Sehr geehrte Apothekerin, sehr geehrter Apotheker,
hier ist der vollständige Text für Sie:
Essen - Als "planvoll
gegen den Mittelstand gerichtet", im Übrigen aber in allen Bereichen
planlos - so beurteilt die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für
Deutschland im Leitartikel der April-Ausgabe die erschreckend vielen
Gesundheitsreformen der letzten Jahre. Zahlreiche, für den Bürger
größtenteils völlig unverständliche Gesetze haben das Gesundheitswesen
mit nahezu bemerkenswerter Kontinuität
heruntergewirtschaftet. Und auch jetzt ist keine Besserung in Sicht -
im Gegenteil: Marode Krankenhäuser, akuter Ärztemangel, überarbeitetes
Pflegepersonal, unsichere Arzneimittelwege außerhalb der "Apotheke um
die Ecke" und drastische Leistungseinschränkungen der Gesetzlichen
Krankenversicherung sind nur einige wenige Beispiele für die dramatischen Folgen, die letzten Endes jeden Patienten treffen.
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Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland erscheint
monatlich mit einer Auflage von einer Million Exemplaren und ist
kostenlos in Apotheken erhältlich.
DIE LEBENSLÜGEN DER GESUNDHEITSPOLITIK
Heinz Rühmann sagte es als unvergessener "Schuster Voigt" im "Hauptmann
von Köpenick": "und dann stehste vor Jott dem Vater ... und der fragt
dir ins Jesichte: Schuster Willem Voigt, wat haste jemacht mit dein'
Leben..., und dann muß ick sagen: Fußmatte...".
"Wat haste jemacht mit dein' politischet Leben?" Fragen sich das die
Politiker in Berlin, wenn sie am Ende eines Jahres, einer
Legislaturperiode, einer politischen Laufbahn angekommen sind? Und
wenn sie es tun, quälen sie sich mit Selbstzweifeln oder verteidigen sie ihre Lebenslügen?
Ulla Schmidt ist seit Januar 2001 Bundesministerin für Gesundheit. Von
Oktober 2002 bis Oktober 2005 war sie zudem für "Soziale Sicherung"
zuständig. Sie war fleißig und durchsetzungsstark. Zahllose
"Gesundheitsreformen" hat sie auf den Weg gebracht.
"Reform", so das beliebte Online-Lexikon Wikipedia, "bezeichnet in der
Politik eine größere, planvolle und gewaltlose Umgestaltung bestehender
Verhältnisse und Systeme."
"Gewaltlos" waren die "Umgestaltungen" im Gesundheitswesen sicher -
hunderten Krankenhäusern, tausenden Unternehmen der Gesundheitsbranche,
zehntausenden Freiberuflern wie Ärzten oder
Apothekern und nicht zuletzt Millionen Patienten blieb oftmals nur die Faust in der Tasche. Oder ohnmächtige Wut.
"Größer" waren die "Umgestaltungen" auch; so groß, dass mittlerweile
sogar Krankenkassen pleitegehen können. So zerstört man nachhaltig das
Vertrauen der Menschen in ein sicheres und geordnetes Gesundheitssystem.
Aber "planvoll"?
Bis zum Jahre 2004 war die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln
ein - auch für viele andere Länder - vorbildliches
Hochsicherheitssystem. Doch dann führte die Ministerin gegen den Rat
zahlreicher Experten den Versandhandel von Medikamenten ein - zugunsten
von "Menschen, deren Mobilität aufgrund von Alter und Krankheit
eingeschränkt ist oder die größere Entfernungen zur Apotheke
zurücklegen müssen ... Vor allem aber chronisch Kranke, die regelmäßig
bestimmte Arzneien benötigen, können von günstigeren Preisen
profitieren", berichtete "REGIERUNGonline" im "Magazin für Soziales,
Familie und Bildung" Nr.1/2008 - so, als hätte es nie den kostenlosen
Zustellservice der Apotheken gegeben, von persönlicher Beratung,
Nachtdienst und der Zubereitung von individuellen Rezepturen ganz zu
schweigen. Immerhin wollen einige einsichtige Politiker den
Versandhandel mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln wieder verbieten. Im
Sinne des Verbrauchers kann man nur hoffen, dass sie sich durchsetzen
werden.
Planvoll?
Vor Einführung des "Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der GKV"
(GKV-WSG) im Jahre 2007 entschieden die Ärzte - durchaus nach
Wirtschaftlichkeitskriterien - per Rezept, welches Arzneimittel für
den Kranken das richtige war. Nach Prüfung durch den Apotheker erhielt
der Patient "sein" Arzneimittel, an das er gewöhnt war und das er
vertrug. Die Therapietreue - auch "Compliance" genannt - war
dementsprechend hoch. Doch im GKV-WSG erlaubten die
Gesundheitspolitiker den Krankenkassen, wie ein Wirtschaftsunternehmen
Ausschreibungen für Arzneimittel durchzuführen. Die Gewinner liefern -
im Extremfall - das gleiche Arzneimittel für alle Patienten einer
Krankenkasse in ganz Deutschland. Millionen kranker Menschen müssen
sich so an neue Packungen, neue Tabletten, neue Wirkungsweisen
gewöhnen. Das ist besonders für ältere Menschen ein Problem. Sie
verweigern dementsprechend oft die Einnahme ihrer Tabletten. Darauf
weisen die Apotheker immer wieder hin. Doch das Interesse der
Gesundheitspolitik ist gleich null.
Ein lachhafter Rückschritt in die Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts
ist schließlich die Aufteilung einer Ausschreibung nach Regionen, die
von unterschiedlichen Arzneimittelherstellern gewonnen werden. Da
passiert es denn, dass man am Wohnort nicht das gleiche Arzneimittel
wie am etwas entfernteren Arbeitsplatz bekommen darf, weil man die
"Grenze" überschritten hat. Es ist der Apotheker, der dem
aufgebrachten Patienten das Unerklärbare erklären muss.
Planvoll?
Viele ältere Menschen leiden an Inkontinenz. Sie haben es nicht gerne,
wenn man darüber spricht. Der Diskretion ihres Apothekers waren sie
sicher. Sie erhielten Inkontinenzvorlagen in erstklassiger Qualität,
die saugfähig waren und fest abschlossen. Waren sie bettlägerig, blieb
das Bett trocken. Dieses funktionierende System wurde abgelöst durch
die Zulassung von Ausschreibungen auf Hilfsmittel. Diese gewann in der
Regel der billigste Hersteller. Das TV-Magazin "Frontal 21" hat in der
Sendung vom 18. November 2008 die traurigen Ergebnisse eindrucksvoll
dargeboten. Und diese Zeitung erreichen immer wieder die Hilferufe
alter Menschen, die sich nicht mehr wehren können. Auch eine Änderung
dieser Regelung - nun dürfen Rahmenverträge aufgesetzt werden, denen
auch Apotheken und Sanitätshäuser beitreten können - hat bisher nicht
die dringend notwenige Verbesserung der Situation für die Betroffenen
ermöglicht.
Planvoll?
Gegen Ende von Ulla Schmidts zweiter Amtsperiode liegen die
Krankenhäuser auf der Intensivstation. Seit Jahren hat die
Gesundheitspolitik in Bund und Ländern sie chronisch unterfinanziert
und personell ausbluten lassen. Sie schieben einen lähmenden
Investitionsstau von bis zu 50 Milliarden Euro vor sich her und suchen
händeringend nach tausenden Medizinern. Sie haben Wartelisten einführen
und Stationen schließen müssen - so das "Deutsche Krankenhausinstitut"
im "Krankenhausbarometer 2008" - und behelfen sich mit der Halbierung
des Arzt- und Pflegepersonals in den Spät- und Nachtschichten. Rudolf
Henke, Vorsitzender der Ärztegewerkschaft "Marburger Bund", warnt vor
"Akkordpflege und Fließbandmedizin", und tausende Klinikmitarbeiter
gehen auf die Straße. Oder sie wandern ab ins Ausland. Rund 100
deutsche Krankenschwestern arbeiten alleine am Karolinska-Krankenhaus
in Stockholm. Dort sind sie laut einem Bericht des ZDF hochwillkommen.
In Deutschland wird das Pflegepersonal unterbezahlt und "verheizt". Die
3,5 Milliarden Euro, die die Politik in diesem Jahr großzügig
"spendierte", sind da nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Planvoll?
"Mediziner auf der Flucht" titelte das Magazin "Focus" vor kurzem. Wie
wahr. Mediziner fliehen ins Ausland, in die Industrie, in
Krankenkassen, in Verbände. Auf Kosten der Allgemeinheit ausgebildet,
können sie dieser Gesellschaft nicht dienen, weil die Politik ihnen
seit Jahren einen zum Betreiben einer Hausarztpraxis angemessenen Lohn
verweigert. Protestieren die Ärzte, droht ihnen die Ministerin mit dem
Entzug der Zulassung. Doch die Katastrophe kommt erst noch: "In vielen
ländlichen Gebieten finden viele keinen Nachfolger für ihre Praxen" -
warnt der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein,
Leonhard Hansen. Die Hausärzte selbst versuchen, der drohenden
Unterversorgung mit Weiterbildungsprojekten wie "Versorgungsassistentin
in der Hausarztpraxis - VERAH" für ihre Praxismitarbeiterinnen zu
begegnen. Die sollen in Zukunft für "Hausbesuche, bei denen keine
ärztliche Kompetenz notwendig ist" zuständig sein. Die deutschen Ärzte
gehen nach Schweden.
Planvoll?
Ja doch, in einem Punkt waren alle Reformen durchaus planvoll: Sie
waren konsequent gegen den Mittelstand gerichtet. Sie haben die
Grundlagen der Existenz von vielen Arztpraxen und Apotheken,
Sanitätshäusern und Massagepraxen, mittelständischen Herstellerfirmen
und kommunalen Krankenhäusern schwer erschüttert, wenn nicht gar
dauerhaft vernichtet. Und da, wo es ging, haben sie den Wettbewerb
ausgeschaltet und Strukturen aufgebaut, die "postsozialistisch" zu
nennen man sich nicht zu scheuen braucht - von den MVZs, den
Medizinischen Versorgungszentren, über den Einheitsbeitrag aller
Krankenkassen bis hin zum Moloch "Gesundheitsfonds".
"Wat haste jemacht mit dein politischet Leben?" Ob die
Gesundheitspolitiker in Berlin mit ihrem politischen Leben zufrieden
sind?
NAMEN WIE SCHALL UND RAUCH
Ein Kommentar der Redaktion
Und überhaupt - hätte man in den letzten Jahren auf den Inhalt der
Gesetze soviel Gehirnschmalz verwendet wie auf ihre Namen, dem
deutschen Gesundheitswesen ginge es wahrlich besser.
"Arzneimittelausgabenbegrenzungsgesetz" (AABG),
"Beitragssatzsicherungsgesetz" (BSSG), "GKV-Modernisierungsgesetz"
(GMG), "Arzneimittelversorgungswirtschaftlichkeitsgesetz" (AVWG),
"GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz" (GKV-WSG); Namen wie Schall und Rauch.
Die Arzneimittelausgaben wurden nicht begrenzt - zum Glück für die
Patienten. Der Beitragssatz wurde nicht gesichert - im Gegenteil, seit
der Einführung des unsäglichen Gesundheitsfonds ist er höher denn
je. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) wurde nicht modernisiert
- eine sozialistische Einheitsversicherung wie den Gesundheitsfonds
wird man kaum "modern" nennen können. Wenn die Arzneimittelversorgung
wirtschaftlicher hätte werden sollen, hätte man mit dem Arzneimittel
sparen müssen, nicht am Arzneimittel. Und schließlich die Krönung: das
"GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz". Dieses Gesetz hat den Wettbewerb in
der GKV endgültig ausgeschaltet.
Für wie dumm hält man die Bevölkerung eigentlich? Aber die Frage erübrigt sich wohl.
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