Sehr geehrte Apothekerin, sehr geehrter Apotheker,
hier ist der vollständige Text für Sie:
Essen - Zum wiederholten Male legt die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland den Finger in eine offene Wunde des Gesundheitswesens: die mangelhafte Arzneimittelsicherheit im Versandhandel mit hochwirksamen Arzneimitteln. Der Leitartikel der Mai-Ausgabe fragt provozierend nach den Ursachen der Fehlentscheidung des Bundesrates, der bei der Abstimmung über das neue Arzneimittelgesetz (AMG) gegen den Rat seiner eigenen Experten weder ein Verbot des Versandhandels von rezeptpflichtigen Medikamenten noch eine Reglementierung von sogenannten „Pick-up-Stellen" in Drogerien forderte. Diese fach- und lebensfremden Entscheidungen ordnet die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung dem Syndrom der „Bescheuertheit" zu, das weite Bereiche der Gesundheitspolitik der letzten Jahre kennzeichnet. Der Begriff geht zurück auf einen Essay des Soziologen Prof. Dr. Rainer Paris im „Merkur - Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken".
Die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland erscheint
monatlich mit einer Auflage von einer Million Exemplaren und ist
kostenlos in Apotheken erhältlich.
Expertenrat zur Arzneimittelsicherheit ist nicht gefragt:
„BESCHEUERTHEIT" (Teil 2)
Den legendären Essay „Bescheuertheit", nachzulesen im „Merkur -
Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken" (Nr. 704 vom Januar
2008), nahm die Neue Allgemeine Gesundheitszeitung schon einmal, in der
Mai-Ausgabe 2008, zum Anlass, die Gedanken des Autors Prof. Dr. Rainer
Paris, Soziologe an der FH Magdeburg, auf die unglaublichen
Fehlentscheidungen der deutschen Gesundheitspolitik zu übertragen:
„Bescheuertheit" - so definierte Paris damals - „ist ein Syndrom. Es
kennzeichnet einen bestimmten Typus von Menschen sowie Zustände, die
durch solche Menschen bestimmt werden. Bescheuertheit hat
durchdringende Kraft. Wo sie an der Macht ist oder die
Ordnungsdeutungen großer Bevölkerungsgruppen dominiert, kann sie ganze
Gesellschaften verwüsten."
Wie wahr! Nichts hat sich seit dem Erscheinen dieses Essays, der
Politik und Gesellschaft zum Nachdenken hätte bringen sollen, verändert
- im Gegenteil. Ob man die dilettantische „Abwrackprämie" nimmt oder
das „Konjunkturpaket", dessen Milliarden überallhin fließen, nur nicht
in die wichtigsten Gebiete unserer Gesellschaft - in die Bildung und
das Gesundheitswesen -, „Bescheuertheit" regiert nach wie vor die
Politik von Bund und Ländern. Während Schulen und Krankenhäuser,
Universitäten und Kasernen unter einem riesigen Investitionsstau
leiden, während inkontinente Patienten um eine bessere
Versorgungsqualität betteln und ganze Landstriche ohne ärztliche
Versorgung dastehen, verteilt diese Regierung fünf Milliarden Euro an
Autokäufer und bürdet den kommenden Generationen damit Zinsbelastungen
in Milliardenhöhe auf: „Bescheuertheit" aus Wahlkampfgründen?
Ganz oben auf dieser Liste politischer Gedankenlosigkeiten steht
derzeit auch die Untätigkeit der Regierung hinsichtlich einer Stärkung
der Arzneimittelsicherheit in Deutschland. Sie wäre zwingend notwendig.
Zahlreiche Fachleute setzen ihre Hoffnungen seit Monaten in die
Neufassung des „Arzneimittelgesetzes" (AMG). Die soll im August
verabschiedet werden. Doch die Enttäuschung wird groß sein.
Zum Hintergrund: Vor wenigen Jahren wurde der Versandhandel mit
Arzneimitteln in und nach Deutschland erlaubt, obwohl die sonst so
wirtschaftsliberale Europäische Union das bis dahin geltende Verbot aus
Gründen der Arzneimittelsicherheit auch weiterhin akzeptiert hätte. Die
Folgen sind durchaus als drastisch zu bezeichnen. Schon vor der
Freigabe gab es einen illegalen Versandhandel mit gefälschten
Arzneimitteln, doch jetzt floriert er geradezu. Dennoch empfehlen nicht
wenige Krankenkassen und - man mag es kaum glauben - sogar das
Bundesgesundheitsministerium den Einkauf von hochsensiblen
Arzneimitteln im Versandhandel als „bequeme Alternative": Der
Endverbraucher möge sich nur die Internetseiten aufmerksam ansehen und
das Impressum kontrollieren, um sich vor Fälschern zu schützen.
Behauptungen, die an Fahrlässigkeit kaum mehr zu überbieten sind, denn
bei einer raffiniert aufgebauten Internetseite ist es nicht möglich,
anhand des Impressums kriminelle Hintergründe auszumachen. Nicht einmal
Qualitätssiegel bieten einen Schutz, auch diese kann man fälschen.
Hinzu kommt, dass eine strafrechtliche Verfolgung über Ländergrenzen
hinweg nahezu unmöglich ist. Mit anderen Worten: Die Gesundheitspolitik
hat die Verantwortung für die Arzneimittelsicherheit auf den
Verbraucher übertragen - unverantwortlich oder „bescheuert"?
Vor den Gefahren warnten Fachleute wie Prof. Dr. Harald G. Schweim von
der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn oder Prof. Dr.
Theodor Dingermann von der Johann Wolfgang Goethe-Universität in
Frankfurt schon vor der umstrittenen Freigabe des Versandhandels. Sie
haben Recht behalten. „Wir werden unsere Katastrophen erleben"
formulierte Letzterer in einem Interview für die Neue Allgemeine
Gesundheitszeitung.
Der gesunde Menschenverstand ließ hoffen, dass die Politik den
Versandhandel mit Arzneimitteln angesichts der beunruhigenden
Entwicklungen wieder rückgängig machen würde. Die Möglichkeit dazu
hätte sie mit der Neufassung des „Arzneimittelgesetzes" (AMG).
Tatsächlich hat der Gesundheitsausschuss des Bundesrates nach
eingehender Prüfung der Sachlage mit deutlicher Mehrheit ein Verbot des
Versandhandels zumindest mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln empfohlen.
Doch der Bundesrat verwarf in seiner Abstimmung im April den Rat der
eigenen Gesundheitsexperten: Eine Ohrfeige für diejenigen, die sich -
offensichtlich im Gegensatz zu den Entscheidern - ernsthaft mit der
Problematik auseinandergesetzt hatten. Damit sind die
verantwortungsvollen Anträge für ein Verbot des Versandhandels mit
Arzneimitteln der Bundesländer Bayern und Sachsen im Bundesrat
endgültig gescheitert. Wieder einmal hat „Bescheuertheit" triumphiert,
wieder einmal aus politischen Gründen.
Gescheitert im Bundesrat ist auch ein Antrag des Landes
Schleswig-Holstein, wenigstens die sogenannten „Pick-up-Stellen" zu
reglementieren. „Pick-up-Stellen" sind eine Art Zwischenlager zwischen
Versandapotheke und Verbraucher. Zurzeit sind sie nur in einigen
wenigen Drogeriemärkten zu finden, doch bald könnten es tausende sein.
Der Patient hinterlässt seine Rezepte in der Drogerie und holt das
Arzneimittel einige Tage später dort ab. Wem dabei ein Vergleich mit
den in Drogerien ebenfalls verfügbaren Fotobestellungen einfällt, liegt
nicht falsch: Das Arzneimittel als „Ware der besonderen Art" wird
bagatellisiert und zum Konsumartikel entwertet. Denn im Gegensatz zu
den Apotheken verfügt eine Drogerie zumeist nicht über pharmazeutisch
genügend ausgebildetes Personal, das Auskunft geben kann und sich mit
der Handhabung und fachgerechten Lagerung verschiedener Arzneimittel
auskennt.
Apotheken müssen hingegen - zu Recht - strengste Auflagen einhalten,
die dem Verbraucherschutz dienen. So dürfen nur ApothekerInnen und
pharmazeutisch-technische AssistentInnen Arzneimittel an Patienten
abgeben. Darüber hinaus muss zu jeder Zeit eine Apothekerin oder ein
Apotheker anwesend sein. Die Einhaltung dieser und anderer Auflagen
wird von den zuständigen Behörden und den Apothekerkammern streng
kontrolliert. Die Drogerien hingegen sind völlig frei davon. Ein
Vorgang, der an die gefährliche Genehmigung des
Arzneimittel-Versandhandels erinnert: Die Verantwortung wird auf den
Patienten abgewälzt, der letztlich auch die möglichen Folgen tragen
muss.
Jetzt ist der Bundestag am Zug. Nachdem aber schon der Bundesrat den
Anträgen seiner eigenen Fachpolitiker auf ein Verbot des Versandhandels
mit Arzneimitteln die Zustimmung versagt hat, gibt man einer
Realisierung nur noch geringe Chancen: Zu unwahrscheinlich ist eine
Koalition von verantwortungsbewussten Politikern quer durch alle
Parteien.
Ob der Antrag der FDP, wenigstens die Pick-up-Stellen zu verbieten,
eine Mehrheit findet, ist ungewiss, aber immerhin möglich. Dringend
notwendig wäre ein solches Verbot - im Sinne der Arzneimittelsicherheit
und der Patienten.
WIE WICHTIG SIND DEN KASSEN DIE PATIENTEN?
Ein Kommentar der Redaktion
Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen ist es auch, „die Versicherten
allgemein über Gesundheitsgefährdungen zu informieren" - so steht es
jedenfalls in der Satzung regionaler AOKs. Die Position der meisten
Krankenkassen in der Diskussion um die Arzneimittelsicherheit und damit
den Verbraucherschutz ist in diesem Zusammenhang schlicht ein Skandal.
Der Spitzenverband der Krankenkassen lehnte bei einer Anhörung im
Rahmen der Verhandlungen um das neue Arzneimittelgesetz ein Verbot des
Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln ebenso ab wie eine
Verhinderung von „Pick-up-Stellen" - mit Erklärungen, die einem die
Haare zu Berge stehen lassen. So ginge von den Pick-up-Stellen in
Drogerien - Abholstellen für Medikamente, die Kunden beim Versandhandel
bestellen - keine Gefahr aus, da eine Arzneimittelausgabe durch
„speziell beauftragtes Personal" für ausreichend Sicherheit sorge. Was
konkret mit „speziell beauftragtem Personal" und mit „ausreichender
Sicherheit" gemeint ist, blieb unklar.
Die Gefahr, dass das Arzneimittel seinen Status als Produkt, dessen
Vertrieb aus Gründen des Verbraucherschutzes streng reglementiert sein
muss, verliert, wird seitens der Kassen offensichtlich ebenso
ausgeblendet wie die warnenden Hinweise der vielen Fachleute.
Verantwortungsvoll und im Sinne zumindest der AOK-Satzung korrekt wäre
es, die Versicherten über die möglichen Gefahren des Versandhandels mit
Arzneimitteln und „Pick-up-Stellen" zu informieren. Aber da macht man
lieber „in Politik".
NOWEDA eG
Neue Allgemeine Gesundheitszeitung für Deutschland
Heinrich-Strunk-Straße 77
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Email: redaktion@neue-allgemeine.de
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