes unterscheidet sich deutlich von den etablierten Formen Typ 1 und Typ 2. Er entsteht infolge chronischer Mangelernährung in Kindheit und Jugend und ist gekennzeichnet durch eine ausgeprägte Insulindefizienz ohne gleichzeitige Insulinresistenz. Eine unzureichende Entwicklung der Bauchspeicheldrüse führt zu einer verminderten Insulinproduktion und dadurch zu einer schlechten metabolischen Kontrolle. Typischerweise tritt die Erkrankung vor dem 30. Lebensjahr auf, häufig bei männlichen Patienten mit dauerhaft niedrigem Körpergewicht und ohne Anzeichen einer Ketoazidose trotz hoher Blutzuckerwerte.

Die klinischen Besonderheiten dieses Diabetes-Typs waren zwar bereits seit Jahrzehnten bekannt, wurden aber lange Zeit als Sonderform anderer Typen eingeordnet oder in der Gesundheitspolitik ignoriert. Die WHO hatte den MRDM zwar 1985 als eigene Diabetesform anerkannt, diese Klassifikation jedoch 1999 wieder zurückgezogen. Neue Forschungsergebnisse, insbesondere aus Arbeitsgruppen in den USA und Indien, belegen nun eindeutig ein eigenständiges metabolisches Profil. Betroffene zeigen im Vergleich zu Typ-2-Diabetikern eine niedrigere Glukoseproduktion und schwächere Insulinsekretion, aber eine höhere Glukoseaufnahme.

Für die medizinische Versorgung in einkommensschwachen Regionen ist die neue Einordnung von erheblicher Bedeutung. Studien zeigen, dass orale Antidiabetika bei vielen Patienten wirksamer sind als Insulinpräparate, was eine kostengünstigere Therapie ermöglicht. Zugleich mahnen Experten vor einem hohen Risiko für Folgeerkrankungen und fordern den Ausbau gezielter Diagnostik- und Behandlungsprogramme.

Ein Expertengremium unter Leitung internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeitet derzeit an der Festlegung verbindlicher Diagnosekriterien und Behandlungsleitlinien. Die formale Anerkennung des Typ-5-Diabetes eröffnet nicht nur neue medizinische Perspektiven, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf globale Ungleichheiten im Gesundheitswesen und die oft übersehene Rolle von Armut und Mangelernährung als Krankheitsursachen.

Die späte Anerkennung des Typ-5-Diabetes als eigenständige Erkrankung offenbart ein strukturelles Versäumnis in der internationalen Gesundheitsforschung und -politik. Jahrzehntelang wurde die Mangelernährungsform des Diabetes in medizinischen Klassifikationen marginalisiert oder als Randphänomen abgetan. Dies geschah nicht etwa aus Unkenntnis, sondern aus einer systematischen Blindstelle gegenüber armutsbedingten Krankheitsbildern, die in reichen Industrienationen kaum vorkommen und daher medizinisch wie politisch lange irrelevant erschienen.

Die Entscheidung der IDF, Typ-5-Diabetes nun offiziell anzuerkennen, ist mehr als eine medizinische Korrektur. Sie ist ein überfälliges Eingeständnis, dass globale Gesundheit nicht neutral, sondern sozial codiert ist. Krankheiten, die in benachteiligten Weltregionen auftreten, wurden bislang seltener erforscht, seltener priorisiert, seltener in Leitlinien berücksichtigt. Die strukturelle Benachteiligung zeigt sich nicht nur im Zugang zu Medikamenten, sondern beginnt auf der Ebene der Sichtbarkeit – und damit der Anerkennung.

Dass Betroffene jahrelang falsch als Typ-1- oder Typ-2-Diabetiker behandelt wurden, ist kein bedauerlicher Einzelfall, sondern Ausdruck eines tieferliegenden Problems: der Dominanz westlicher Forschungsinteressen und Therapieparadigmen. Die Leidtragenden sind Millionen Menschen, die ohne passgenaue Diagnose und Behandlung mit einer vermeidbaren Krankheitslast leben müssen. Dass orale Antidiabetika in vielen Fällen besser helfen als Insulin, aber bisher kaum in diese Richtung geforscht wurde, ist ein Indiz für die ökonomische und epistemische Vernachlässigung dieser Patientengruppe.

Die Verantwortung liegt nicht nur bei wissenschaftlichen Institutionen, sondern auch bei globalen Organisationen wie der WHO, die 1999 eine frühere Anerkennung von MRDM aus Mangel an Evidenz zurückzog – eine Entscheidung, die nun im Licht neuer Studien als vorschnell und folgenreich erscheint. Auch nationale Gesundheitssysteme, Entwicklungshelfer und Spenderorganisationen müssen sich fragen lassen, warum bestimmte Krankheitsbilder in der globalen Gesundheitsarchitektur kaum vorkommen.

Die strukturelle Dimension von Typ-5-Diabetes zwingt zur kritischen Auseinandersetzung mit einer Gesundheitspolitik, die armutsbedingte Erkrankungen nicht systematisch in den Blick nimmt. Wer globale Krankheitslasten fair erfassen und bekämpfen will, darf sich nicht auf Krankheiten der Wohlstandsgesellschaft konzentrieren. Die epidemiologische Realität ist komplexer – und verlangt ein gerechteres, inklusiveres Gesundheitsverständnis. Die medizinische Klassifikation des Typ-5-Diabetes ist ein notwendiger Schritt. Der nächste muss politisch sein.

 

Persistente Zellwandfragmente als Auslöser chronischer Lyme-Borreliose: Neue Erkenntnisse zur Ursache postinfektiöser Beschwerden

Nach einer Infektion mit Borrelia burgdorferi, dem Erreger der Lyme-Borreliose, können bei einem Teil der Betroffenen Monate bis Jahre später anhaltende Beschwerden auftreten, die unter den Bezeichnungen Posttreatment Lyme Disease Syndrome (PTLDS) oder postinfektiöse Lyme-Arthritis geführt werden. Trotz antibiotischer Behandlung berichten Betroffene von chronischer Erschöpfung, Schmerzen und kognitiven Einschränkungen. Die medizinische Forschung sucht seit Langem nach den biologischen Grundlagen dieser Langzeitfolgen – nun liefern neue Studien Hinweise auf eine bislang übersehene Ursache: langlebige bakterielle Zellwandfragmente, die sich im Körper einlagern und das Immunsystem dauerhaft aktivieren.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Northwestern University in Chicago konnten nachweisen, dass bestimmte Bestandteile der Zellwand von Borrelia burgdorferi – sogenannte Peptidoglykan-Fragmente – nicht wie üblich vollständig abgebaut werden, sondern über längere Zeit in Organen wie der Leber und Milz verbleiben. Die chemische Besonderheit dieser Fragmente, insbesondere ein ungewöhnliches Endmotiv und spezielle Aminosäuren im Peptidstrang, macht sie gegenüber anderen bakteriellen Zellwandbestandteilen besonders persistent. Tiermodelle zeigten, dass diese Moleküle über Wochen hinweg im Gewebe verbleiben und dabei entzündliche Immunantworten auslösen, die an chronisch-entzündliche Krankheitsverläufe erinnern.

In der Leber wurden die Zellwandreste sowohl von Kupffer-Zellen als auch von Hepatozyten aufgenommen, wobei Letztere eine besondere Affinität zu den Borrelien-Fragmenten zeigten. Dies führte nicht nur zu subtilen Störungen der Leberfunktion, sondern auch zu einer veränderten Immunaktivität, die sich in erhöhter Expression entzündungsfördernder Signalwege äußerte. Die Aktivierungsmuster ähnelten dabei jenen, die auch im Zusammenhang mit Long Covid beschrieben werden. In Laborexperimenten mit menschlichen Immunzellen wurde zudem eine signifikante Reaktion auf die Peptidoglykan-Fragmente beobachtet, darunter eine vermehrte Genaktivität von Entzündungsmarkern, die typischerweise mit postinfektiösen Syndromen in Verbindung stehen.

Der entscheidende Beleg für die klinische Relevanz gelang durch den Nachweis der Zellwandfragmente in Gelenkflüssigkeit von Patienten mit postinfektiöser Lyme-Arthritis. Mithilfe eines neu entwickelten monoklonalen Antikörpers konnten die persistierenden Moleküle in 90 Prozent der Proben nachgewiesen werden – auch dann, wenn die Infektion selbst bereits antibiotisch behandelt worden war. In Kontrollproben anderer Arthritisformen blieb der Nachweis hingegen aus. Dies stützt die Annahme, dass es sich bei den Zellwandfragmenten um einen spezifischen pathophysiologischen Faktor der chronischen Krankheitsform handelt.

Die Erkenntnisse eröffnen neue Perspektiven für die Diagnostik und das therapeutische Management von Patienten mit Spätfolgen nach Borrelien-Infektion. Sie legen zugleich nahe, dass die Ursache der Beschwerden nicht in einer fortbestehenden Infektion, sondern in der immunologischen Reaktion auf persistentes bakterielles Material liegt. Dadurch geraten nicht nur etablierte Behandlungskonzepte ins Wanken, sondern auch die diagnostischen Kriterien und die gesellschaftliche Wahrnehmung postinfektiöser Krankheitsbilder.

Die wissenschaftliche Entdeckung langlebiger Zellwandfragmente von Borrelia burgdorferi als möglicher Auslöser chronischer Beschwerden nach Lyme-Borreliose markiert einen entscheidenden Wendepunkt im medizinischen Verständnis postinfektiöser Krankheitsverläufe. Was bislang als psychosomatisch, diffus oder schwer diagnostizierbar galt, erhält nun eine greifbare biochemische Grundlage. Diese Entwicklung ist nicht nur medizinisch bedeutsam, sondern wirft auch ein scharfes Licht auf institutionelle Defizite im Umgang mit langanhaltenden Beschwerden nach Infektionskrankheiten – von der Lyme-Borreliose bis zu Long Covid.

Die anhaltende Verunsicherung vieler Patienten nach durchstandener Infektion ist nicht nur Ausdruck individueller Leidensgeschichten, sondern Symptom struktureller Leerstellen im Gesundheitswesen. Medizinische Leitlinien, die sich vorrangig an akuten Infektionsverläufen orientieren, erfassen das pathophysiologische Potenzial persistenter bakterieller Moleküle bislang nicht ausreichend. Diese konzeptionelle Lücke wird auch durch eine inadäquate Verzahnung von Grundlagenforschung, klinischer Praxis und Gesundheitspolitik verstärkt. Die Forschungsergebnisse zur Rolle von Peptidoglykanfragmenten als dauerhafte Immunstimuli verdeutlichen, dass chronische Entzündungen auch nach erfolgreicher Eliminierung von Erregern eine autonome Pathodynamik entfalten können – eine Erkenntnis, die in die Versorgungspraxis integriert werden muss.

Gleichzeitig offenbart sich ein weiterer Missstand: die therapeutische Hilflosigkeit gegenüber postinfektiösen Syndromen, bei denen entweder vorschnell zu Immunsuppressiva oder zu wiederholten Antibiotikagaben gegriffen wird – oft ohne klare Evidenz. Hier sind nicht nur behandelnde Ärztinnen und Ärzte, sondern auch die Gesundheitspolitik und die Forschungsförderung gefordert, differenzierte Diagnose- und Behandlungsansätze zu ermöglichen. Die Entwicklung spezifischer diagnostischer Marker wie der jetzt eingesetzten monoklonalen Antikörper könnte eine Schlüsselrolle spielen – vorausgesetzt, ihre Einführung wird nicht durch regulatorische Trägheit oder Kostendiskussionen ausgebremst.

Gesellschaftlich stehen wir zudem vor der Herausforderung, das medizinische Verständnis von Krankheitsdauer und -verlauf neu zu justieren. Chronische Entzündungen aufgrund immunologisch aktiver Restsubstanzen fordern das lineare Modell von Infektion, Behandlung, Heilung heraus. In einer alternden Bevölkerung, in der Infektionen, Multimorbidität und Immundysregulation häufiger werden, bedarf es eines Paradigmenwechsels – weg von der monokausalen Infektionsbekämpfung, hin zu einem systemmedizinischen Blick auf Entzündungsprozesse und Immunpersistenz.

Nicht zuletzt tragen staatliche Stellen, etwa das Robert-Koch-Institut und die verantwortlichen Ministerien, Verantwortung für die zögerliche Auseinandersetzung mit chronischen Folgeerkrankungen. Die bisherigen Fallzahlen zur Lyme-Borreliose in Deutschland dürften das tatsächliche Ausmaß nur unzureichend abbilden. Eine offensivere Surveillance, gezielte Aufklärung und der flächendeckende Zugang zu präziser Diagnostik sind überfällig. Dass Forschende nun aus den USA den entscheidenden Beitrag zur Pathogenese leisten, sollte als Impuls wirken – nicht als Importlücke, sondern als Handlungsaufforderung.

Der medizinische Fortschritt bringt die Erklärung für ein Leiden, das lange als rätselhaft galt. Es ist nun Aufgabe der Gesellschaft, diese Erkenntnisse nicht zu ignorieren, sondern sie in klinische Realität, gesundheitspolitische Entscheidungen und soziale Anerkennung zu übersetzen. Andernfalls droht, dass viele Betroffene auch weiterhin mit ihren Beschwerden im blinden Fleck der Versorgung bleiben.

 

Chronische Entzündungen durch bakterielle Zellwandreste bei Lyme-Borreliose: Neue Erkenntnisse zur Pathophysiologie persistierender Symptome

Lyme-Borreliose ist eine durch Zecken übertragene Infektionskrankheit, deren akute Phase in der Regel erfolgreich mit Antibiotika behandelt werden kann. Doch bei einem Teil der Betroffenen entwickeln sich Monate bis Jahre nach der Infektion langanhaltende Beschwerden, die unter den Begriffen postinfektiöse Lyme-Arthritis oder Posttreatment Lyme Disease Syndrome (PTLDS) zusammengefasst werden. Diese Krankheitsbilder sind geprägt von chronischer Erschöpfung, Gelenkbeschwerden, Schmerzen sowie kognitiven Beeinträchtigungen und stellen eine erhebliche Belastung für die Patienten dar. Die genauen Ursachen dieser anhaltenden Symptome waren bislang unklar. Neuere wissenschaftliche Untersuchungen liefern nun erste belastbare Hinweise auf einen möglichen pathophysiologischen Mechanismus, der die Persistenz der Beschwerden erklären könnte.

Im Fokus stehen dabei bestimmte Zellwandbestandteile des Lyme-Erregers Borrelia burgdorferi, insbesondere Peptidoglykan-Fragmente, die sich als biochemisch langlebige Molekülstrukturen erweisen. Diese polymeren Zellwandreste, sogenannte PGBb (Peptidoglykan von Borrelia burgdorferi), besitzen besondere chemische Eigenschaften, die ihre langsame Degradation im Organismus erklären. Strukturelemente wie L-Ornithin im Peptidanteil und ein ungewöhnliches Glykan-Endmotiv tragen offenbar dazu bei, dass diese Moleküle im Vergleich zu Zellwandbestandteilen anderer Bakterien eine deutlich verlängerte Verweildauer im Körper aufweisen.

Experimentelle Modelle an Mäusen zeigten, dass nach systemischer Exposition diese Peptidoglykan-Fragmente insbesondere in der Leber und Milz gespeichert werden, wo sie über mehrere Wochen hinweg persistieren. Zellbiologische Analysen belegten, dass neben Kupffer-Zellen auch Hepatozyten in der Lage sind, PGBb aufzunehmen. Interessanterweise phagozytierten Leberzellen bevorzugt die Borrelien-spezifischen Zellwandfragmente, während sie intakte Bakterienzellen kaum aufnahmen. Diese intrazelluläre Speicherung von PGBb war nicht mit ausgeprägten histologischen Gewebeschäden verbunden, ging jedoch mit dauerhaft erhöhten Leberwerten einher, was auf eine chronisch subklinische Funktionsstörung hindeutet.

Immunologisch betrachtet zeigten sich in der Leber der betroffenen Tiere deutliche Signaturen entzündlicher Prozesse, die über Toll-like-Rezeptoren vermittelt werden. Die Aktivierungsmuster ähnelten dabei jenen, wie sie auch bei anderen postinfektiösen Syndromen, etwa Long Covid, beschrieben wurden. Dazu gehörten unter anderem eine verstärkte Expression von Signalwegen zur Aktivierung von Neutrophilen und eine Beteiligung antiviraler Abwehrmechanismen, obwohl kein aktiver Infektionserreger mehr vorhanden war. Diese Befunde deuten auf eine anhaltende immunologische Reizung durch körperfremde Molekülmuster hin, die vom Organismus als pathogennah erkannt werden.

In-vitro-Versuche mit menschlichen Immunzellen bestätigten die Relevanz dieser Mechanismen auch für den Menschen: Periphere mononukleäre Blutzellen reagierten besonders stark auf die Stimulation mit PGBb, was sich unter anderem in einer erhöhten Genexpression entzündungsfördernder Zytokine und einer veränderten Regulation des Energiestoffwechsels niederschlug. Markante Aktivitätssteigerungen wurden bei Genen beobachtet, die typischerweise mit dem PTLDS in Verbindung stehen, etwa bei CCL19 und IL-23.

Der entscheidende Nachweis für die klinische Relevanz gelang schließlich durch die Entwicklung eines spezifischen monoklonalen Antikörpers, mit dem polymeres PGBb in der Gelenkflüssigkeit von Patienten mit postinfektiöser Lyme-Arthritis detektiert werden konnte. In der überwiegenden Mehrheit der untersuchten Proben war dieser Antigen-Nachweis auch nach abgeschlossener antibiotischer Therapie noch möglich. Dies spricht für eine anhaltende Präsenz immunologisch aktiver Zellwandfragmente, die nicht durch die Behandlung eliminiert werden und somit weiterhin entzündliche Reaktionen hervorrufen können. Vergleichsproben aus anderen Formen von Arthritis zeigten hingegen keinen Nachweis von PGBb, was die Spezifität des Phänomens unterstreicht.

Die vorliegenden Ergebnisse legen nahe, dass die persistierenden Zellwandreste von Borrelia burgdorferi eine zentrale Rolle bei der Chronifizierung von Symptomen nach abgeklungener Infektion spielen könnten. Als sogenannte Pathogen-assoziierte molekulare Muster (PAMPs) könnten sie kontinuierlich aus Speicherdepots wie der Leber freigesetzt werden, systemische Immunantworten aufrechterhalten, Stoffwechselprozesse beeinflussen und möglicherweise autoimmune Mechanismen initiieren. Die klinische Symptomatik ließe sich dadurch auch ohne aktive Infektion und ohne vollständige Eliminierung des Erregermaterials erklären.

Diese neuen Erkenntnisse liefern einen wichtigen Beitrag zum Verständnis postinfektiöser Syndrome und eröffnen neue Perspektiven für die Diagnostik und Therapie. Zukünftig könnten spezifische Marker wie PGBb genutzt werden, um chronische Verlaufsformen der Lyme-Borreliose besser zu identifizieren und gezielt zu behandeln. Die bisherigen Befunde machen zugleich deutlich, dass eine verlängerte oder wiederholte Antibiotikagabe bei persistierenden Beschwerden nicht zielführend ist, wenn keine aktive Infektion mehr vorliegt. Stattdessen bedarf es differenzierter immunologischer Strategien, um die entzündliche Wirkung von persistenten bakteriellen Reststrukturen gezielt zu modulieren.

 

FDA setzt 2024 auf neue Wirkstoffziele – Europa bleibt vorerst im Wartemodus

In den Vereinigten Staaten hat die Arzneimittelbehörde FDA im Jahr 2024 eine Reihe von Medikamenten zugelassen, die neuartige molekulare Zielstrukturen adressieren und damit innovative Behandlungsoptionen bei bisher schwer therapierbaren Erkrankungen eröffnen. Diese Zulassungen markieren nicht nur therapeutische Fortschritte, sondern geben auch Hinweise auf eine zunehmend differenzierte Ausrichtung der pharmazeutischen Forschung. Europa hingegen muss auf die meisten dieser Wirkstoffe noch warten.

Ein Beispiel für die zielgerichtete Entwicklung ist Revumenib, ein Menin-Inhibitor zur Behandlung akuter Leukämien mit KMT2A-Rearrangements. Der Wirkstoff blockiert gezielt die Interaktion zwischen Menin und krankheitsverursachenden KMT2A-Fusionsproteinen, was zur Hemmung eines zentralen leukämogenen Transkriptionsprogramms führt. Damit wird eine Patientengruppe adressiert, die bislang nur unzureichend versorgt war.

Tarlatamab stellt mit seiner bispezifischen Antikörperstruktur einen weiteren Durchbruch dar. Er verbindet auf der einen Seite das tumorspezifische Antigen DLL3 mit CD3 auf zytotoxischen T-Zellen, wodurch eine gezielte Immunantwort gegen kleinzelligen Lungenkrebs ausgelöst wird. Die Brückenfunktion zwischen Tumorzellen und T-Zellen eröffnet neue Perspektiven für schwer behandelbare onkologische Erkrankungen.

Mit Nogapendekin alfa inbakicept wird erstmals ein Fusionsprotein zugelassen, das die Wirkung von Interleukin-15 nachbildet und in Kombination mit dem BCG-Impfstoff zur Behandlung von nicht muskelinvasivem Blasenkrebs eingesetzt wird. Es soll vor allem Patienten helfen, die auf die Standardtherapie nicht mehr ansprechen. Durch die Aktivierung natürlicher Killerzellen und Gedächtnis-T-Zellen setzt das Präparat auf eine immunologische Reaktivierung der körpereigenen Abwehrmechanismen.

Imetelstat, ein Antisense-Oligonukleotid, richtet sich gezielt gegen die Telomeraseaktivität bei myelodysplastischen Syndromen. Der Wirkstoff blockiert die RNA-Komponente der Telomerase und unterbindet so das zelluläre Überleben pathologischer Zellen. Der kovalente Palmitinsäurerest fördert zusätzlich die Zellaufnahme und verlängert die Wirkdauer.

Schließlich wurde mit Flurpiridaz (18F) ein radioaktives Diagnostikum zur Darstellung der Myokardperfusion mittels Positronenemissionstomografie zugelassen. Es bindet selektiv an Herzmuskelzellen mit hoher mitochondrialer Aktivität und erlaubt eine präzise Beurteilung der Durchblutung des Herzmuskels, insbesondere bei Verdacht auf Ischämie oder Infarkt.

Während in den USA bereits klinische Anwendungen beginnen, steht die europäische Arzneimittelagentur bei den meisten dieser Wirkstoffe noch am Anfang der Bewertungsverfahren. Für Nogapendekin alfa inbakicept liegt immerhin ein Zulassungsantrag vor. Bei den übrigen Substanzen ist unklar, wann sie den europäischen Markt erreichen. Damit bleibt die therapeutische Innovation auf dem Kontinent vorerst theoretisch.

Die Zulassungen neuartiger Arzneistoffe in den USA verdeutlichen die zunehmende Differenzierung in der modernen Pharmakotherapie. Der Fokus auf neue molekulare Targets wie Menin, DLL3 oder Interleukin-15-Rezeptorkomplexe zeigt: Die Medizin von morgen ist hochspezifisch, genetisch definiert und individualisiert. Doch diese wissenschaftliche Dynamik steht in einem auffälligen Kontrast zur realen Versorgungslage in Europa. Während amerikanische Patienten Zugang zu innovativen Therapien erhalten, dominieren hierzulande regulatorische Verzögerungen, wirtschaftliche Restriktionen und methodische Skepsis.

Diese Diskrepanz wirft grundsätzliche Fragen auf. Ist die europäische Zulassungspraxis noch zeitgemäß? Können Gesundheitssysteme, die auf Kostenkontrolle und Nutzenbewertungen pochen, mit der Geschwindigkeit der biomedizinischen Entwicklung Schritt halten? Oder droht Europa, zum therapeutischen Nachzügler zu werden, weil regulatorische und finanzielle Strukturen den Fortschritt ausbremsen?

Verantwortungsträger in Politik, Behörden und Kassenlandschaft sind gefordert, sich der strukturellen Blockade bewusst zu werden. Es reicht nicht aus, wissenschaftlichen Fortschritt zu beklatschen, wenn gleichzeitig die Umsetzung in die Versorgung scheitert. Die Balance zwischen Sicherheitsprüfung und Innovationszugang muss neu justiert werden – nicht zugunsten der Industrie, sondern im Interesse der Patienten. Wer therapeutischen Fortschritt will, muss regulatorischen Stillstand hinterfragen und evidenzbasierten Innovationen Raum geben.

Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass viele dieser neuen Wirkstoffe mit hohen Kosten verbunden sind. Es braucht daher keine unreflektierte Zulassungsfreigabe, sondern eine europäische Arzneimittelpolitik, die finanzielle Tragfähigkeit mit medizinischer Relevanz verbindet. Die Chance besteht darin, wissenschaftlichen Fortschritt aktiv zu gestalten – nicht ihn im Nachhinein mühsam zu verwalten. Denn wer zu spät handelt, verwaltet nicht nur den Rückstand, sondern riskiert den Verlust medizinischer Souveränität.

 

EU verfehlt Gesundheitsziele: HIV und Hepatitis weiter außer Kontrolle

Die Europäische Union droht zentrale Gesundheitsziele der Vereinten Nationen für das Jahr 2030 deutlich zu verfehlen. Wie aus einem neuen Bericht der EU-Gesundheitsbehörde hervorgeht, sind insbesondere die Beseitigung von HIV, viralen Hepatitiden und Tuberkulose als bedeutende Gesundheitsrisiken in weiter Ferne. Trotz internationaler Selbstverpflichtungen bleibt die Umsetzung innerhalb der Mitgliedstaaten lückenhaft, die Fortschritte stagnieren.

Im Bereich HIV ist die Zahl der Neudiagnosen in mehreren Ländern unverändert hoch. Ein erheblicher Teil der Infektionen wird weiterhin erst in einem fortgeschrittenen Stadium festgestellt – ein Hinweis auf unzureichende Testangebote und Defizite in der Risikokommunikation. Besonders betroffen sind vulnerable Gruppen wie Männer, die Sex mit Männern haben, Menschen mit Migrationshintergrund und Drogengebrauchende. Obwohl mit der PrEP ein wirksames Präventionsinstrument existiert, ist der Zugang vielerorts beschränkt oder gar nicht vorhanden.

Noch gravierender ist die Situation bei Hepatitis B und C. Während Hepatitis C heilbar ist und für Hepatitis B effektive Impfstoffe zur Verfügung stehen, werden viele Infektionen nicht erkannt oder zu spät behandelt. Vor allem in osteuropäischen Staaten fehlen flächendeckende Screenings und niedrigschwellige Behandlungsstrukturen. Die Durchimpfungsraten bei Risikogruppen sind oft unzureichend, Präventionsprogramme unterfinanziert.

Bei Tuberkulose zeigt sich ein geteiltes Bild: In einigen Mitgliedstaaten ist die Inzidenz niedrig, in anderen – insbesondere mit hohem Anteil resistenter Erreger – bleibt sie besorgniserregend. Die COVID-19-Pandemie hat die Lage zusätzlich verschärft, da Gesundheitsressourcen umverteilt und Präventionsmaßnahmen ausgesetzt wurden.

Der Bericht kritisiert die fehlende Verbindlichkeit der EU-weiten Maßnahmen. Die Umsetzung bleibt weitgehend den Mitgliedstaaten überlassen – mit erheblichen Unterschieden in Finanzierung, Zugang und politischer Priorisierung. Ohne koordinierte Strategien und verlässliche Datenlage sei das gemeinsame Ziel, diese Infektionskrankheiten bis 2030 zu eliminieren, nicht erreichbar. Die EU-Gesundheitsbehörde fordert deshalb mehr politischen Willen, zielgruppenspezifische Angebote, nachhaltige Strukturen und systematische Erfolgskontrollen.

Der Rückstand der EU im Kampf gegen HIV, Hepatitis und Tuberkulose ist kein bloßes Versäumnis operativer Umsetzung – er ist Ausdruck einer strukturellen Schwäche in der europäischen Gesundheitspolitik. Trotz klar definierter Ziele der Vereinten Nationen fehlt es an kohärenter Führung, verlässlicher Finanzierung und politischer Verbindlichkeit auf gesamteuropäischer Ebene. Die Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten agieren weiterhin isoliert, nationale Unterschiede in Präventionsstrategien, Zugang zu Tests und Medikamenten sowie gesellschaftlicher Umgang mit vulnerablen Gruppen verfestigen Ungleichheiten, die sich direkt in Krankheitslast und Sterblichkeit niederschlagen.

Die Verantwortung liegt nicht nur bei den Regierungen einzelner Mitgliedstaaten, sondern auch bei den europäischen Institutionen, die es bislang versäumt haben, diese drängenden Gesundheitsprobleme mit der notwendigen Dringlichkeit und Koordination anzugehen. Eine bloße Rahmensetzung reicht nicht aus, wenn die Umsetzung systematisch scheitert. Stattdessen braucht es rechtsverbindliche Standards, gezielte Mittelzuweisungen und eine regelmäßige Überprüfung der nationalen Fortschritte – nicht als moralischer Appell, sondern als politisches Instrument.

Auch der Umgang mit besonders betroffenen Gruppen offenbart ein ungelöstes Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher Gesundheit und gesellschaftlicher Inklusion. Dort, wo Menschen stigmatisiert oder ausgegrenzt werden, versagen Präventions- und Versorgungssysteme besonders schnell. Ein wirksamer Gesundheitsschutz setzt voraus, dass marginalisierte Gruppen nicht nur in politischen Programmen auftauchen, sondern auch realen Zugang zu Versorgung, Aufklärung und sozialer Unterstützung erhalten.

Die Pandemie hat gezeigt, wie fragil viele öffentliche Gesundheitssysteme sind – und wie schnell jahrzehntelange Fortschritte zurückgeworfen werden können. Doch anstatt daraus Lehren zu ziehen, bleibt der politische Fokus oft auf kurzfristigen Krisen und populären Gesundheitszielen wie Digitalisierung oder Individualprävention gerichtet. Die Bekämpfung chronischer Infektionskrankheiten hingegen verkommt zum Randthema – mit fatalen Folgen.

Wenn die EU ihre globalen Verpflichtungen ernst nimmt, darf sie den Kampf gegen HIV, Hepatitis und Tuberkulose nicht länger den einzelnen Staaten überlassen. Die Zeit für halbherzige Strategien ist vorbei. Was es braucht, ist ein gemeinsames europäisches Gesundheitsversprechen – getragen von politischem Mut, finanzieller Verantwortung und gesellschaftlicher Solidarität.

 

Wissenschaft unter Druck: Warum Tierversuche trotz Alternativen weiter zum Alltag gehören

Trotz intensiver Forschung an tierfreien Methoden werden in Deutschland jährlich über zwei Millionen Tiere für wissenschaftliche Zwecke eingesetzt. Mäuse, Fische, Kaninchen und andere Tierarten dienen vor allem der Grundlagenforschung, der Entwicklung neuer Arzneimittel sowie der Qualitäts- und Sicherheitsprüfung. Die Kritik an dieser Praxis wächst – nicht nur aus Tierschutzkreisen, sondern zunehmend auch aus Teilen der Wissenschaft selbst.

Die Argumente für den Einsatz von Versuchstieren basieren auf der Komplexität biologischer Systeme. Viele physiologische Prozesse, etwa das Zusammenspiel von Organen, Immunreaktionen oder neurologische Funktionen, lassen sich bisher weder vollständig durch Zellkulturen noch durch Computersimulationen abbilden. Tiermodelle liefern hier Daten, die in vitro nicht gewonnen werden können. Besonders häufig kommen Mäuse zum Einsatz – aus pragmatischen Gründen: geringe Haltungskosten, schnelle Vermehrung, etablierte genetische Werkzeuge und jahrzehntelange Forschungstradition. Auch Affen werden verwendet, vor allem in der präklinischen Arzneimittelentwicklung.

Gleichzeitig gewinnt die Forschung an tierversuchsfreien Methoden an Bedeutung. Organchips, 3D-Zellkulturen, Mini-Organe und stammzellbasierte Verfahren werden weiterentwickelt, stoßen jedoch vielfach an funktionale und strukturelle Grenzen. Neue Methoden sind in Einzelfällen bereits zugelassen, wie etwa der Ersatz des Kaninchen-Pyrogentests durch Zelltests. Dennoch bleibt die Umsetzung fragmentarisch. Eine koordinierte, politisch getragene Ausstiegsstrategie fehlt bislang. Zwar hat die Europäische Union das Ziel formuliert, Tierversuche langfristig zu ersetzen, doch konkrete Zielvorgaben und verbindliche Zeitpläne wurden bislang nicht beschlossen.

Vertreter der tierversuchskritischen Forschung bemängeln strukturelle Hemmnisse: Nachwuchswissenschaftler würden kaum in alternativen Methoden ausgebildet, Fördergelder für tierversuchsfreie Innovationen seien begrenzt und der Wechsel etablierter Versuchsanordnungen mit hohen Hürden verbunden. Die Verantwortung liegt dabei nicht allein bei Forschenden, sondern auch bei regulatorischen Instanzen, der Industrie und der Politik. Die Ankündigung der US-Arzneimittelbehörde FDA, künftig in bestimmten Zulassungsprozessen auf Tierversuche verzichten zu wollen, setzt die europäischen Behörden zusätzlich unter Zugzwang.

Bereiche wie die Kosmetikentwicklung oder die Waffenforschung sind bereits vom Einsatz von Versuchstieren ausgenommen. In der Medizin bleibt deren Anwendung hingegen erlaubt, sofern keine validierten Alternativen bestehen. Nach wie vor werden die meisten Versuchstiere nach Studienende getötet. Überschusstiere – etwa genetisch nicht geeignete Mäuse – werden häufig gar nicht erst eingesetzt, sondern direkt getötet. Laut aktuellen Zahlen betraf dies im Jahr 2023 rund 1,38 Millionen Tiere.

Die ethische Debatte über Tierversuche ist längst kein Randthema mehr. Sie berührt grundlegende Fragen über die Vereinbarkeit wissenschaftlichen Fortschritts mit dem Schutz empfindungsfähiger Lebewesen. Während die Forschung auf Modelle angewiesen bleibt, steht die Gesellschaft zunehmend vor der Frage, welchen Preis sie für medizinischen Fortschritt zu zahlen bereit ist.

Die fortdauernde Praxis von Tierversuchen ist ein Spiegelbild einer wissenschaftlichen Kultur, die sich zwischen ethischer Verantwortung und funktionalem Pragmatismus aufreibt. Trotz technologischer Alternativen, politischer Willenserklärungen und gesellschaftlichem Unbehagen bleibt der Systemwandel aus. Was sich wie eine technische Frage der Forschungsmethodik darstellt, ist in Wahrheit eine politische und ethische Bewährungsprobe für den Forschungsstandort Europa.

Die Tatsache, dass jährlich Millionen Tiere – darunter genetisch manipulierte Mäuse, Primaten und empfindungsfähige Säugetiere – in Laboren getötet werden, ist mit einem humanistischen Selbstverständnis, das Tierwohl als gesellschaftliches Gut anerkennt, kaum in Einklang zu bringen. Die Wissenschaftsgemeinschaft selbst verweist regelmäßig auf das sogenannte 3R-Prinzip – Replace, Reduce, Refine – doch in der Realität fehlt es an systematischer Umsetzung, struktureller Förderung und politischer Verbindlichkeit.

Verantwortungsträger in Ministerien, Forschungsinstitutionen und Fördergremien argumentieren mit wissenschaftlicher Notwendigkeit, doch übersehen dabei eine zentrale Entwicklung: Der technologische Fortschritt im Bereich der tierversuchsfreien Verfahren ist längst nicht mehr visionär, sondern konkret. Die Forschung an Mini-Organen, Organchips und menschlichen Zellmodellen zeigt, dass viele Fragestellungen bereits heute tierfrei bearbeitet werden können – sofern Wille und Mittel vorhanden sind.

Doch genau hier liegt das strukturelle Problem: Fördergelder konzentrieren sich weiterhin auf etablierte Tiermodelle, die regulatorischen Rahmenbedingungen sind auf diese Verfahren ausgerichtet, und junge Forschende werden kaum mit alternativen Methoden vertraut gemacht. Der Fortschritt wird so institutionell gebremst, nicht wissenschaftlich verhindert. Dass die FDA in den USA inzwischen auf Tierversuche in Teilen der Arzneimittelzulassung verzichtet, unterstreicht die Trägheit europäischer Gremien, denen ein klarer Fahrplan fehlt.

Zudem verschleiert die Rede von ethisch einwandfreien Haltungsbedingungen im Labor die eigentliche Grundsatzfrage: Ist es in einer Gesellschaft, die Tierleid in der Lebensmittelproduktion zunehmend kritisch betrachtet, noch vertretbar, Millionen Versuchstiere für wissenschaftliche Zwecke einzusetzen – insbesondere dann, wenn Alternativen real existieren, aber strukturell benachteiligt werden? Die Antwort darauf darf nicht nur in den Händen der Forschung liegen, sondern ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Ein Verbot ohne Alternativen wäre ebenso unverantwortlich wie ein „Weiter so“ unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Alternativlosigkeit. Es braucht eine politisch verankerte Transformationsstrategie mit Investitionsgarantien, Ausbildungsoffensiven und einem Paradigmenwechsel in der Forschungskultur. Die Frage ist längst nicht mehr, ob der Ausstieg aus Tierversuchen möglich ist – sondern wie lange man sich den Stillstand noch leisten will.

 

Alkohol und Tabak fordern weiterhin die meisten Todesopfer – Jahrbuch Sucht 2025 warnt vor politischer Untätigkeit

In Deutschland sterben jährlich zehntausende Menschen an den Folgen von Alkohol- und Tabakkonsum. Wie das aktuelle Jahrbuch Sucht 2025 zeigt, sind legale Drogen weiterhin das größte Suchtproblem der Bevölkerung – mit weitreichenden Folgen für Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft. Rund 99.000 Todesfälle pro Jahr werden dem Rauchen zugeschrieben, etwa 47.500 dem Alkohol. Trotz dieser bekannten Zahlen bleibt die politische Reaktion verhalten.

Mehr als ein Fünftel der Bevölkerung konsumiert Alkohol in riskantem Umfang. Bei etwa neun Prozent der 18- bis 64-Jährigen liegt bereits ein missbräuchlicher oder abhängiger Konsum vor. Die Altersgruppe ab 65 Jahren wurde in diesen Erhebungen noch nicht erfasst, ebenso wenig Kinder und Jugendliche. Gesundheitsexperten warnen vor den toxischen Eigenschaften von Alkohol und den damit verbundenen Erkrankungen wie Leberzirrhose, Krebs, Herz-Kreislauf-Problemen und psychischen Belastungen. Auch alkoholbedingte Verkehrsunfälle und Gewaltdelikte bleiben ein gravierendes Problem.

Ein zentrales Versäumnis liegt in der Preisgestaltung: Während Lebensmittel spürbar teurer geworden sind, stagnieren die Preise für Alkohol. Deutschland hat im europäischen Vergleich mit die niedrigsten Verbrauchsteuern auf alkoholische Getränke. Wein ist von dieser Steuer vollständig ausgenommen. Fachleute weisen darauf hin, dass selbst eine moderate Preissteigerung von fünf Prozent den Alkoholkonsum messbar senken und jährlich hunderte Todesfälle verhindern könnte. Gleichzeitig würden dem Staat zusätzliche Einnahmen in Milliardenhöhe zufließen.

Auch der Tabakkonsum bleibt hoch. Mehr als 30 Prozent der Erwachsenen rauchen. Die Folgekosten des Rauchens summieren sich laut aktueller Schätzungen auf rund 97 Milliarden Euro jährlich. Zwar sinkt der Konsum bei Jugendlichen, doch gewinnen alternative Produkte wie E-Zigaretten und Tabakerhitzer an Bedeutung. Besondere Sorge bereitet die zunehmende Normalisierung von Nikotinprodukten in digitalen und sozialen Kontexten, insbesondere bei jungen Menschen.

Illegale Drogen spielen in der Suchtstatistik eine vergleichsweise geringe Rolle. Der Konsum konzentriert sich auf Substanzen wie Amphetamine, Ecstasy und Kokain, die vor allem in Freizeitzusammenhängen eingenommen werden. Cannabis wird in der Erhebung nicht mehr berücksichtigt. Alarmierend sind jedoch neue Entwicklungen in der klassischen Drogenszene: In vielen Städten verbreiten sich Crack und synthetische Opioide wie Fentanyl, die mit einem extrem hohen Abhängigkeitspotenzial und erheblichen gesundheitlichen Risiken einhergehen.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen fordert eine Neuausrichtung der Suchtpolitik. Neben Prävention und Ausbau der Suchthilfe sei eine konsequente Besteuerung von Alkohol und Tabak notwendig. Zudem müsse die politische Kommunikation über Suchtrisiken gestärkt und Werbung für Suchtmittel strikter reguliert werden. Der derzeitige Umgang mit legalen Drogen werde den gesellschaftlichen Schäden nicht gerecht, warnen die Autoren des Jahrbuchs.

Alkohol und Tabak sind in Deutschland keine Randerscheinungen, sondern zentrale gesellschaftliche Risikofaktoren – mit absehbaren und vermeidbaren Folgen. Dass jährlich mehr als 140.000 Menschen an diesen legalen Substanzen sterben, ist keine medizinische Tragödie im engeren Sinne, sondern Ausdruck eines politischen Versagens. Die Zahlen sind bekannt, die gesundheitlichen Schäden umfassend dokumentiert, die ökonomischen Lasten enorm. Doch die politischen Reaktionen bleiben fragmentarisch, zögerlich oder vollständig aus.

Diese Ignoranz ist strukturell verankert. Alkohol ist tief verwoben mit gesellschaftlichen Ritualen, wirtschaftlichen Interessen und politischer Rücksichtnahme. Tabak wird trotz aller Erkenntnisse weiterhin geduldet, teils romantisiert, selten reguliert. Die fehlende Verbrauchsteuer auf Wein, die stabile Preisentwicklung bei hochprozentigem Alkohol und die faktische Werbefreiheit für Tabakprodukte zeigen, wie wenig der Staat bereit ist, wirksame Hebel zu nutzen. Dabei belegen internationale Studien klar: Wo Steuern steigen und Werbung sinkt, nimmt der Konsum ab – und mit ihm die Zahl der Todesfälle.

Diese Passivität hat System. Sie schützt Industrien, nicht Menschen. Die Alkohol- und Tabaklobby hat in Deutschland keine echten Gegenspieler. Präventionsinitiativen werden unterfinanziert, Suchthilfeeinrichtungen arbeiten am Limit, Aufklärungskampagnen verhallen in medialen Nischen. Dass ausgerechnet in einer alternden Gesellschaft mit steigendem Pflege- und Gesundheitsbedarf die Vermeidung von Suchtfolgen nicht zu den politischen Prioritäten zählt, ist rational kaum erklärbar – außer durch politisches Kalkül oder ideologischen Stillstand.

Die Verantwortung liegt jedoch nicht allein bei der Politik. Auch Medien, Bildungseinrichtungen und Gesundheitsakteure tragen zur Normalisierung des Konsums bei. Alkohol bleibt in der Werbung attraktiv, auf Veranstaltungen präsent, im Alltag trivialisiert. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Folgen bleibt oberflächlich. Tabakprodukte finden neue Absatzmärkte unter Jugendlichen, während die Diskussion über E-Zigaretten zwischen Bagatellisierung und Überregulierung pendelt.

Die dringend notwendige strukturelle Debatte bleibt aus: Wie soll ein Gesundheitssystem mit der Last millionenfach vermeidbarer Erkrankungen umgehen? Welche Verantwortung trägt der Staat, wenn er über Steuern, Regulierung und Aufklärung wirksam handeln könnte, es aber nicht tut? Und wie lange kann sich eine Gesellschaft den Widerspruch leisten, legale Suchtmittel zu subventionieren und gleichzeitig die Folgen zu beklagen?

Eine zukunftsgerichtete Suchtpolitik muss evidenzbasiert, präventionsorientiert und sozial gerecht sein. Sie braucht den Mut zur Preisregulierung, zur Werbeverbotspolitik und zur entschlossenen Förderung von Entwöhnung und Hilfe. Wer weiterhin wegschaut, legitimiert nicht nur Leid und Krankheit, sondern kalkuliert mit dem Tod.

Von Engin Günder, Fachjournalist

 

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